Claude Lévi-Strauss ist tot:Keiner rechnet so genau wie der Wilde

Ein Wanderer auf Nebenpfaden, doch alle führten sie in die Mitte der Gesellschaft: Zum Tod des Ethnologen Claude Lévi-Strauss.

Fritz Göttler

Er war die große Figur des vorigen Jahrhunderts, die graue Eminenz, der Wissenschaftler, der als Ethnologe begann, aber von Anfang an alles in seinem universalen Blick hatte, die Menschen und ihre Gesellschaft, die Gegenwart und die Vergangenheit, die Politik und die Kultur, das Ordinäre und das Virtuose, das Rohe und das Gekochte.

Claude Lévi-Strauss ist tot: Claude Lévi-Strauss im Jahr 1967

Claude Lévi-Strauss im Jahr 1967

(Foto: Foto: AP)

Er hat dem Jahrhundert den Begriff gegeben, auf den es immer zurückgreifen konnte, wenn die Komplexität der Wirklichkeit es verschreckte, die Struktur, und damit jene Denktradition in Gang gebracht, die für ein paar Jahre die Intellektuellen in Europa inspirieren und begeistern sollte, den Strukturalismus.

Es waren die Moderne und anschließend die Postmoderne, die mit der Struktur auf den Begriff gebracht wurden, und ganz wunderlich und wunderbar war, wie wenig der Urheber, der Autor, der Schöpfer eigentlich tun musste, damit alles in Gang kam, diese intellektuellen Erfindungen und Revolutionen.

Gedankenspiel und Variation

Was er selber in den Jahrzehnten danach beisteuerte, war eher Gedankenspiel und Variation, in seinen zahlreichen Büchern, in seinen Vorlesungen am Collège de France. Er war von allen Mitgliedern der ehrwürdigen Académie Française womöglich das undurchschaubarste, das unscheinbarste, das am meisten auf Ironie bedachte. Sein Wirken im akademischen Bereich war jenen Tieren ähnlich, die er besonders schätzte, den Katzen.

Die Moderne machte sich im vorigen Jahrhundert mit einem Exkurs auf den Weg. Mitte der Dreißiger brach Claude Lévi-Strauss auf seine Expedition in den brasilianischen Dschungel auf, eine Fahrt, die durchaus auch politisch motiviert war, denn in Europa war das Klima von totalitären, judenfeindlichen Parolen und Aktionen bestimmt.

Was Lévi-Strauss in den folgenden Jahren beobachtete und erlebte, gestaltete er 1950 in dem Buch "Traurige Tropen". Eine Studie, an der Oberfläche, die die verwandtschaftliche und gesellschaftliche Organisation der Indios erforschte - immer wieder ging es um Heiratssysteme, um endo- und exogame Tauschregeln zwischen verschiedenen Stämmen und was sie fürs Gesellschaftsleben bedeuten - , aber sich ausbreitete zu einer existentiellen Vision des Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts - in dem das Lob der Errungenschaften und die Hoffnung auf Vernunft und Fortentwicklung immer stärker übertönt wurden von einem Gefühl von Trauer und Verlust, einem Gefühl, das beklemmend jahrzehnteweit in die Zukunft zu weisen schien.

Lévi-Strauss war ein Fan der Einfachheit, er ging gern an die Anfänge zurück. Der Bedeutungsverlust, den er dem modernen Denken verpasste, war eine notwendige Entschlackung. Struktur statt Form, das war der entscheidende Wandel, der fundamentale Paradigmenwechsel. Statt der Form, die immer mit Inhalt gefüllt werden musste und selbst neutral blieb, kam die Struktur, die die Materie selbst organisierte.

Und außer dieser Materie, unter diesen Oberflächen gab es keine weitere Bedeutung mehr, das galt für die Gesellschaft und die Psyche und natürlich auch für die Kunst. Ein schöner Band, den er gestaltete, widmete sich afrikanischen Masken, aber diese Masken waren nicht zum Verbergen gedacht, sondern selber wesentlich.

Liebe zum unverwechselbaren Leben

Es war die Liebe zum konkreten, unverwechselbaren Leben und die Faszination der Abstraktion, die in diesem Denken, in diesem Werk, im sogenannten Strukturalismus, plötzlich ganz natürlich zusammenkamen, auf eine unwiderstehliche, atemraubende Weise. Die Geistes- rückten eng zusammen mit den Gesellschaftswissenschaften, und zusammen näherten sie sich bereits stark den Naturwissenschaften. Werke der Kunst untersuchte er unter kulturgeschichtlichem, Kultobjekte unter künstlerischem Aspekt - ganz wunderbar zuletzt in der "Luchsgeschichte".

Und unter der Hand demonstrierte er immer wieder die Schönheit der einfachen Strukturen und die Eleganz der intellektuellen Bewegung, die sie hervorbringt. Und die immer einen Schritt weiter ging. Das ist eine überzeugende Darstellung der Welt der Vögel, hat er in einem Interview zu Hitchcocks "The Birds" gesagt, aber es fehlt natürlich das wesentliche Element - der Gestank, der ganze Vogeldreck.

In seinen Texten - von den "Traurigen Tropen" über die "Strukturale Anthropologie" zum vielbändigen Werk der "Mythologica" - sind die Dinge in Bewegung, die Objekte und die Körper, die Familien und die Gesellschaften, sie definieren sich immer in Bezug auf die anderen. Das Klassifizieren hat hier nie etwas von Besserwisserei, die elementaren Strukturen, von denen hier gehandelt wird, das sind Elemente, denen in der modernen Chemie vergleichbar.

Bibel der Moderne und Postmoderne

Man hat ihm vorgeworfen, dass er nicht lang genug bei den Indios in Brasilien geblieben sei, um ihre Kultur kennenzulernen, dass er ihre Sprache nicht erlernte. Aber die Expedition in die "Traurigen Tropen" waren eher die Ausnahme, Lévi-Strauss war kein großer, kein überzeugter Reisender. Er war kein Theoretiker, keiner, der den Überblick suchte und objektiv, von draußen, von oben, die Dinge beobachtete und zurechtrückte.

Wild ist das Denken

Er war mittendrin, weshalb sein Werk immer auch eine große, großartige Erzählung ist. Intuition war ihm wichtig. Die Mythen und die Träume lieferten ihm mindestens ebenso wichtiges Material wie die herkömmlichen Methoden der ethnologischen und soziologischen Feldforschung. Er gab der Aufklärung, die immer kühler und ernüchterter geworden war, ein wenig Zauber zurück, und wenn er Gesellschaften studierte - die primitiven wie die komplexen, modernen -, verloren sie nichts von der Magie, die sie zusammenhielt.

In die Mythologica mochte man sich - da geht es einem ganz so wie bei Freud und seinen Texten zur Traumdeutung - immer wieder vertiefen wie in einen Märchenschatz. Und mit welcher Lust verließ man mit ihm eine denkerische Hauptstraße, um sich seitenlang auf einem überwucherten Seitenpfad zu tummeln.

Wer die simplen Vorgaben von Claude-Lévi Strauss ernst nahm, musste Abschied nehmen von dem Prinzip des geistigen Fortschritts, wie er das 19.Jahrhundert in der Tradition von Kant und Hegel geprägt hatte. Gleichberechtigt neben dem elaborierten, geschulten, streng rationalen, professionellen Denken - das meistens auf eine der Welt eingeschriebene, im Denken zu erkennende Ordnung der Welt setzte - stand ein anderes Denken, und sein Buch "Das wilde Denken" könnte man als die Bibel der Moderne und der Postmoderne handeln. Ein Zitat von Balzac, aus dem "Antiquitätenkabinett", weist den Weg: "Niemand ist in seinen Berechnungen so genau wie die Wilden, die Bauern und die Provinzler; wenn sie vom Gedanken zur Wirklichkeit kommen, ist daher alles schon fertig."

Wild ist das Denken, weil es keinen vorschreibbaren Pfad geht, weil es spielerisch ist und experimentierfreudig. Ein Denken, das dem Basteln vergleichbar ist und daher etwas Handwerkliches hat. Die Strukturen sind hier nicht vorgegeben, sie entwickeln sich im Leben, in der Arbeit, im Vollzug. Sie sind wechselhaft und korrigierbar. Und es war nicht traurig, wenn etwas am Ende fehlte. Am Dienstag ist Claude Lévi-Strauss kurz vor seinem 101. Geburtstag in Paris gestorben.

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