Cirque du Soleil in Las Vegas:Artisten in der Zirkuskuppel, drahtlos

Wie eine kalt glitzernde Weltraumkolonie: Der Cirque du Soleil repräsentiert das globalisierte Theater von morgen - Atem raubend, ruhelos, nie gesehen. Bericht von einer Science-Fiction Show aus der roten Wüste von Las Vegas.

Christopher Schmdt

Karl Kraus träumte einst von einem "Marstheater"- einem Theater der Zukunft für höher entwickelte Lebewesen. Wer nach Las Vegas kommt, meint dieses Theater gefunden zu haben. Ist nicht die rote Wüste von Nevada der Mars auf Erden? Und Las Vegas, das aus der Ferne aussieht wie eine kalt glitzernde Weltraumkolonie, selbst ein einziges Marstheater? Von der unsichtbaren Kuppel seiner künstlichen Biosphäre überwölbt und scheinbar ohne jede Verbindung zu der lebensfeindlichen Wüste, die ihn umgibt, wuchert dieser Metabolismus empor aus einer hauchdünnen Humusschicht, die allein permanente Bewässerung am Leben erhält.

Cirque du Soleil in Las Vegas: Es sind Elitetruppen, in denen jeder ein Großmeister seiner Disziplin ist; unter ihnen finden sich olympische Goldmedaillengewinner. Sie werden auf der ganzen Welt gecastet. Der permanente Leistungsüberschuss sich ergänzender Spezialisten erzeugt  die Illusion, in eine Parallelwelt katapultiert worden zu sein.

Es sind Elitetruppen, in denen jeder ein Großmeister seiner Disziplin ist; unter ihnen finden sich olympische Goldmedaillengewinner. Sie werden auf der ganzen Welt gecastet. Der permanente Leistungsüberschuss sich ergänzender Spezialisten erzeugt die Illusion, in eine Parallelwelt katapultiert worden zu sein.

(Foto: Foto: http://www.cirquedusoleil.com)

Die Stadt muss sich unausgesetzt schälen und neu gebären, um nicht zu verdorren. Bis zu 200 neue Einwohner zählt sie jeden Tag. Damit ist Las Vegas die am schnellsten wachsende Stadt der Welt. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die bebaute Fläche verdreifacht. Bis 2015 könnte sich das Stadtgebiet laut Prognosen nochmals verdoppeln.

Jeden Tag eröffnet ein neues Restaurant. Und doch wirkt Las Vegas wie eine Zeltstadt, ein Wanderzirkus, der schon morgen wieder verschwunden sein könnte, ohne Spuren zu hinterlassen. 100 Shows gehen hier jeden Abend über die Bühne. Es sind nicht mehr spätgalante Magier, verwitterte Raubtierbändiger und singende Botox-Ruinen, die das Unterhaltungssegment repräsentieren. Seit 1987, als der kanadische Cirque du Soleil zum ersten Mal in Nevada Halt machte, hat er mit seiner Hybridform von Zirkus und Theater den Markt aufgerollt und Las Vegas von einer Abspielstation zur Werkbank werden lassen. Mittlerweile spielen fünf feste Shows jeden Abend eine Million Dollar ein. Der Cirque du Soleil ist zu einem Großkonzern der Kleinkunst expandiert.

Sobald sich der Faltbalg der Luftgastbrücke wie ein Rüssel an eines der Flugzeuge angesaugt hat, die im Zwei-Minuten-Takt Vergnügungssüchtige aus der ganzen Welt in die Stadt pumpen, wird man eingespeist in den labyrinthischen Organismus von Las Vegas. Magnetbahnen, Shuttle-Busse und Aufzüge schleusen einen immer tiefer ins Innere. Und die Überwältigungsdramaturgie beginnt ihren Säure-Angriff, um den Realitätssinn zu betäuben. Vegas ist eine Endlosschleife der Animation, 24 Stunden am Tag Dolby Surround. So gleicht die Stadt den Warmhalteplatten in den Grand Buffets der Casinos.

Außen- und Innenraum haben ihre Rollen getauscht, wie man das sonst nur von Theaterbauten kennt, auch wenn diese Umkehrung dem Klima geschuldet ist. Nach innen gestülpt, in die pneumatischen Hohlräume der Malls, finden sich die patinierten Fassaden europäischer Boulevards als gastronomisch und konsumistisch bespielte Kulissenstadt. Die Außenhäute der Gebäude dagegen sind Chitinpanzer, die das empfindliche Innenleben schützen. Trotz seiner Monumentalität erinnert das Stadtbild an ein explodiertes Kinderzimmer. Die Hotels sind übereinander gestapelte Staucontainer und die Fernseher stehen in Gestalt riesiger LCD-Bildschirme herum. Überall verstreut ist das Spielzeug von Zyklopen-Kindern: Piratenschiffe, Montgolfieren und feuerspeiende Vulkane. Wasserspiele mit haushohen Fontänen, Stromschnellen und mäandernde Bachläufe in Felsengärten dienen als Luftbefeuchter.

Die zu Clustern zusammenwachsenden Casinos sind häufig durch Tunnels und Passagen miteinander verbunden. Das Geflecht von Fußgängerbrücken und Spazierwegen, das den Las Vegas Boulevard umrankt, ist nur ein Promenadendeck. Man soll von den künstlichen Anhöhen herab das Wimmelbild genießen. Stocken darf die bewegte Menge einzig im Takt der aufschießenden Wasserfontänen vor dem Bellagio. Selbst Marmorstatuen und Wasserbecken sind hier performativ. Und überall schnappt das Chamäleon Las Vegas mit seiner klebrigen Peitschenzunge nach Beute.

Auch die Bühnen der Stadt sind Teil des universellen Shop-in-Shop-Systems. Sie selbst sorgen dafür, dass jede Show zu einer festen Marke wird, die sich mittels Merchandising möglichst fein in alle Lebensbereiche verästelt. Und manchmal ist das Theater nur ein mit hochpreisigem Nippes vollgestopfter Kramladen, wie die jüngste Las-Vegas-Produktion des Cirque du Soleil, das Beatles-Memorial "Love" im Mirage-Hotel, beweist.

Grundlage von "Love" ist ein Remix-Album, das exklusiv für die Show produziert wurde. Szenisch aufbereitet sind die Songs als psychedelische Zeitreise durch die "Beatles"-Ikonographie. Artisten verkörpern die Charaktere aus den Titeln: ein schnauzbärtiger Sergeant Pepper paradiert mit einer großen Pauke, fluoreszierende Tiefsee-Chimären tummeln sich im Garten des Oktopus", und am Bühnenhimmel schwebt eine strassbesetzte Lucy in the sky with diamonds.

Doch die vom Band eingespielte Musik und die Akrobatik entwerten sich gegenseitig. Liefern die "Beatles" nur den Soundtrack zu den Zirkusnummern, oder ist alle Artistik bloß Illustration der Lieder? Die Macher haben dies bemerkt und jedes Bild adipös überfrachtet. Was gibt es da nicht alles: Einen VW-Käfer, der von Geisterhand in seine Einzelteile zerstäubt wird wie eine Pusteblume, die Queen in einer vaginaförmigen Gondel, den surrealistischen Tand dalìnesk verformter Uhren, Teetrinker mit Regenschirmen und steifen Melonen, Kellerkinder in Schuluniform, Luftschutzhelfer vor roten Ziegelmauern und qualmenden Fabrikschloten, den Star Club natürlich, Pilzköpfe und Abbey-Road-Nostalgie. Und doch ist alles zusammen nur ein szenischer Flohmarkt, ein Opulenz-Overkill. Was für eine Enttäuschung!

Auf der nächsten Seite: Phantasiefolklore, eine Bühne für 150 Millionen Dollar und Galeerensklaven unter Deck.

Artisten in der Zirkuskuppel, drahtlos

Und was für ein Glück, am Abend danach dann "Kà" zu sehen, das Martial-Arts-Spektakel, das in seiner Überbietungsästhetik und seiner reinen Kinetik auf merkwürdige Weise das Wesen dieser Stadt widerspiegelt.

Cirque du Soleil in Las Vegas: Es sind Elitetruppen, in denen jeder ein Großmeister seiner Disziplin ist; unter ihnen finden sich olympische Goldmedaillengewinner. Sie werden auf der ganzen Welt gecastet. Der permanente Leistungsüberschuss sich ergänzender Spezialisten erzeugt die Illusion, in eine Parallelwelt katapultiert worden zu sein.

Es sind Elitetruppen, in denen jeder ein Großmeister seiner Disziplin ist; unter ihnen finden sich olympische Goldmedaillengewinner. Sie werden auf der ganzen Welt gecastet. Der permanente Leistungsüberschuss sich ergänzender Spezialisten erzeugt die Illusion, in eine Parallelwelt katapultiert worden zu sein.

(Foto: Foto: http://www.cirquedusoleil.com)

Es wird gesagt, Las Vegas sei die Stadt der Zukunft, der erste Stadtraum gewordene Nicht-Ort der Welt. Denn Vegas ist das, was entsteht, wenn der globalisierte Kapitalismus sich eine Stadt nach seinem Bilde baut. Eine Stadt ohne Gedächtnis, in der die Spuren der Vergangenheit mit Dynamit gelöscht werden. Eine Stadt, in der alle kulturellen, religiösen, ethnischen Prägungen verflüssigt sind, damit sie den Umlauf des Geldes nicht hemmen. Doch das Geld trägt nicht nur die Differenzen ab, es schwemmt sie auch wieder an. Zerkleinert und rund geschliffen vom Mahlstrom, kehren sie wieder: als themes. Mit großer Folgerichtigkeit hat sich in der Architektur von Las Vegas die Selbstthematisierung der Stadt durchgesetzt. Venedig, New York und Paris trennen hier nur Straßenkreuzungen, miniaturisiert kommen sie als malerisches Medley ihres Gassengewirrs zurück. Zwischen dem Disney-Märchenschloss Excalibur und der Pyramide des Luxor wird Las Vegas zum Über-Ort, der alle Orte umfasst, und da Geld hier der einzige Gott ist, übernimmt es, wo es sich eine Stadt baut, auch dessen Selbstdefinition: Ich bin, der ich bin.

Genau diese Tautologie hat der Cirque du Soleil in Bühnen-Shows übersetzt. Bilder und Musik einer alle Kulturen amalgamierenden Phantasiefolklore sind universell und ergeben eine sprachunabhängige Form von theatralem Cross-Cooking, so international wie ihre Ensembles. Schon deshalb passt der Cirque du Soleil perfekt nach Las Vegas, bietet er doch eine energetische Form von Unterhaltung, die Eintrittsgeld in Adrenalinausschüttungen konvertiert. Und dabei ständig ästhetische Wachstumsraten erzielt in Form noch stärkerer Reize.

150 Millionen Dollar wurden im MGM Grand verbaut für eine Bühne, die eine gigantische Spielkonsole mit 2000 Sitzplätzen ist. Da das Theater eigens für "Kà" errichtet wurde, greift die Bühne in den Saal aus. Die Zuschauer finden sich auf dem Sonnendeck einer Dschunke wieder, an den Seiten säumen Mastbäume die Tribüne, und auch die vor Vorstellungsbeginn zwischen den Sitzreihen berserkernden Anheizer beziehen das Publikum ein. Jeder soll von der "Kà"-Welt umfangen werden. Die Musik etwa, die live in den Katakomben gespielt wird, erklingt aus in die Kopfstützen der Sitze integrierten Lautsprechern.

"Kà" will purer Dynamizismus sein, reine Kinetik, und dabei ist es sein größter Effekt, dass nicht auf einer Bühne gespielt wird, sondern frei schwebend über einem gewaltigen schwarzen Loch, einem feuerspeienden Vulkankrater. Die Spieler turnen über diesem Höllenschlund. Gleich zu Beginn wird einem Zuschauer sein Handy entrissen, das er wohl vergessen hat auszuschalten. Schon fliegt das Handy über den Kraterrand in den Abgrund, und sein protestierender Besitzer gleich hinterher. So beginnt der Abend mit einem Menschenopfer. Natürlich ist das gefakt, gehört der vermeintliche Zuschauer zur Truppe, aber das Publikum wird darauf vorbereitet, dass hier alle Stürze echt sind. Wir sind im Zirkus, und da nimmt man die Fallhöhe einer Figur wörtlich.

Anders als im gewöhnlichen Zirkus ist der Absturz hier kein Unfall, sondern Programm. Und so werden Viele kunstvoll in die Tiefe stürzen, abgeworfen von tanzenden Nussschalen im Wellen-Rodeo einer aufgewühlten See oder an glitschigen Felswänden virtuos den Halt verlierend. In den spektakulärsten Szenen agieren die Artisten nahezu in der Vertikalen, auf einer Plattform, die sich um 360 Grad drehen und bis zu 90 Grad kippen lässt. Der Höllensturz, mit dem jede Szene endet, wirkt wie ein Inbild der Selbstzerstörungsenergien von Las Vegas. Eine Stadt, die alles, was Geschichte angereichert hat, durch Neues ersetzt, macht auch im Theater aus jedem Szenenwechsel eine Tilgung. Wie die Slot Machine die Dollarmünzen verschluckt die Bühne ihre Helden. Doch erst das Loslassen des Artisten zeigt, wie groß seine Körperbeherrschung ist, dank derer er den Sturz vermeiden konnte.

Ensemble ist für die special forces vom Cirque du Soleil nicht der richtige Begriff. Es sind Elitetruppen, in denen jeder ein Großmeister seiner Disziplin ist; unter ihnen finden sich olympische Goldmedaillengewinner. Sie werden auf der ganzen Welt gecastet und die Arbeitsteilung ist so fein kalibriert, dass der permanente Leistungsüberschuss sich ergänzender Spezialisten die Illusion erzeugt, in eine Parallelwelt katapultiert worden zu sein, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Jede Szene folgt dabei einer Dramaturgie der Eskalation, löst eine Kettenreaktion aus.

Es reicht nicht, dass pittoreske Gestalten wie Fliegen eine Felswand hochlaufen, die sich allmählich senkrecht stellt. Es müssen auch noch Bogenschützen dazu kommen, die ihre Pfeile auf sie niederregnen lassen. Aus der Plattform ploppende Stifte erwecken den Eindruck, die abgeschossenen Pfeile seien im Fels steckengeblieben. Nun dienen sie als Haltestangen für die folgende Kampfchoreographie, in deren Verlauf die Pflöcke einer nach dem anderen versenkt werden, bis alle Kämpfer in die Tiefe gestürzt sind. Auch in der finalen Fechtszene kämpfen die beiden feindlichen Gruppen, an Seilen hängend, in der Senkrechten gegeneinander und vollführen ihre Attacken und Finten in einem Tempo und mit einer Eleganz, die schon zu ebener Erde eine Bravourleistung wäre.

Gesteuert werden die Seilwinden, an denen die Kämpfer hängen, von Technikern mit Joysticks - eine so minutiöse Feinabstimmung ist nur mit hoch entwickelter Software möglich. 200 Bühnenarbeiter schuften wie Galeerensklaven unter Deck. Nur wer die komplexe Umbaulogistik der in jeder Szene anders gespannten Fangnetze und neu verteilten Riesen-Airbags, die in Sekundenbruchteilen mit Luft gefüllt und wieder leer gepumpt werden, kennt, den Fahrplan der Last-Paternoster und Plattformen, kann ermessen, wie raffiniert die Dramaturgie des Abends ist. Der Gegensatz zwischen dem für die Zuschauer sichtbaren Teil der Bühne und dem für sie unsichtbaren ähnelt dem architektonischen Kontrast der Stadt. Während zur Straße hin Marmor und Alabaster ihre Muskeln spielen lassen, finden sich an der rohen Rückseite die Futterklappen und Laderampen, durch die Champagner und Gänseleberpasteten nach vorne gereicht werden.

Der Inspizient von "Kà" gleicht einem Fluglotsen - und es sind ja tatsächlich die Zeitfenster von Aviatikern, die er koordiniert, die slots. Von seinen Kommandos hängt das Leben jedes Einzelnen ab. Die ganze Technik eliminiert nicht das Risiko, sondern macht es möglich, so hohe Risiken einzugehen. Dem Maschinenpark zum Trotz werden dabei älteste Zirkus-Traditionen mit dem neuesten Stand der Technik abgeglichen und mit anderen Darstellungsformen wie Tanz, Pantomime, Capoeira und Jonglage fusioniert. Wenn der Cirque du Soleil das Theater der Zukunft repräsentiert, ist es um so bemerkenswerter, dass er zugleich zu dessen Ursprüngen zurückkehrt, der Erkundung seiner eigenen Wirkungsmechanik. Dass es im Kern selbstreferentiell ist wie die Stadt selbst, darin liegt vielleicht das Geheimnis seines Erfolgs.

Denn hier ist jeder sein eigener Darsteller. Selbst die Straßenwerber, die am Strip die Visitenkarten von Prostituierten verteilen, streichen ihre Professionalität heraus, indem sie die Karten rhythmisch gegeneinander schlagen. Es klingt, als würden sie mit der großen Wertschöpfungskette rasseln, die den Namen Las Vegas trägt.

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