Chuck Berry wird achtzig:Rock'n'Roll für Aliens

Sein Duck-Walk fällt ihm heute nicht mehr so leicht. Aber an Kraft hat der Rock'n'Roll des Nationaldichters von "Teenage Wasteland" nicht verloren. Wird er auch nie, denn schon jetzt lebt seine Musik im Weltraum weiter.

Willi Winkler

Es war Liebe erst auf den zweiten Blick, doch entbrannte sie dann um so heftiger, und länger als die bürgerliche Ehe hielt sie auch. Ende Oktober 1961 begegneten sich morgens am Bahnhof im englischen Dartford Mick Jagger und Keith Richards, beide selbstverständlich in Schuluniform und noch ziemlich einverstanden mit der Welt.

Das Weltvertrauen ging mit einem Schlag verloren, als Keith sah, was der Sandkastenfreund unterm Arm trug, nämlich Platten von Little Walker, Muddy Waters und Chuck Berry. Das gab es nicht in ihrer behüteten Kindheit, das gab es in ganz England nicht, und dass es auch in den USA mit dieser Musik schon wieder vorbei war, wussten sie nicht.

Autobiografie im Gefängnis geschrieben

Die beiden hoffnungsvollen Schüler taten sich zusammen, gründeten die Rolling Stones und nahmen einen Berry-Titel nach dem anderen auf. Die Beatles spielten "Rock'n'Roll Music" von ihm und "Roll Over Beethoven", die Animals, die Who, die Kinks, alle britischen Bands, die zu Anfang der Sechziger entstanden, beriefen sich auf den fernen Paten aus den USA und machten aus seiner Musik ihre ersten Hits.

Der Erfinder dieser Musik saß derweil in Amerika im Knast, für einen Schwarzen bis heute kein außergewöhnliches Schicksal. Dabei kam Charles Edward Anderson Berry keineswegs im Ghetto, sondern in einer angesehenen schwarzen Familie in St. Louis zur Welt. "Vereinzelte Wolken hingen über dem Mittleren Westen der USA", beginnt das inzwischen sechzigjährige große Kind bildungsromantypisch seine "Autobiografie" (1987), "und der Nordwind brachte die Aussicht auf einen weiteren kalten Winter."

Entstanden ist dieses Buch wiederum im Gefängnis, doch diesmal waren es nicht kleinkriminelle Untaten wie Autodiebstahl oder Beihilfe zur Prostitution, die Berry hinter Gitter brachten, sondern das ebenso bewährte Delikt der Besserverdienenden: Steuerhinterziehung.

Im Buch ("Jede Zeile selber geschrieben") beschreibt er, wie er es vom Gelegenheitsarbeiter, Boxer und Friseur zu jenem Wundermann brachte, der auf seiner Gibson ES 335 die ewig süße Sechzehnjährige mit High-Heels und Pferdeschwanz anbetet, das Autofahren und immer wieder "Rock'n'Roll Music". Chuck Berry schrieb in seinen Zweieinhalb-Minuten-Hymnen das Evangelium der Teenager und wurde damit der Nationaldichter von teenage wasteland, USA.

In der Autobiografie taucht da, wo im klassischen Bildungsroman vielleicht die Lektüre von Schopenhauer oder der erste "Tristan" fällig wäre, ein tiefschwarzer '41er Buick Roadmaster auf, eine Liebeskutsche und das denkbar größte Glück auf Erden.

"Ich nahm ihn überall mit hin, außer ins Bett." Niemand hat so schamlos wie er den Konsum gefeiert, niemand mit so viel Verständnis die Trostlosigkeit der Schule und die täglich erneuerte Seligkeit besungen, wenn einen die Glocke endlich freigibt und der Unernst des Lebens beginnt.

Das war für ihn und Millionen Hörer an den Jukeboxes der westlichen Welt endlich jene Hölle, vor der sie ihre Eltern immer gewarnt hatten: geistlose Verblödung durch den damals noch gern "Negermusik" genannten Rock'n'Roll, also das ganze irdische Glück.

Irgendwo weit draußen im dunklen, kalten Weltraum treibt die Raumsonde Voyager I, die vor dreißig Jahren in die Nacht hinausgeschickt wurde, um möglichen Weltraummitbewohnern die Botschaft von den friedfertigen Erdlingen zu bringen. Ein Chip enthält das Kulturgut der Erde in klassischen Beispielen.

Wenn alles andere längst vergessen sein wird, fetzt Chuck Berrys "Johnny B. Goode" noch immer alterslos durch Zeit und Raum. Die Aliens werden Ohren machen, wenn sie das hören. Heute wird Chuck Berry, der Vater des Rock'n'Roll, der große Kinderverderber, der Poet des immerwährenden Jugendirreseins, der größte Dichter, den Amerika je hervorgebracht hat, achtzig Jahre alt. Hail! Hail! Rock'n'Roll!

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