Christian Manhart:Mit den Tempeln verschwindet die Kultur

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Der Unesco-Repräsentant in Nepal über die beispiellosen Erdbebenschäden in Nepal und über verzweifelte Versuche, die Bauten zu sichern.

Interview von Stefan Klein

Christian Manhart, 56, studierte Kunstgeschichte und Archäologie in München und Paris. Bei der Unesco, der UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, arbeitete er für die Erhaltung von Kulturstätten im frankophonen Afrika sowie in Süd- und Zentralasien. Seit August 2014 ist er Unesco-Repräsentant in Nepal.

SZ: Herr Manhart, vor zwei Wochen bebte in Nepal die Erde. Haben Sie inzwischen einen Überblick gewonnen, wie groß der Schaden an den Kulturerbestätten ist?

Christian Manhart: Der Schaden ist dramatisch. Wir haben sieben dieser Stätten hier im Kathmandutal, am schlimmsten betroffen ist der Durbar-Platz in Kathmandu, also der Platz vor dem alten königlichen Palast mit seinen über fünfzig Pagoden und Tempeln, von denen ein Großteil vollkommen eingestürzt ist. Auch das Museum ist sehr stark beschädigt.

Im Westen von Kathmandu auf einem Hügel befindet sich der Tempelkomplex Swayambunath, wie sieht es dort aus?

Dramatisch. Von den 27 Gebäuden um den Hauptstupa sind fast alle eingestürzt, und die, die noch stehen, sind in ganz kritischem Zustand. Der Hauptstupa selbst hat nur einen Sprung. Allerdings sagte uns gestern ein japanischer Experte für Erdrutsche, es seien Sprünge im Hügel, die vom Regen ausgewaschen werden könnten, und dann rutscht der ganze Hang ab. Da müssen wir sehr schnell handeln, denn die Monsunzeit steht ja vor der Tür.

Auch in der anderen Königsstadt, in Patan, sollen die Schäden beträchtlich sein.

Ja, dem Palast sieht man die Beschädigung von außen kaum an, da ist nur ein Turm, der ein bisschen schief hängt. Aber innen sind ganz massive Risse in den Wänden, da lassen sich zwei Flügel gar nicht mehr betreten, und die Hälfte der Tempel dort sind ebenfalls eingestürzt.

Die dritte Königsstadt Bhaktapur ist ebenfalls betroffen?

Bhaktapur ist auch ganz stark beschädigt. Wir haben seit ein paar Tagen ein Team mit zwei französischen Architekten dort, die hier im Urlaub waren und sich gemeldet haben, um zu helfen. Die machen, unterstützt von zwei nepalischen Ingenieuren, derzeit eine detaillierte Bestandsaufnahme von den Schäden.

Betroffen sind Paläste, Tempel, Pagoden, Stupas - lässt sich das quantifizieren?

In den betroffenen Gebieten sind etwa 70 Prozent des nepalischen Kulturerbes sehr stark beschädigt.

So ein Verlust auf einen Schlag, hat es das je irgendwo gegeben?

In dem Ausmaß habe ich das noch nie gesehen. Das ist ein einmalig.

Was bedeutet es für das Selbstverständnis der Menschen und für ihre Seele? Was bedeutet es für ihre Kultur?

Für ein Volk wie die Nepaler, das so stark in seinen Traditionen und Religionen verwurzelt ist, lässt sich kaum etwas Schlimmeres denken. Als ich hier vor neun Monaten ankam, war ich sehr erstaunt, wie sehr diese Kultur hier tatsächlich noch gelebt wird. Und nachdem nun der materielle Ausdruck dieser Kultur verloren ist, sehe ich eine große Gefahr, dass auch die immaterielle Kultur nicht überlebt.

Was meinen Sie damit?

Nehmen Sie die religiösen Festivals, die ja alle an die Tempel gebunden sind. Im Kathmandutal wird fast jeden Tag irgendwo ein Festival gefeiert. Wenn die Tempel nicht mehr existieren, dann könnte mit ihnen auch diese Festkultur verschwinden. Seit dem Erdbeben hat kein einziges mehr stattgefunden.

Ergibt sich aus dieser spirituellen Verbindung der Menschen zu den Götterplätzen die Verpflichtung für die internationale Gemeinschaft, beim Wiederaufbau zu helfen?

So weit sind wir noch nicht. Wir sind noch bei der Bestandsaufnahme. In Kathmandu haben wir sie abgeschlossen. In vielen Dörfern aber haben wir noch nicht mal angefangen.

Wer hilft Ihnen?

Wir haben Experten aus aller Welt, japanische Seismologen oder das italienische Feuerwehrteam, das schon beim Erdbeben in L'Aquila wertvolle Arbeit geleistet hat. Zum Teil sind sie schon dabei, einsturzgefährdete Tempel zu stabilisieren, allerdings braucht es dafür Genehmigungen, und die sind manchmal schwer zu bekommen.

Ein Beispiel?

Wir haben seit einer Woche Amerikaner hier vom "Global Monuments Fund", die haben Drohnen dabei, die zentimetergenaue Bestandsaufnahmen machen können, auch in abgelegenen Tälern, in die wir noch gar nicht gekommen sind. Sie würden unsere Arbeit enorm beschleunigen, doch die Behörden haben uns noch immer nicht erlaubt, sie fliegen zu lassen.

Dabei eilt es doch.

In der Tat, die Zeit läuft uns davon, der Monsun steht kurz bevor, und vorher müssen wir diese Gebäude unbedingt ausreichend absichern. Da es sich um Hunderte v Tempel handelt, können wir gar nicht früh genug anfangen. Alle werden wir sowieso nicht retten können .

Gibt es Pläne für die Restaurierung?

Bis jetzt noch nicht. Aber wenn alles gut geht, können wir vielleicht Ende des Jahres damit beginnen. Es hängt nicht zuletzt von Finanzierungsfragen ab. Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt . . .

. . . und die Unesco ist auch nicht reich. Aber wird es sich technisch überhaupt machen lassen?

Ich bin da relativ optimistisch. Eingestürzt sind vor allem die Ziegelmauern, aber Statuen, geschnitzte Holzbalken, Türstürze, Ecksteine, Treppen, davon ist vieles noch in relativ gutem Zustand da.

Nichts geplündert, verloren gegangen?

In vielen Städten hat man sofort Bewachung abgestellt. Nur am Durbar-Platz in Kathmandu sind Sachen verschwunden, weil da kaum geschützt wurde und weil man zunächst mit Bulldozern an die Sachen herangegangen ist. Es gab einen Tempel, der hatte wunderschön geschnitzte Holzbalken mit erotischen Szenen, die sind womöglich mit dem ganzen Schutt abtransportiert worden. Wir suchen noch nach ihnen.

Die Restaurierung wird daran nicht scheitern?

Nein, wir wissen, wie was ausgesehen hat, zumindest im Kathmandutal. Es gibt sehr detaillierte Pläne, es gibt Fotos. Das alles stimmt mich zuversichtlich, dass wir das wieder originalgetreu aufbauen können. Was auch dafür spricht: Hier hat sich eine alte Handwerkstradition erhalten. Nepalische Steinmetze, Maler, Schnitzer, die arbeiten heute genauso gut wie im 16. Jahrhundert. Die Menschen haben hier schon immer Erdbeben gehabt und ihre Tempel immer wieder neu aufgebaut.

Könnte man diesen Kreislauf nicht durchbrechen und jetzt erdbebensicher bauen?

Wir werden das versuchen mit Verstärkungsringen aus Stahl, damit die Gebäude, wenn sie zu schwingen anfangen, nicht mehr vertikal auseinander krachen. Es wäre eine relativ einfache und nicht sehr teure Methode.

Wie lange würde es dauern, bis alles wieder steht?

Ich würde von Jahrzehnten sprechen.

Woher soll das Geld kommen?

Viele Spender sind schon an uns herangetreten. Da sind Regierungen dabei, aber auch eine Frau aus Hongkong, die uns 250 000 Dollar zur Verfügung gestellt hat.

Muss man alles machen, was machbar ist? Könnte man nicht auch zum Beispiel mit modernen Tempelbauten neu anfangen?

Asiatischem Denken würde das durchaus entsprechen. Die Asiaten hängen nicht so sehr an diesen alten Dingen. Etwas Neues kann für sie genauso gut sein wie das Alte oder vielleicht sogar besser, weil es schöner und bunter ist. Wir haben diese Diskussion in Nepal noch nicht, aber es ist gut möglich, dass wir sie noch führen werden.

© SZ vom 11.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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