Chilly Gonzales:Ah! und Oh! statt E und U

Chilly Gonzales

Ein neues Album - und im Netz beantwortet Chilly Gonzales dazu die großen Fragen der Musikgeschichte.

(Foto: Alexandre Isard)

Beethoven, Blockbuster, Hip-Hop: Niemand kann Musik so gut erklären wie der Pianist Chilly Gonzales. In den Videos zu seinem neuen Album "Chambers" funktioniert das meisterhaft.

Von Alex Rühle

Okay, jetzt mal alle unterrichtsfremden Materialien vom Tisch, wir machen kurz eine Runde Harmonielehre. Dabei fangen wir ganz klein an, und das im wörtlichen Sinne: Halbtonschritt, kleine Sekunde. Das kleinstmögliche Intervall, das man auf dem Klavier spielen kann. Kennt jeder, zum Beispiel aus Beethovens "Für Elise": "Di-dl-di-dl-di-da-du-da-damm". 160 Jahre später, Spielbergs "Weißer Hai". Die Frau schwimmt aufs Meer raus, und dann von unten, aus der dunklen Tiefe, dasselbe Intervall. Gerade kreiselte es so versonnen-harmlos auf der Tastatur herum, jetzt wird es gespielt von Kontrabässen, pulsierend, unbarmherzig, der musikalische Inbegriff einer unmittelbaren Bedrohung.

Oder "Shimmy Shimmy Ya" des Rappers Ol' Dirty Bastard: Da wird die kleine Sekunde dann zum perkussiven Rhythmus, c und h, - hart, streng punktiert, zehnmal hintereinander das c, das am Ende in das tieferliegende h zu fallen scheint, wie erlöst.

Und abwärts: "Play, play, play, play, play", denn Taylor Swift zeigt die Kraft der Wiederholung

Beethoven, Blockbuster, Hip-Hop - wem das musikgeschichtlich zu wild durcheinandergeht, der darf sich hier wieder ausklinken und weiter seinen monokulturellen Klanggarten bestellen. Alle aber, die hierblieben, müssen jetzt Chilly Gonzales zuhören. Ehrlich gesagt, tun sie das eh schon die ganze Zeit.

Im Video zu seiner Komposition "Odessa" hockt der kanadische Entertainer-Composer-Überflieger in der für ihn so charakteristischen Arbeitskleidung (flamboyanter Morgenmantel und Pantoffeln) in der für ihn so charakteristischen Körperhaltung (krummer Rücken, übereinandergeschlagene Beine) am für ihn so charakteristischen Konzertflügel und erklärt, dass das wichtigste kompositorische Material seines Stücks die kleine Sekunde sei, die man ja aus allen möglichen Stücken kenne - siehe oben. "Let's have a listen", sagt er und schon setzt ein Streichquartett ein.

Was macht nun Gonzales in "Odessa" aus der Sekunde? Er nimmt sie als Vorhalt und kleidet mit dieser einen kleinen Note eine sonst nackte Quinte ein, voilà, schon klingt sie wie der schwermütige Anfang eines slawischen Volkslieds.

Parallel dazu steigt auf dem Klavier eine Tonleiter ab, merkwürdig eingefärbt, Gonzales würde auch das leicht erklären können, harmonisches Moll, übermäßige Sekunde, Odessa eben, weit im Osten, 19. Jahrhundert. Könnte aber auch aus "Die fabelhafte Welt der Amélie" sein, die leichte Wehmut, das Schwelgen in Harmonien. . .

Dargeboten wird das Ganze in einer Art Salon, schwere Vorhänge, Kerzen, an den Wänden Ölgemälde, eingedunkelt durch Jahrzehnte, dazu die Musiker in ihren Anzügen. Kurzum: Kammermusik.

"Chambers" heißt denn auch das neue Album (erschienen bei Gentle Threat / Indigo), aus dem der Track "Odessa" und das dazugehörige Video stammen.

Nun kann Gonzales ja einfach alles, Rap, Pop, Klassik, Jazz. Brahms, Satie, Thelonious Monk (ah, genau, vorhin vergessen, der war der Meister der kleinen Sekunde, in so gut wie jedem Stück drischt er irgendwann auf direkt nebeneinanderliegende Tasten ein). Er hatte einen Großvater, der gern Pianist geworden wäre und der dem hochbegabten Enkel im Montreal der Siebzigerjahre Unterricht gab. Er hatte von Anfang an ein außerordentliches Gehör und konnte schon bald auch vertrackte Melodien von Schostakowitsch oder Debussy einfach so nachspielen. Er schaute seinem exzentrischen Landsmann Glenn Gould bei dessen Bach-Exerzitien im Fernsehen zu und schaltete dann um zu Michael Jackson, weil dessen "Beat it" genauso gut klang wie Bachs B-Dur.

Kammer-Pop für McEnroe und Mendelssohn

Kurzum, Gonzales saugte alles in sich auf und wurde zum Chamäleon, das jede Klangfarbe annehmen kann. Er ging nach Berlin und wurde Indie-Entertainer, kombinierte Electro-Tracks mit absurdem Rap-Gesang und produzierte "The Unspeakable", das erste orchestrale Rap-Album. Er arbeitet mit Daft Punk, Feist und Peaches zusammen, hält mit einer 27-stündigen Solo-Performance einen der absurdesten Rekorde der Musikgeschichte und gibt schlichtweg beglückende Konzerte, bei denen es ihm nie um E und U, sondern immer nur um Ah! und Oh! geht: Klingt doch alles spannend, hört lieber erst mal hin, aus was das genau gemacht ist. Und man weiß nie, was als Nächstes kommt.

Wobei - diesmal schließt er eigentlich sehr organisch an seine beiden intimen Solo-Piano-Alben an, in denen er die ganze Musikgeschichte zu so simplen wie eingängigen Songs eingeschmolzen hatte. Nur dass er für "Chambers" Musik für Klavier und Streichquartett komponiert hat. Eine Art Kammer-Pop, analog und mehrstimmig. Mal pompös und cremig, dann ganz schlicht und klar.

Gewidmet sind die Stücke John McEnroe, Felix Mendelssohn, König Heinrich VIII., Daft Punk oder auch dem Unterbewussten: "Freudian Slippers" klingt anfangs, ähnlich wie "Odessa", nach osteuropäisch klezmeresker Weise, dann klopft Gonzales auf dem Klavierrahmen einen Rhythmus dazu, hohltönend wie bei einem Trauermarsch und die Streicher - ach, abstrakt beschrieben haben wir das Ganze jetzt genug, wem's gefällt, der gehe hin und kaufe einfach das Album.

Wer noch nicht ganz überzeugt ist, der gehe statt in den Plattenladen einfach ins Internet und gucke sich an, was Gonzales da neuerdings treibt: Für den Kölner Sender Eins Live analysiert Gonzales (der seit einiger Zeit selbst in Köln lebt) große Pop-Hits, das heißt, er nimmt in jeder Folger seiner "Pop Music Masterclass" einen einzigen Aspekt eines Songs heraus und erklärt den, griffig, verständlich, in dreieinhalbminütiger Songlänge und reichert das jeweils noch mit überraschenden Beispielen an.

Dimmdimmdimmdidididamm

Anhand von Taylor Swifts "Shake it off" spricht er über die Kraft der Wiederholung (die Abwärtsmelodie, Sie wissen schon: "play, play, play, play, play" . . .) und über das Verhältnis von Harmonie und Melodie: Manchmal ist die Harmonie Chef im Song und diktiert der Melodie, wo sie hinzugehen hat. Und dann gibt's diese Spielplatz-Technik, Taylor Swift singt, "als würde sie den Satz über den Platz rufen, das hüpft einfach die Tonleiter runter, als würd's jemand vor sich hin singen. Die Melodie ist in dem Fall das Bild, die Akkorde geben dem Bild nur den Rahmen."

Oder "Under Pressure", dieser Ohrwurm von Queen und David Bowie: Dimmdimmdimmdidididamm. Anhand des nur aus zwei Tönen bestehenden Eingangsmotivs untersucht Gonzales das Verhältnis von Tonika und Dominantseptakkord. Falls Sie noch nicht wissen, was eine Tonika ist, voilà: "Die Tonika ist das Zuhause, der Dominantseptakkord führt uns weit weg von zu Hause, aber lässt uns auch davon träumen zurückzukommen."

Wer jetzt lästert, das sei aber simpel übersetzt, der sperre sich ein mit seiner langweiligen Söhner-Harmonielehrefibel und esse die ersten 20 Seiten auf. Weil: Klar ist das simpel übersetzt, aber das verstehen auch meine Kinder, wenn ich denen hingegen was erzähle von Dominantseptakkord, gehen alle Klappen zu.

"Chambers" übrigens endet mit "Myth me", dem einzigen Stück mit Text. Gonzales singt plötzlich croonerhaft: "Are you still with me? You're gonna myth me." Erst dick spätromantisches Pathos auftragen und dann kalauern, dass sich die Notenbalken biegen. Übrigens, für alle, die ihn tatsächlich vermissen: Im Mai ist Gonzales in Berlin, im Juni in München und Hamburg.

Chambers. Gentle Threat/Indigo. 17,99 Euro

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