Charles Aznavour:"Ich werde ja erst 91"

Charles Aznavour during a concert

Charles Aznavour wird in Armenien verehrt wie ein Nationalheiliger. Sie haben ihm Statuen errichtet. Er hat hier 50Schulen gebaut und ein Altersheim.

(Foto: dpa)

Der große Chanson-Sänger Charles Aznavour erzählt von seiner Ankunft 1924 in Frankreich und warum es Einwanderer heute so viel schwerer haben. Eine Begegnung in Paris.

Von Alex Rühle

Womit beginnen, wenn man nur eine halbe Stunde Zeit für 91 Jahre bekommt? Soll man einen der nostalgischen Songtexte seiner neuen CD als Zeitschleuse missbrauchen und sich damit in das Paris der Dreißigerjahre zurückbeamen, in ein Damals, "als wir in Seifenkisten die Straßen runterrasten / Johlend Panik verbreiteten / Im Vorbeifahren die Gemüseauslagen umkippten"? Oder lieber im Hier und Jetzt bleiben und ihn auf seinen Brief an François Hollande und seine unkonventionelle Flüchtlingsinitiative ansprechen? Oder so: "100 Jahre Genozid an den Armeniern, eine Million Tote, Erdoğan Weigerung . . . Was sagen Sie als offizieller armenischer Botschafter in der Schweiz . . .?

Charles Aznavour bemerkt dieses gedankliche Zögern, er lehnt sich langsam zurück, taxiert den vergrübelten Deutschen und sagt: "Lassen Sie sich ruhig Zeit, ich bin erst 90, ich hab noch viel vor mir."

Sein Gesicht leuchtet im Schein der goldenen Lampen, er residiert an diesem Nachmittag im Hôtel Raphaël. Das ist einer dieser mächtigen Pariser Bauten, die wie Ozeandampfer wirken, die aus einer fernen Epoche hier an den Champs-Élysées vor Anker gegangen sind, einer Epoche, in der Frankreich stolzes Empire war und Paris die Hauptstadt der Welt, die politische Exilanten wie den Georgisch-Armenier Micha Asnawurjan und seine Frau, die armenische Türkin Knar Baghdassarian, mit offenen Armen . . . Moment! Hat er gerade gesagt, er sei "erst 90?"

"So, Bürschchen, du denkst, ich hab sie nicht mehr alle. Dann mal her mit deinen Fragen!"

"Aber ja", sagt Charles Aznavour, der übrigens aus der Nähe eher aussieht wie der Fahrer von Charles Aznavour, was keine Beleidigung sein soll, er hat nur so etwas sympathisch Handfestes, völlig Unprätentiöses, wie er so dasitzt in seiner Sportjacke und mit dem Gesicht, glänzend wie ein polierter Apfel, na ja, vielleicht ein Winterapfel, die vielen fadenfeinen Falten . . . "Ich bin erst 90. Die Leute aus dem Kaukasus werden alle 150 Jahre alt. Mindestens." Er sagt das in ganz ernstem Tonfall, während er die Augen schließt und seine Hände verschränkt.

Oha. Da ist dieser kurze Moment, in dem man nicht weiß - hat er sie vielleicht nicht mehr alle? Aznavour blitzt kurz aus den Augenwinkeln rüber, beugt sich vor und sagt dann leise und vertraulich: "Wissen Sie, vor Kurzem kam diese Frau in unser armenisches Dorf und entdeckte einen alten Mann, der weinend vor seinem Haus saß. 'Was haben Sie denn?' fragt sie ihn. 'Mein Vater hat mich geschlagen', sagt der Mann. Die Frau geht in das Haus, da sitzt ein noch älterer Mann. 'Haben Sie wirklich Ihren Sohn geschlagen?', fragt sie ihn. 'Es ging nicht anders,' sagt der Alte und zeigt auf die Ofenbank. 'Er hat meinen Vater beleidigt.' Auf der Bank sitzt ein uraltes Männlein und winkt ihr zu. Die Frau rennt auf die Straße, wo sie den Pfarrer des Dorfes trifft. Sie will ihm die Geschichte erzählen, aber er unterbricht sie sofort: 'Ach, die drei kenne ich gut, die habe ich schließlich alle getauft.'"

Nostalgiekitsch? Stille Altersmelancholie!

Aznavour lehnt sich zurück und lässt die Pointe wirken. Dann guckt er, als wolle er sagen: "So, Bürschchen, du denkst also, ich hab sie nicht mehr alle. Dann mal her mit deinen Fragen!"

Also gut, wenn er eh schon gedanklich in Armenien ist: Soeben war der Gedenktag an den Völkermord, bei dem mehr als eine Million . . . Charles Aznavour, bisher ganz der behagliche Alte, schnellt vor mit seinem ganzen Körper und unterbricht: "Sagen Sie Angela Merkel, wie gut ich sie finde. Sie und der Papst sind die Besten, die wir haben. Diesen Mut muss man erst mal besitzen." Welchen Mut? "Dass sie Erdoğan sagt, dass es ein Genozid war. Er schuldet es seinem eigenen Volk, dieses Verbrechen zuzugeben. Und er schuldet es unserem Schmerz, die Türkei muss den Völkermord endlich anerkennen, sonst bleibt das für immer eine offene Wunde."

Aznavours Mutter verlor 1915 ihre gesamte Familie in dem Genozid, sie und ihr Mann flüchteten später nach Frankreich, eigentlich nur als Zwischenstation, sie wollten in die USA, aber dann kam der kleine Charles auf die Welt und sie blieben hier hängen, in Paris, ah, Paris.

"Kennen Sie den Satz: ,Nostalgie ist die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der man nichts zu lachen hatte.'"

"Natürlich kenn ich den, der ist schließlich von mir."

"Stimmt. Und warum machen Sie dann jetzt ein Album mit zwölf nostalgischen Chansons?" "Encores" besteht aus Erinnerungen an die zwar nicht immer guten, aber eindeutig alten Zeiten, an die Kindheit, den Krieg, die Jahre mit der Piaf, die ersten Erfolge, Polaroids aus einem langen Leben, alle selbst geschrieben und diesmal auch selbst arrangiert.

"Moment!" sagt Aznavour. "Es geht mir nicht um klebrigen Nostalgiekitsch, sondern um stille Altersmelancholie." Dann zitiert er zwei Zeilen aus dem Chanson, in dem er in einer Seifenkiste durch seine Kindheit und den ersten Absatz dieses Textes raste: "Wenn ich traurig und einsam bin, wenn mich das Alter plagt / Wenn die Melancholie mir ihre alten Filme vorspielt, / Dann sehe ich mich, wie ich aus dem Klassenzimmer komme und ein kleines Schokoladencroissant esse."

Hollande hat nicht geantwortet

Und wie hat man sich eine Kindheit im Paris der Dreißigerjahre vorzustellen? In seinem Chanson klingt es wirklich nach guter alter Zeit, wippende Schulranzen, erstes Verliebtsein, Streiche, er muss doch viel zu lachen gehabt haben, als er als Schahnur Waghinak Asnawurjan durchs Quartier Latin lief? "Hatten wir ja auch. Meine Eltern wurden hier 1924 mit offenen Armen empfangen. Ganz anders als die Flüchtlinge heute. Zeigen Sie mir einen Syrer oder Armenier, der heute hier strandet und einfach so ein Restaurant mitten in Paris aufmacht. Die kommen ohne Pässe und haben keine Chance."

Aznavours Vater, ein ausgebildeter Bariton, eröffnete kurz nach der Geburt seines Sohnes das "Le Caucase", in dem er selber sang, "meine Musikschule", wie Aznavour sagt. Er hat übrigens eine ziemlich heisere Stimme. "Aber so klang ich immer schon. Wissen Sie, ich bin Migrantenkind, ich hab aus nichts was gemacht. Ich war zu klein fürs Schauspielern, ich hatte keine Stimme fürs Singen, keinen Schulabschluss et voilà, hier sitze ich." Er zeigt durch die absurd überladene Suite, den ganzen Empire-Plunder, die Teppiche, das Gold . . .

"Ich hatte keine Stimme, keinen Schulabschluss . . . et voilà, hier sitze ich."

Wenn er lacht, sieht er aus wie seine eigene Cousine zweiten Grades, irgendein altes Mütterchen in einem armenischen Dorf, die Augenschlitze, die Bäckchen . . . einer dieser alten Menschen, von denen er in seinem neuen Chanson "Et moi, je reste là" singt: "Die Jungen haben alle das Dorf verlassen / Nur einige Alte sind geblieben und halten sich an einem Bild fest / An einer Idee, einer toten Erinnerung an das, was war."

In den Dörfern Armeniens wird Aznavour verehrt wie ein Nationalheiliger, spätestens seit er 1988 nach einem verheerenden Erdbeben ins Land kam und beim Wiederaufbau half. Sie haben ihm Statuen aus Bronze, Stein und Marmor errichtet. Als er 2006 in Eriwan auftrat, kamen 100 000 Menschen, und es gibt selbstverständlich in Eriwan einen nach ihm benannten Platz und ein Museum zu seinen Ehren. Er hat unter anderem 50 Schulen gebaut und ein Altersheim. Und er bat den armenischen Präsidenten gerade erst, syrische Flüchtlinge aufzunehmen.

So wie Charles Aznavour es darstellt, war das ein kurzer beherzter Anruf von seinem Domizil in der Schweiz aus und sofort waren 17 000 syrische Familien im fernen Armenien aufgenommen, "in diesem kleinen bettelarmen Land. Wenn das alle so machen würden, gäbe es morgen keine Flüchtlinge mehr."

Er hat deshalb auch an Hollande geschrieben und vorgeschlagen, die Flüchtlinge, die jetzt nach Europa kommen, in die ausgestorbenen französischen Dörfer zu verteilen, auf dass diese wiederbelebt werden. Und? Hat Hollande geantwortet? "Ach was, der hat sich nicht gemeldet", sagt er und zuckt mit den Schultern. "Na ja, ich hab eh zu tun. Ich werde ja erst 91."

Nun, am Freitag, den 22. Mai, war es so weit. Wenn der Tag so verlaufen ist, wie Charles Aznavour es sich vorgenommen hat, war er schwimmen, vielleicht bisschen Tennis spielen, "und dann schreiben. Wenn ich zu schreiben aufhöre, sterbe ich. Und ich will doch 150 werden."

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