CDs der Woche - Die Retrokolumne:Roh und handgemacht

Beatles, Retrokolumne

Die Beatles spielen auf "On Air - Live At The BBC Volume 2" weniger geschmeidig, aber euphorischer.

(Foto: Universal Music)

"Studio One Ska Fever!" erinnert daran, wie wild und aufmüpfig Reggae sein konnte. Pete Townshend klatscht auf "Tommy" voll Inbrunst Ideen aufs Tonband und die Beatles klingen auf "On Air - Live At The BBC Volume 2" naiv, aber auch euphorisch.

Von Max Fellmann

The Beatles

Kann man sich ja heute kaum mehr vorstellen. Es gab mal eine Zeit vor YouTube, vor MTV, vor den Privatradios, eine Zeit, als Bands tatsächlich noch mit den Instrumenten beim Radiosender anrückten, um ihre Lieder live zu spielen für die Leute draußen. Die Beatles waren Stammgäste bei der BBC.

Der Staatssender strahlte zwischen 1962 und 1965 275 eigens gemachte Aufzeichnungen aus (275!). Vor fast 20 Jahren erschien schon mal ein Schwung dieser Aufnahmen auf CD, jetzt gibt es endlich eine Fortsetzung: "On Air - Live At The BBC Volume 2" (Apple/Universal).

Und wieder überwältigt einen dieser Charme: Vier Kerle, Anfang zwanzig, die noch gar nicht recht wissen, wie unfassbar groß sie für immer sein werden, spielen eigene Hits und Rock'n'Roll-Klassiker, live, ohne Korrekturen. Oft weniger geschmeidig als auf den Albumversionen, roher, handgemachter, mit euphorischer Wucht. Vieles wirkt da etwas naiver, "And I Love Her" zum Beispiel, bekannt mit lyrischer Gitarre und sanften Bongos, ist mit E-Gitarre ein ganz schönes Geschrammel - aber genau da wird's natürlich spannend:

Was haben sie anders gespielt? Was schlechter? Was besser? Und spaßig geht's auch zu, zwischen die Songs sind Dialogmitschnitte gestreut, Gespräche zwischen den Beatles und den Moderatoren, oft (und nicht immer freiwillig) komisch: "Wer singt das nächste Lied?" "Ich." "Wer bist du?" "Paul." Man ahnt, wie es gewesen sein muss, als die Beatles neu waren, als sie zum ersten Mal aus irgendeinem Röhrenradio rausplärrten, als sie ansetzten, die Welt zu überwältigen. Groß.

Studio One Ska

Es gibt Sammler, die erst zufrieden sind, wenn sie ultrarare Singles, von denen überhaupt nur ein Exemplar gepresst wurde, unter Einsatz ihres Lebens aus lichtlosen Hinterhof-Flohmärkten im gefährlichen Teil von Kingston geschleppt haben. Das muss nicht sein, Stuart Baker ist doch gern bereit, die Mühen für uns auf sich zu nehmen.

"Studio One Ska Fever!"

Verschiedene Musiker zeigen auf "Studio One Ska Fever!", wie viel Schwung in der Musik von Kingston vor 50 Jahren steckte.

Der Londoner gräbt seit Jahren nach Raritäten aus allen Ecken der Popgeschichte, am liebsten jamaikanische Musik der sechziger Jahre, Ska, Rocksteady, Reggae. Das Gefundene, manchmal gesuchte Klassiker, manchmal unbekannte Stücke, veröffentlicht er auf seinem Label Soul Jazz in liebevollen Zusammenstellungen, mit dicken Booklets voll spannender Notizen und Anekdoten. Das Album "Studio One Ska Fever!" (Soul Jazz) zeigt, wie viel Schwung in der Musik von Kingston vor 50 Jahren steckte. Wer bei Jamaika immer nur an gemächlichen Reggae denkt, vergisst, wie schnell, wie wild, wie aufmüpfig die Musik sein konnte, die damals im wichtigsten Studio der Insel aufgenommen wurde. Man hört richtig, wie ein ganzes Land aufdreht, nachdem die Briten ihm gerade die Unabhängigkeit geschenkt haben.

Die Skatalites spielen so schnell sie können, Helden wie Don Drummond und Jackie Mittoo entwerfen ihre ganz eigene, karibische Variante von Clubmusik, Lee Perry nuschelt lustig herum. Dazu noch 24 Seiten Booklet mit herrlich unnötigen Details. Und wenn die Clarendonians den Beatles-Song "You Won't See Me" singen, eine Version zwischen Wiegenlied und Schluckauf, will man sofort ein Sommerfest anzetteln, obwohl schon November ist.

The Who

Das Konzept "Konzeptalbum" ist ein bisschen aus der Mode gekommen, von der "Rockoper" ganz zu schweigen (wer hat sich eigentlich den grausigen Begriff ausgedacht?). Es war ja auch immer leicht, sich über das oft überambitionierte Zeug lustig zu machen.

"Tommy" von The Who

Pete Townshend klatscht Ideen aufs Album und wirkt auf der Deluxe-Version von "Tommy" so am unmittelbarsten.

"Tommy" von The Who aus dem Jahr 1969, jetzt wiederveröffentlicht als Deluxe-Version (Polydor/Universal), ist ein großes Album, keine Frage, aber Jahrzehnte später fragt man sich schon, warum der ganze barocke Chorschwulst sein musste, die pseudo-kammermusikalischen Unisono-Passagen, diese Tuschs, die ständig in den Raum gestellt werden wie schwere Samtsofas. Aber egal, die großen Momente, allen voran der ewiggültige Hit "Pinball Wizard", versöhnen für die Ziellosigkeiten.

Und im Fall der Deluxe-Ausgabe lohnen sich vor allem die zusätzlichen Aufnahmen: Demos, die Pete Townshend allein gemacht hat - oft viel kraftvoller, viel beherzter als die überproduzierten Albumversionen. Manchmal hat er offenbar die Ideen einfach voll Inbrunst aufs Tonband geklatscht, und genau so wirken sie am unmittelbarsten. Es gibt neben der Deluxe-Ausgabe auch eine Super-Deluxe-Ausgabe, noch teurer, noch mehr Live-Aufnahmen. Warum eigentlich keine Super-Duper-Extra-Deluxe-Version?

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