Oper:Jetzt noch sizilianischer

Oper: Gelungene Rekonstruktion: die konzertante Erstaufführung der "Cavalleria rusticana" in ihrer Urfassung bei den Herbstfestspielen Baden-Baden.

Gelungene Rekonstruktion: die konzertante Erstaufführung der "Cavalleria rusticana" in ihrer Urfassung bei den Herbstfestspielen Baden-Baden.

(Foto: Andrea Kremper)

Pietro Mascagnis "Cavalleria rusticana" gehört zu den viel gespielten Opern. Aber kennt man sie wirklich? In Baden-Baden stellt der Dirigent Thomas Hengelbrock erstmals die Urfassung vor.

Von Michael Stallknecht

Es ist der Stoff, aus dem (nicht nur) Opernmythen sind: Ein junger Komponist, Studienabbrecher und Hilfsdirigent an einem italienischen Provinztheater, gewinnt einen Opernwettbewerb. Die Uraufführung in der Hauptstadt Rom lässt ihn über Nacht berühmt werden. Das Werk geht sofort in den bis heute gespielten Kanon ein und bleibt so populär, dass noch einhundert Jahre später Francis Ford Coppola das Finale von "Der Pate III" in einer Aufführung der "Cavalleria rusticana" spielen lässt. Schließlich kommen die Paten der Mafia aus einem Ort, in dem wo schon 1890 Pietro Mascagni seine Oper ansiedelte: einem archaischen, vom Katholizismus und einem strikten Ehrenkodex geprägten sizilianischen Dorf. Der Ex-Soldat Turiddu hat dort die Bäuerin Santuzza mit einer unehelichen Beziehung entehrt und turtelt nun wieder mit seiner Ex-Geliebten Lola, die inzwischen mit dem Fuhrmann Alfio verheiratet ist. Als am Ostersonntag das Volk aus der Messe auf den Dorfplatz strömt, fordert Turiddu Alfio zum Duell mit dem Messer - und stirbt.

Bei der konzertanten Aufführung der Herbstfestspiele Baden-Baden ist Turiddu ein italienischer Tenor, wie er im Buche steht: Giorgio Berrugi klingt saftig sanguinisch, verströmt üppigen Schmelz, phrasiert zugleich mit Eleganz. Auch Domen Križaj erfüllt als Alfio die Erwartungen, lässt einen runden, virilen Bariton hören. Nur die Besetzung der Santuzza widerspricht allem, was man von dieser Oper kennt: Carolina López Morena ist kein Mezzosopran oder schwerer Sopran mit satter Tiefe, sondern singt die Rolle mit einer hell strahlenden, weich flutenden Höhe. Was in der Stimmtypologie der Oper bedeutet: Eine junge Frau steht hier auf der Bühne, keine großkalibrige Heroine.

Die Sängerin wollte ihre Partie tiefer gelegt, der Tenor moserte ebenfalls, und der Chor war schlicht miserabel

Möglich macht es Thomas Hengelbrock, einer der erfahrensten Dirigenten der historischen Aufführungspraxis, der mit seinem Balthasar-Neumann-Ensemble die "Cavalleria rusticana" erstmals so zur Aufführung bringt, wie sie eigentlich komponiert wurde. Denn Mythen sind zwar schön, aber selten vollständig wahr: Nicht nur die Wettbewerbsjury hatte seinerzeit von Mascagni gefordert, seine ohnehin nur eineinhalbstündige Oper - es war ein Wettbewerb für Einakter - noch weiter zu kürzen. Bei der Uraufführung musste er auch erleben, was jungen Komponisten gern passiert: Die Sängerin der Santuzza forderte, ihre Partie tiefer zu legen, der Tenor wollte ebenfalls Änderungen, und der Chor war schlicht miserabel. Weil dieser viele in Harmonik und Stimmführung avantgardistische Passagen nicht singen konnte, musste Mascagni den Rotstift ansetzen. Fünfzig Jahre später segnete der Komponist, inzwischen ziemlich konservativ geworden, die so entstandene, aber letztlich verstümmelte Fassung endgültig ab, indem er sie selbst in zwei (bis heute faszinierenden) Einspielungen dirigierte.

Oper: Carolina López Moreno singt die Partie der Santuzza. Rechts: Dirigent Thomas Hengelbrock.

Carolina López Moreno singt die Partie der Santuzza. Rechts: Dirigent Thomas Hengelbrock.

(Foto: Andrea Kremper)

Hengelbrock hat jetzt nicht nur das Autograph studiert, sondern konnte auch auf Forschungsergebnisse des Bärenreiter-Verlags zurückgreifen, der momentan gemeinsam mit dem italienischen Originalverlag an der ersten historisch-kritischen Edition des Werks arbeitet. So ist im Festspielhaus Baden-Baden kein gänzlich anderes, aber doch deutlich anders gewichtetes Stück zu erleben: Vor allem der Trinkchor im zweiten Teil ist viel umfangreicher und bildet damit ein echtes Gegengewicht zum (ebenfalls längeren) Osterjubel im ersten. Der Balthasar-Neumann-Chor singt bestechend intonationsrein, schlank, aber mit Fähigkeit zu Explosion. Die tatsächlich wüste Chromatik des Trinklieds wird darüber zum bacchantischen Taumel: Katholische Sinnlichkeit antwortet auf katholischen Gottesdienst (was Hengelbrock noch unterstreicht, indem er der Aufführung das zehn Jahre frühere Credo aus der "Messa di Gloria" des jungen Giacomo Puccini voranstellt).

Die andere entscheidende Weichenstellung ist die Besetzung der Santuzza: Mit einem höheren Sopran werden sie und ihre Rivalin Lola zu echten Gegenspielerinnen, weil Mascagni Lola tatsächlich für einen leichteren Mezzosopran (in Baden-Baden: Eva Zaïcik) komponierte. Zumal Hengelbrock mit der jungen Carolina López Moreno eine echte Entdeckung gelingt. Die in Deutschland geborene, aber hierzulande bislang kaum bekannte Sopranistin hat durchaus dramatisches Potenzial, integriert geschickt auch die Tiefe, überzeugt aber vor allem durch ihre vielen verinnerlichten, ins Piano zurückgenommenen Farben - was die Rolle anrührender wirken lässt. Mag am Ende auch der Tenor sterben: Es ist das Leben einer jungen Frau, das hier eigentlich vor der Zeit endet.

Ein heiterer, südlicher Himmel scheint jetzt über der Oper zu schweben

Das jugendliche Moment wird verstärkt durch die Originalklangpraxis des Balthasar-Neumann-Orchesters, in dem die Streicher, ebenfalls noch ungewohnt bei diesem Repertoire, auf Darmsaiten spielen. Weil die Violinen nicht mit ständigem Vibrato alles überschwemmen, fällt der Grundklang zarter, gleichsam keuscher aus. Zugleich lässt er mehr Raum für die tiefen Streicher und Bläser, die die dramatischen Wirkungen kantig unterstreichen. Hengelbrock setzt die Klangcharaktere scharf gegeneinander: Ein heiterer, südlicher Himmel scheint über der Oper zu schweben, leicht und beiläufig poetisch. Im Tiefengrund dieses Dorfes aber brodelt eine ebenso beiläufige, umso grausamere Tragödie.

"Was ihr Theaterleute eure Tradition nennt, das ist eure Bequemlichkeit und Schlamperei", fluchte einst schon Gustav Mahler. Seitdem hat es sich bei vielen Werken durchgesetzt, sie tendenziell eher in der Urfassung zu spielen. Wenn im kommenden Jahr im Bärenreiter-Verlag wie angekündigt die Neuausgabe der "Cavalleria rusticana" erscheint, dann ist zu hoffen, dass in ihr endlich alles nachzulesen sein wird, was Mascagni komponiert hat. Und die Opernhäuser das bislang unbekannte Material möglichst schnell in ihre szenischen Aufführungen integrieren.

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