Cannes 2005:Wehmut am Wickeltisch

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Akin, der Name ist Fatih Akin - aber über Filme darf er nicht reden, darauf steht sozusagen die Todesstrafe. Begegnung mit einem ansonsten fröhlichen Filmjuror.

TOBIAS KNIEBE

Gel glitzert im pechschwarzen Haar, eine riesige Sonnenbrille filtert das Licht, im Ohr blitzt ein Goldring. Im Casino könnte der Mann ein junger Wilder sein, vielleicht der Sohn des großen Patrons. Oder aber ein Gigolo von der falschen Seite der Stadt, auf der Suche nach seinem weiblichen Jackpot. Doch Fatih Akin, Sohn Hamburgs, Berlinale-Bärengewinner und nun auch international respektierter Autorenfilmer, ist etwas Besseres: Mitglied der Jury in Cannes. Einer der Könige der Croisette, zehn Tage lang, zusammen mit Kollegen wie Emir Kusturica, Salma Hayek, Javier Bardem. Juroren bekommen die besten Plätze, die schönsten Tische, den Blick aufs Meer. Was aber alles nichts hilft, wenn der nächste Termin schon wieder zu knapp kalkuliert ist. Also hetzt Akin, wie jeder andere auch, schwitzend über die Croisette - und ist doch vollkommen glücklich. "Ich fühle mich wie James Bond", grinst er. "Immer im Smoking, überall schöne Frauen, und alles streng geheim."

Fatih Akin, das ist der Herr links, Sohn Hamburgs, Berlinale-Bärengewinner und nun auch international respektierter Autorenfilmer, ist etwas Besseres: Mitglied der Jury in Cannes. (Foto: Foto: dpa)

Schon verstanden: Über Filme darf er nicht reden, darauf steht sozusagen die Todesstrafe. Also muss man sich doch wieder selbst ein Urteil bilden - was oft, zum Beispiel im Fall Gus Van Sant, gar nicht so einfach ist. Das neue Werk ist der Abschluss einer Trilogie: Erst "Gerry" (die wahre Geschichte von zwei jungen Männern, die in der Wüste verloren gingen), dann "Elephant" (eine Meditation über das Highschool-Massaker von Columbine, 2003 mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet) und nun "Last Days".

Wieder geht es um ein News-Ereignis, das von den Gefahren des Jungseins handelt und ein großes Rätsel in der Welt hinterlassen hat - um den Selbstmord des Nirvana-Schmerzensmanns Kurt Cobain. Was geschah wirklich in seinen letzten Stunden? Der Film erfindet seine eigene Fiktion dazu und lässt sich doch auf keine Verschwörungstheorie ein. Der Held, gespielt von Michael Pitt, schlurft durch ein riesiges verfallenes Haus, findet eine Schrotflinte, murmelt Unverständliches vor sich hin, isst Fertignudeln, spielt ein trauriges Lied, lässt das Telefon endlos klingeln, versteckt sich vor manchen Besuchern, redet mit anderen, aber die Worte erreichen ihn trotzdem nicht mehr - und dann ist er tot.

Die Zeit vergeht oft quälend langsam, aber im letzten Stadium der Verzweiflung muss das wohl so sein; die Dinge ergeben zusammengenommen keinen Sinn, aber das ist wahrscheinlich genau der Punkt; am Ende ist alles genauso rätselhaft wie zuvor - aber etwas anderes wollte Gus Van Sant wohl auch nie behaupten. So hat man schließlich das Gefühl, Zeuge eines Abschieds geworden zu sein, dessen Grund man nicht benennen kann. Es bleibt nur der Eindruck der Isolation: All die schönen und coolen jungen Menschen, die letzte Worte mit dem Todgeweihten wechseln, sind nur an sich selbst interessiert. Diejenigen jedoch, die ihn retten könnten, schließt er gleich aus - wie die hellsichtige Frau von der Plattenfirma (gespielt von Sonic Youth-Diva Kim Gordon, im wahren Leben eine Art Ziehmutter von Cobain). Sie fragt nach seiner abwesenden Tochter, und das ist dann der schönste und zugleich traurigste Moment: Wie der Verdammte im Kinderzimmer steht, wo noch Spielsachen herumliegen, und zärtlich ein Paar Babyschuhe betrachtet, die auf dem Wickeltisch liegen geblieben sind.

Andere Filme erlauben ein schnelleres Urteil: "Bashing" von Kobayashi Masahiro ist eine erschreckende, gleichzeitig aber auch relativ kunstlose Anklage der japanischen Gesellschaft: Am Beispiel einer Frau, die nichts Böses getan hat und doch Opfer der schlimmsten öffentlichen Verachtung wird, will der Regisseur ein krasses Exempel statuieren - und ordnet alles andere unter.

"Where The Truth Lies" von Atom Egoyan ist die erste böse Enttäuschung eines großen Cannes-Namens: Es geht um ein geheimnisvolles Verbrechen aus den fünfziger Jahren, dessen Auflösung einen schon bald gar nicht mehr interessiert; Colin Firth und Kevin Bacon spielen Entertainer, die Rat-Pack-Flair auf die Bühne bringen sollen und daran kläglich scheitern; die Hauptdarstellerin muss sich ständig ausziehen und hat erkennbar überhaupt kein Talent - man fragt sich, was in den Regisseur gefahren ist, der zum Beispiel mit "Exotica" schon einmal ein dunkel pulsierendes erotisches Meisterwerk geschaffen hat. Hier inszeniert er konventionell wie noch nie und begibt sich damit auf Abwege, die geradewegs in die Mitternachts-Softsexschiene des Privatfernsehens münden.

Naturgemäß außer Konkurrenz läuft dann Fatih Akins eigener Film, die Musikdokumentation "Crossing the Bridge", eine Feier des musikalischen Hotspots und Schmelztiegels Istanbul. Hat er auf eine Teilnahme im Wettbewerb verzichtet, damit er Juror werden konnte? Nein, es war genau andersherum, erzählt Akin, zieht sein Sakko aus und beschließt, den Rest des Weges auf der Croisette im braunen Muskelshirt zurückzulegen. "Ich habe den Leuten in Cannes gleich gesagt: Der Film ist zu intim, zu persönlich für den Wettbewerb." Am Anfang wollte Festivalchef Thierry Frémaux das nicht glauben, aber schließlich war er mit einer Sondervorführung einverstanden. Dann kam das Angebot, Juror zu werden.

So wie Akin jetzt von Cannes schwärmt, schwärmt er in seinem Film von Istanbul - oder besser gesagt, er überlässt das Schwärmen seinem Alter ego, dem deutschen Musiker und Soundbastler Alexander Hacke. Der quartiert sich im "Grand Hotel de Londres" ein, jede Menge Aufnahmegeräte im Gepäck, und führt die Zuschauer durch eine wahre Kakophonie von nie gehörten Klängen: Psychedelic Rock, Grunge, Electro, HipHop - all das findet inzwischen auch auf Türkisch statt, ein einziges west-östliches Crossover. Und immer wieder hört man die Sehnsucht durch, die Wurzel dieser ganzen Musik: Wenn die Straßenmusiker von einer besseren Zukunft träumen oder die Kurden von der Freiheit ihrer Kultur.

Die ersten Treffen mit seinen Jurykollegen, sagt Akin zum Abschied, seien sehr angenehm ausgefallen: "Nette, aber vor allem intelligente Leute. Alle haben ihre Egos erstaunlich gut im Griff, niemand muss auf berühmt und wichtig machen." Das Familiengefühl, das seine Arbeit und seine Produktionsweise bestimmt, lässt sich anscheinend auch bruchlos auf das Festival in Cannes übertragen, die ersten neuen Freunde sind schon gewonnen. Zum Beispiel? "Ein toller Typ namens Pierre, den Nachnamen hab ich vergessen. Er ist der französische Produzent von Kusturica, und er bringt noch einen alten Kumpel auf unsere Party mit: Dennis Hopper." Spricht's, grinst wie ein junger Wilder, der gerade den Jackpot geknackt hat - und ist im Gewühl des Palais verschwunden.

© SZ v. 14./15.05 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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