Cannes: "Tree of Life":Schönheit und Überwältigung

Eine halbe Ewigkeit warten die Cineasten der Welt schon, um endlich diesen Film zu sehen: Terrence Malicks "Tree of Life" mit Brad Pitt als engstirnigem Quadratkinn, Sean Penn als seinem Sohn - und umwerfenden Bildern.

Tobias Kniebe

Selten ist die Frühvorstellung von Cannes, zu der man stets übernächtigt heranhetzt, die verquollenen Augen zu Schlitzen verengt, so umlagert wie an diesem Montagmorgen. Als der Ansturm zu groß wird, werden vorzeitig die Türen verrammelt.

Eine halbe Ewigkeit warten sie nun, die Cineasten der Welt, um endlich diesen Film zu sehen. Fast glaubt man nicht mehr, dass es ihn gibt - bis die Unruhe im Saal sich legt und ein Zitat aus dem Buch Hiob auf der schwarzen Leinwand aufleuchtet: "Wo warst du, da ich die Erde gründete? Sage an, bist du so klug!"

"Tree of Life" ist die fünfte Spielfilmregie in der Karriere des Meisterregisseurs Terrence Malick, die nun schon beinah einen Zeitraum von etwa vierzig Jahren umfasst. Nach "Badlands" und "Days of Heaven", beide längst Klassiker der Seventies, zog er sich als öffentliche Figur nahezu vollständig zurück - und aus dem Kino für zwanzig Jahre, bis er mit "Der schmale Grat/The Thin Red Line" im Jahr 1998 zurückkehrte.

Seither kam nur noch "The New World" - und 2008 dann die Nachricht, dass er in Texas ein neues Werk mit Brad Pitt, Sean Penn und Jessica Chastain abgedreht habe und demnächst auf einem großen Festival präsentieren werde. Was dann ein Jahr danach nicht geschehen war, und zwei Jahre später immer noch nicht - bis jetzt.

Eine rothaarige Frau im Gegenlicht, leuchtend wie Alabaster ihre weiße Haut. Sonnenflackern durch Eichenlaub, geflüsterte Worte, Kleidung, Autos, Gesichter der fünfziger Jahre. Ein Traum, eine Erinnerung, die fast keine Erklärung und nur wenige Dialoge braucht - das machen schon diese Bilder klar: unverkennbare Malick-Bilder auf den ersten Blick.

Eine Vorortidylle, aber nicht chrom- und plastikbunt, sondern wie in einen lichten Märchenwald hineingebaut. Drei Jungs rennen herum, der Wind spielt mit dem Kleid ihrer Mutter, und Brad Pitt, der Vater, schaut ein wenig verloren. Glückliche, schon vergangene Tage?

Es muss wohl so sein, denn eine Todesnachricht kommt, ein Sohn ist gestorben, was nicht weiter erklärt wird. Doch Fragen stehen jetzt im Raum, nach Gott und seiner Gnade, nach der Natur und ihrer Grausamkeit. Sie treiben auch den Ältesten um, Sean Penn, nun erwachsen, auch er verloren, diesmal zwischen den Glastürmen von Corporate America.

Und dann, als wechsle hier eine Symphonie in die Subdominante, fluten auf einmal Farben die Leinwand und Choräle den Saal, Formen leuchten auf und verglühen, fließen zusammen und wieder auseinander, entstehen und vergehen. Unmöglich zu sagen, was das alles sein könnte, mutierende Mikroben, explodierende Sonnen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum ein Teil des Publikums in heftige Buh-Rufe ausbricht.

Mit besten Absichten

Aber man spürt, wie einem vor Schönheit die Augen übergehen, und ganz unvermeidlich denkt man sofort an Stanley Kubrick und seine Odyssee im Weltraum, an einen Trip zu den letzten Dingen. Das ist nicht falsch, genau darum geht es hier - auch in der Größe der Bilder und der Ambition des ganzen Films. Am bewegendsten ist diese Schönheit, so lange sie ganz für sich steht - so lange man noch nicht deuten kann, was man da sieht.

Überhaupt die Schönheit - vielleicht ist das der Ansatzpunkt. Martin Scorsese hat einmal über "Days of Heaven" gesagt, er wolle am liebsten jedes einzelne Bild von Malicks Filmen gerahmt ins Museum hängen. Aber reicht das, auch heute noch?

Nach tausend High-Definition-Helikopterflügen über alle Wunder dieser Erde, nach dem ganzen Schärfefetischismus und Retuschewahn der Werbe- und Kalenderfotografie? Terrence Malick jedenfalls will sich da nichts verbieten lassen, sein Kameramann Emmanuel Lubezki macht auch genau solche Bilder für ihn, Quallen und Hammerhaie, Vogelschwärme und Wasserfälle, mehr und immer mehr - und was für welche! Und dazu lässt der Regisseur einmal - neben Bach, Brahms, Berlioz, Mahler, Gorecki - sogar Smetanas "Moldau" dröhnen.

Man spürt in diesem Moment, wie er einen Teil des Publikums verliert - jene, die am Ende in heftige Buhrufe ausbrechen werden. Denn so viel unreflektierte Schönheit, das darf man nicht mehr. Oder doch?

So wie Malick seit vielen Filmen davon träumt, der Zivilisation in Richtung Natur zu entkommen und dem Menschen in seiner Gewaltbereitschaft und Zerstörungswut - genauso träumt er von einer Zeit, als die schönsten Bilder noch nicht von schlechtesten Absichten kontaminiert waren, und noch nicht mit dieser Wut betrachtet wurden.

Wollte man Terrence Malick also einen großen Naiven nennen, ließe sich in "Tree of Life" noch manches zur Beweisaufnahme anmelden. Die tranceartige Evolutionsgeschichte, die er erzählt, wird zum Beispiel doch sehr explizit - wenn etwa, wie aus Spielbergs Hobbykeller entflohen, digitale Saurier auftauchen; oder wenn Malick eine metaphysische Konkurrenz zwischen Darwinismus und Glauben aufmacht und ganz klassisch auf Vater und Mutter als Protagonisten verteilt, um dann beides wieder in einer Art Naturreligion zu versöhnen; wenn er schließlich die Psychologie der Familiengeschichte in Waco, Texas, seiner Geburtsstadt, ausformuliert - wo die ungelebten Träume des Vaters (Brad Pitt als überzeugend engstirniges Quadratkinn) sich in einer Strenge niederschlagen, die in dem Sohn, der später Sean Penn werden wird, seinerseits Zerstörung anrichtet und Gewalt produziert.

Es ist schon wahr: Neu und aufregend ist an diesen Ideen nichts, und einem anderen Regisseur würde man das alles auch kaum verzeihen. Es drückt aber doch vor allem aus, wie schwer sich dieser Künstler ganz generell mit Geschichten tut, die Begründungen finden und Sinn produzieren sollen.

Schon Malicks Abschlussarbeit in Oxford - über Kierkegaard, Heidegger, Wittgenstein - wurde nie vollendet. Eigentlich hat man immer das Gefühl, dass es eher Goethe ist, dem er sich anvertrauen will - und dessen Idee eines Augenmenschen, der sich selbst genug ist: zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt.

Als Brad Pitt schließlich zusammenbricht und seine Irrwege einsieht, ist es genau das, was er sagt - dass er all die Schönheit um sich herum ignoriert und missachtet habe, schlimmer noch: entehrt.

Das ist dann wieder sehr bewegend - und in diesem Moment beschließt man selbst, dass man doch lieber anders sein möchte: Dass man den eigenen zynischen Blick auch einmal überwinden kann; dass man sich der Schönheit ganz einfach hingeben möchte, wenn sie denn so gewaltig über einen kommt wie in diesem Film; und dass man Augen nicht mehr zu genervten Schlitzen verengen wird, wenn einen draußen vor dem Kino wieder die phantastische Sonne der Riviera begrüßt.

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