Cannes 2005:Der Alltag der Monster

Im Kino ist weniger eben manchmal mehr. Das gilt für Erotik und für Gewalt. Aber warum nur gehen so viele Filme in diesem Cannes-Jahrgang davon aus, dass die Grenze zwischen Mensch und Monster immer leicht zu überschreiten ist?

SUSAN VAHABZADEH

Cannes ist ja nicht wirklich eine schöne Stadt, und wenn es in Strömen gießt und kein Sonnenstrahl über die Bausünden hinwegtäuscht, das Schmuddelwetter alles noch ein bisschen schmuddeliger aussehen lässt, müssen die Filme den Weg durch den Regen schon wert sein, sonst kippt die Stimmung ins Aggressive.

Cannes 2005: Bruce Willis und Michael Madsen in "Sin City"

Bruce Willis und Michael Madsen in "Sin City"

(Foto: Foto: afp)

Zum Aggressionsabbau ist das Kino manchmal der richtige Ort, selbst wenn an der schlechten Stimmung andere Filme schuld sind. Gewalt auf der Leinwand kann sehr kathartisch sein - wenn es sich beispielsweise um eine der Phantasie vorbehaltene exzessive Welt handelt, in der einem zwei Stunden lang die Ohren durchgepustet werden.

Einer, der diese Art von Kino beherrscht, ist Robert Rodriguez, der zwischen seinen Gewaltorgien gerne mal einen Kinderfilm inszeniert - von ihm ist die "Spy Kids"-Reihe - und einen so lammfrommen Eindruck macht, als würden Filme wie "Desperado" und "Once Upon a Time in Mexico" vor allem seine eigene Seele gründlich reinigen.

Mit Frank Miller hat er dessen Comic-Roman "Sin City" verfilmt, Episoden aus einer surrealen Schwarzweiß-Stadt, die von gewalttätigen, nur menschenähnlichen Gestalten bevölkert ist - rot wird es nur, wenn das Blut spritzt.

Das ist auf jeden Fall sehr kunstvoll gemacht, und die Bilder bleiben in der Erinnerung noch graphischer haften, als sie tatsächlich gewesen sind. Elijah Wood als irrer Prostituiertenkannibale und Bruce Willis als Schlächter im Namen der Gerechtigkeit, eine von Tarantino als Gast inszenierte Sequenz mit Benicio Del Toro als gesprächiger Leiche sind tatsächlich so absurd, als dass die Szenen als Alptraummaterial taugen könnten - vorausgesetzt, man hat ein ausreichend abgehärtetes Hirn.

Im vergangenen Jahr hatte der Wettbewerb so viel Gemetzel zu bieten, dass man den Verdacht hatte, die Auswahl sei dem Jurypräsidenten Tarantino zu Ehren gemacht worden - aber Kusturica und John Woo sind auch nicht gerade zimperlich, und Salma Hayek, die in vielen Rodriguez-Filmen mitgespielt hat, kann es eigentlich auch nicht sein.

Es heißt also auch in diesem Jahr: Cannes brutal. Ein stilisierter Comic-Exzess wie "Sin City" wirkt dabei lang nicht so verstörend wie die permanenten Gewaltausbrüche in Filmen, die in realen Räumen spielen und sich dazu noch bierernst nehmen.

Das gilt beispielsweise für den chinesischen Wettbewerbsbeitrag "Shanghai Dreams" von Wang Xiaoshuai, der ein wenig langatmig ist, aber ganz schön - es geht um eine Familie aus Shanghai, die in die Provinz geschickt wurde, und weil der Vater unbedingt zurück nach Hause will, terrorisiert er seine Tochter, die auf die Uni in der Stadt soll, statt sich in einen Jungen aus dem Dorf zu verlieben, bis das arme Mädchen vor Verzweiflung das Essen einstellt.

Als sie sich am Ende durchringt, ihrem Vater zu gehorchen, und dem Freund eröffnet, dass sie wirklich nicht mehr mit ihm zusammen sein will - da wird der liebe Junge binnen Sekunden zum Tier und vergewaltigt sie.

Warum so viele Filme, zumindest in diesem Cannes-Jahrgang, davon ausgehen, dass die Grenze zwischen Mensch und Monster so fein gezogen ist und so leicht zu überschreiten? Vielleicht spiegelt das Kino eine von Angst und Misstrauen gesteuerte Welt. Aber es scheint die Panik eher zu befeuern als mit ihr umzugehen - das tut dann eher Rodriguez, wenn er Gewalt als absurd darstellt. Nehmen wir mal James Marshs Regiedebüt "The King", das in "Un certain regard" gezeigt wurde: Da spielt Gael García Bernal einen Jungen, der aus der Marine entlassen wird und nach Corpus Christi fährt - dort ist der Mann, von dem ihm seine Mutter erzählt hat, er sei sein Vater, Prediger. Er sucht diesen Mann auf - William Hurt, der auch bei Cronenbergs "History of Violence" dabei ist, spielt ihn - und wird erst mal weggeschickt, weil Daddy inzwischen die Bigotterie und das Christentum für sich entdeckt hat und den Familienfrieden nicht stören will. Was den Jungen nicht hindert, seine Halbschwester zu schwängern und, obwohl er inzwischen aufgenommen wurde im Haus des Vaters, fast die ganze Familie auszurotten. All das macht Bernal mit einem charmanten Lächeln und reuefrei.

Sind Menschen, die vor ihrer Eruption keinerlei Anzeichen von Gewalttätigkeit zeigen, tatsächlich alltäglich?

Wenn man in Cannes oft genug im Kino war, wirken diese Ausbrüche so normal, dass man sich in "L'enfant" von den Dardenne-Brüdern geradezu wundert, wenn der Held seine Freundin nicht verprügelt, als sie ihn aus der Wohnung wirft.

Suggestiv kommt ein Küchenmesser ins Spiel in diesem Gerangel, das aber nicht benutzt wird - offensichtlich sind sich die Dardennes bewusst, wie besonders physische Zurückhaltung inzwischen im Kino ist. Zumindest was Gewaltausbrüche betrifft, haben sich die Brüder Arnaud und Jean-Marie Larrieu in Zurückhaltung geübt mit dem Wettbewerbsbeitrag "Peindre et faire l'amour".

Daniel Auteuil und Sabine Azéma spielen ein Ehepaar, das aufs Land zieht und sich vom neuen Haus ganz erotisiert fühlt. Eine glatt inszenierte, krude Story, aber vielleicht muss man schon froh sein, dass sie nicht in ein blutiges Eifersuchtsdrama mündet: In der ersten Hälfte plätschert das extrem beschaulich dahin, und dann wird - auch das völlig unmotiviert - eine frivole Exkursion in Sachen Partnertausch daraus.

Es knistert allerdings nie so stark wie in der Szene aus "La grande illusion" von 1937 davor - vor manchen Wettbewerbsfilmen werden kleine Renoir-Appetithäppchen gereicht: Soldaten wühlen in einer Kiste mit Frauenkleidern und geraten dabei in hormonellen Aufruhr, halten genüsslich die Kleidchen hoch und packen seufzend schwarze Seidenstrümpfe aus. Im Kino ist weniger eben manchmal mehr. Das gilt für Erotik und für Gewalt.

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