"Call Me By Your Name" im Kino:Nichts zu fühlen, wäre Verschwendung

"Call Me By Your Name" im Kino: Auf die Frage seines Schwarms Oliver, was man hier so treibe, antwortet der junge Elio: "Warten, dass der Sommer vorübergeht."

Auf die Frage seines Schwarms Oliver, was man hier so treibe, antwortet der junge Elio: "Warten, dass der Sommer vorübergeht."

(Foto: AP)

"Call Me By Your Name" ist völlig zu Recht ein Oscarkandidat. Der Film beschwört eine erste schwule Liebe so feinfühlig, dass die Szenen immer wieder wie eigene Erinnerungen wirken.

Von Annett Scheffel

Ganz am Ende, nachdem sich die flirrenden Farben und die vielen flüchtigen, sinnlichen Momente einer Sommerliebe beim Zuschauer schon eingebrannt haben wie ein Sonnenstich, ist es ausgerechnet eine ganz simple Szene, die den Film "Call Me By Your Name" in seiner ganzen fein austarierten Wucht auf den Punkt bringt.

Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn, das rührendste und aufrichtigste vielleicht, das man in diesem Jahr auf der Kinoleinwand sehen wird.

Da sitzt Professor Perlman, gespielt von Michael Stuhlbarg, auf einem Sofa im milden Abendlicht. Neben ihm sein 17-jähriger Sohn Elio (Timothée Chalamet), in den Augen noch glasige Verzweiflung, weil er gerade seine erste Liebe am Bahnhof verabschiedet hat. Der Vater hält einen Monolog - nicht nur für Elio, sondern für alle schwulen, verwirrten und verletzten Heranwachsenden der Welt. Über die Liebe und Freundschaft und die Brutalität unterdrückter Gefühle. "Nichts zu fühlen, was für eine Verschwendung!"

Es ist genau die Art von Ansprache, die sonst leicht in klebrige Rührseligkeit kippen kann. Sie stammt aus der Buchvorlage des Films, dem gleichnamigen Roman von André Aciman (deutscher Titel: "Ruf mich bei deinem Namen") - und in Guadagninos verhaltener Inszenierung treffen diese Worte exakt den Ton des Buchs. Der Film sagt alles über die erste Liebe, ohne zu viel zu erzählen. Und ohne zu buchstäblich zu sein.

Im Rennen um die Oscars hat "Call Me By Your Name", der letztes Jahr auf der Berlinale gezeigt wurde, deswegen sogar hervorragende Aussichten auf den Hauptpreis. Es geht um die Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Männern im heißen, sonnendurchfluteten Sommer 1983. Wie jedes Jahr vergehen die Tage für Elio und seine Eltern auf ihrem norditalienischen Landsitz in gemächlichem Tempo. Und wie jedes Jahr hat sich der Vater, Professor für Archäologie, einen Doktoranden als Sommergast eingeladen, der ihm bei seinen Forschungen helfen soll.

Der junge, charmante Amerikaner Oliver (Armie Hammer) ist sieben Jahre älter als Elio - und liegt damit genau am anderen Ende jener nachhaltig prägenden Coming-of-Age-Jahre, von denen hier mit rückhaltloser Zärtlichkeit erzählt wird. Elio beobachtet Oliver argwöhnisch, sucht aber immer wieder seine Nähe. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Amour fou - langsam und in einer langen Aneinanderreihung von subtilen Gesten und Blicken.

Der Film ist schwules Kino, aber auch mehr - er erzählt von der ersten Liebe im Allgemeinen

Dass Guadagninos Werk dabei nicht einfach nur ein strahlendes Beispiel für das schwule Kino ist, sondern ein sinnlich texturierter Film über die erste Liebe im Allgemeinen, liegt an der Leichtigkeit und Geduld, mit der er die widersprüchlichen Gefühle und Verhaltensweisen seiner Protagonisten zeigt. Guadagnino hat ein feines Gespür für die Bewegungen und Gegenbewegungen der heimlich Verliebten, und die Kamera von Sayombhu Mukdeeprom fängt sie in vorsichtiger Annäherung von Totalen zu Halbnahen und wenigen Großaufnahmen ein.

Aus jeder Einstellung quillt der Sommer

Im wunderbar sinnlichen Spiel der beiden Hauptdarsteller sehen wir den wilden Wirbel aus Zögern, Begehren und narzisstischen Spiegelungen, die stille Verwirrung und die Überschwänglichkeit des ersten Mals. Als die beiden nach einer gemeinsamen Fahrradtour in der Abgeschiedenheit einer ländlichen Wiese endlich den ersten Kuss austauschen, greift Elio im Taumel der Gefühle Oliver unvermutet in den Schritt. Die Szene lässt beide Männer erstaunt zurück - über das eigene Verhalten und über das des anderen.

Mehr als eine Stunde ist bis zu diesem ersten Moment der körperlichen Intimität bereits vergangen. Das ist das Besondere an diesem Film: Er lässt sich selbst und seinen Zuschauern viel Zeit, öffnet den Raum für alle Zwischentöne. Ebenso stark ist der Eindruck, den die wunderschöne Trägheit dieser Tage hinterlässt: Flimmernd und weiß gleißend und begleitet vom Konzert der Grillen quillt der Sommer aus jeder Einstellung, jedem leuchtenden 35-mm-Bild, jeder Pore des Films. Was man denn hier so treibe, fragt Oliver zu Beginn des Films, und Elio antwortet: "Warten, dass der Sommer vorübergeht."

Angefüllt ist diese Zeit mit Augenblicken, die sich einprägen wie eine eigene, ferne Erinnerung: das Schwimmengehen im nahen Fluss, die allabendlichen Dinner unter den Obstbäumen, die Diskussionen über Buñuel, Heidegger und mittelalterliche Gedichte, der Synthiepop von Giorgio Moroder in der Dorfdisco.

Guadagnino erlaubt sich dafür über lange Strecken eine Art Schwebezustand zwischen narrativen Abschweifungen und retardierenden Momenten: Elio, der gelangweilt durch die große Villa aus dem 17. Jahrhundert streift, Bücher liest und am Klavier klassische Stücke von Bach oder Ravel übt. Sein Vater, der seinem Doktoranden - in einem homoerotischen Moment der Vorahnung - die kühlen, glatten Männerkörper antiker Statuen erörtert: "Sie sind durch ihre zeitlose Ambiguität so ungehemmt, als würden sie uns herausfordern, sie zu begehren." Und immer wieder ist es die Landschaft im mediterranen Licht, die mit ihren sinnlich geschwungenen Feldwegen die Windungen der sich anbahnenden Liebesbeziehung nachzuempfinden scheint.

Besonders Timothée Chalamet überzeugt dabei mit der stummen Wildheit seiner Darstellung. Neben ihm und Armie Hammer spielen aber vor allem auch die saftigen Pfirsiche in den Obstbäumen, zu denen der Blick der Kamera immer wieder zurückkehrt, eine Hauptrolle: erst noch auf der metaphorischen Ebene eines Intellektuellengesprächs, in dessen Verlauf Oliver den etymologischen Ursprung des Wortes "Pfirsich" herleitet. Und dann später in sehr viel expliziterer Weise: In einer berühmten, ebenfalls aus Acimans Roman übernommenen Szene masturbiert Elio in einer Mischung aus Lust und Verzweiflung mit einem ausgehöhlten Pfirsich.

Sogar hier gelingt es Guadagnino, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, das "Call Me By Your Name" zu einem Meisterwerk der Feinfühligkeit macht. Sein Blick ist aufrichtig und zugleich aufs Höchste stilisiert. Er sucht die Erotik zwischen den Männern, ohne explizit zu sein. Und in alldem findet er eine Wahrheit über die Liebe, die wir alle verstehen: Nichts zu fühlen, wäre Verschwendung.

Call Me By Your Name, F/I/USA/Br 2017 - Regie: Luca Guadagnino. Buch: Guadagnino, J. Ivory, W. Fasano. Kamera: Sayombhu Mukdeeprom. Mit: Timothée Chalamet, Armie Hammer. Sony, 132 Min.

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