Bücher zur Privatsphäre:Löschen nicht vorgesehen

Terrorangst und abstrakte Gefährdungslage: Der Soziologe Wolfgang Sofsky und der Datenschutzbeauftragte Peter Schaar sehen die Privatsphäre akut bedroht. Über die deutsche Angst vor dem Überwachungsapparat.

Johan Schloemann

Zwei Finger, ein sanfter Druck: Alt-F4. Das ist die Tastenkombination, mit der man im Computer-Betriebssystem "Windows" Programme beenden kann. Durch die Straßen von Berlin ziehen jetzt Menschen, die "Alt-F4" auf ihre Brust gedruckt haben. Sie demonstrieren damit für den Abbruch des Vorhabens, jene Verbindungsdaten für längere Zeit elektronisch zu speichern, welche wir alle mit unseren Bewegungen im Internet und unseren Telefongesprächen hinterlassen.

Verteidigung des Privaten

Wolfgang Sofsky, Verteidigung des Privaten, Eine Streitschrift. Verlag C. H. Beck, München 2007. 158 Seiten, 14,90 Euro.

(Foto: Foto: C.H.Beck)

Der Sicherheitsapparat, so scheint es, kennt den Aus-Knopf, kennt die Löschtaste nicht. Mit immer größeren Einsichts- und Vorratsmaschinen drängt er, wie man schaudernd bei Michel Foucault liest, zur "infinitesimalen Kontrolle, welche die oberflächlichsten und flüchtigsten Erscheinungen des Gesellschaftskörpers zu erfassen sucht". Das Aggregieren von Daten und von immer neuen Ermittlungsbefugnissen wirkt zwanghaft. Die Massen von Informationen, die die Behörden über uns sammeln, türmen sich offenbar mit eigener Dynamik zu eben der "abstrakten Gefährdungslage" auf, zu deren Bewältigung sie eigentlich dienen sollen.

Auch die Künste bilden die dauernde Beobachtung immer öfter in düsteren Szenarien ab: Auf dem Theater wird gerade Juli Zehs Stück "Corpus Delicti" gegeben, in dem sich das Land in eine alles sehende genetische Gesundheitsdiktatur verwandelt. Und einer der wichtigen Herbstromane, "Teil der Lösung" von Ulrich Peltzer, handelt auch von dem Unbehagen unter den Augen der Videokameras, von dem Willen und der Unmöglichkeit, der allgegenwärtigen Aufsicht und Spitzelei zu entkommen.

Herrschaft kraft Wissen

Die Sorge um die preiszugebende Privatheit ist groß. In Deutschland kommt sie traditionell zu besonderer Entfaltung. Zwar hinterlassen heute viele ganz unbedacht, wo es zur Bewältigung des Alltags bequem ist, allerlei Spuren, wenn sie am Computer einkaufen oder auf Kundenkarten Punkte sammeln, oder sie machen bereitwillig Intimes öffentlich; und nicht wiederholbar scheint die kollektive Hysterie anlässlich der Volkszählung in der Bundesrepublik von 1983, eine Überwachungshysterie, die damals mit der apokalyptischen Untergangsgier angesichts von Waldsterben und Atomraketen einherging und die sich auch in dem nachfolgenden Urteil des Bundesverfassungsgerichtes niederschlug.

Aber bei allen Stimmungsschwankungen - es bleibt doch jedenfalls in einer Mehrheit der Mittelschichten und der Meinungsmacher das Gefühl konstant aktivierbar, dass überall stets die Schnüffelei drohe, wo man den Bürger eigentlich in Ruhe lassen müsste. Dieses Gefühl hängt an einer historischen Assoziationskette, die etwa so geht: Metternich, Gestapo, IBM-Lochkarten für den Holocaust, Stasi, Berufsverbote für RAF-Sympathisanten, Lauschangriff. Die Kette ist in den letzten Jahren mit aktuellen Elementen ergänzt und erneuert worden: Guantanamo, Wolfgang Schäuble.

Diese verbreitete Anschauung ist ganz auf einen Punkt ausgerichtet. In seiner Nähe mag es vielleicht, etwas verschwommener zu sehen, auch andere ungute Akteure geben, wie Google oder Microsoft. Die zentrale Gefahr indes ist immer deutlich sichtbar, und sie hat hierzulande einen festen Namen. Der Name lautet: "der Staat".

Dieses Gebilde wird streng obrigkeitlich gedacht, als vollständig von der Gesellschaft getrennter Komplex; es ist der Thomas-Hobbes-Staat von Schutz und Gehorsam, entwickelt zum Max-Weber-Staat von immer wachsender bürokratischer Machtfülle - "Herrschaft kraft Wissen". Der Rechtsstaat kann nach diesem Verständnis, trotz der Namensverwandtschaft, nur als Gegenspieler jenes Komplexes aufgefasst werden. In einem jetzt publizierten, im Mai 2001 gehaltenen Vortrag des Verfassungsrichters Winfried Hassemer kann man knapp nachlesen, wo dieses Denken, auch meilenweit von allen Revolutionen und Verfassungsstiftungen entfernt, seinen tiefen Anker hat ("Staat, Sicherheit und Information?", in: Erscheinungsformen des modernen Rechts, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2007. 263 Seiten, 39 Euro).

Ein eigener Bedrohungs-Sound

Ein "Grundrecht auf Sicherheit", von dem Josef Isensee in seinem gleichnamigen Buch von 1983 sprach, "dreht den Spieß um", schreibt Hassemer. Denn: "Die Grundrechte galten der liberalen Tradition, die Verfassung zu verstehen, als Abwehrrechte, und zwar gegen den Leviathan, den übermächtigen Staat, der die Menschen zugleich nährte und bedrohte. Der Staat und niemand sonst war die Gefahr, die es in den Texten zu beschwören und im Alltag zu bändigen galt, er war es, der die Freiheitsräume der Bürgerinnen und Bürger gefährdete und beschränkte durch Machtlust, Ordnungsfanatismus, Neugierde oder blinden Unterwerfungseifer, ihm gegenüber galt es, auf der Hut zu sein."

Es gibt nun zwei neue Bücher, die vorzügliches Anschauungsmaterial dafür darstellen, aus welchen verschiedenen Richtungen dieses deutsche Warnen kommen kann. Das eine ist der Standpunkt des Reaktionärs, das andere derjenige des wackeren Amtmannes im Dienste des Rechtsstaates. Der Reaktionär ist der Soziologe Wolfgang Sofsky, der über die Jahre mit einiger Virtuosität seinen eigenen Bedrohungs-Sound entwickelt hat, ein Staccato unerbittlicher Fakten, das beim Leser ein wohliges Gruseln schafft.

Der Amtmann ist der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Peter Schaar, der tüchtig die neuesten technischen Möglichkeiten, das Verhalten der Behörden in der Terrorismusbekämpfung und die übrigen Felder seiner Zuständigkeit durchmustert. Beide Bücher konstatieren maßlose Überwachung. Beide sehen die Privatsphäre substantiell bedroht. Beide betrachten die Gefahr mehr oder weniger unabhängig von der demokratischen Verfasstheit des Landes.

Wolfgang Sofsky lässt sich leiten von einem schranken- und verantwortungslosen Eigenbrötler-Liberalismus. Daraus ergibt sich eine systemunabhängige Zuspitzung klassischer Herrschaftssoziologie. Die "Geschichte der Repression", schreibt er, sei "mitnichten zu Ende": "Der Staat ist eine Einrichtung zur Beherrschung der Bürger." Er spricht von der "heutigen Macht" und ihrem "Argwohn gegenüber den Untertanen" und stellt fest: "Fern jedes moralischen Fortschritts kennt die Entwicklung des Staates nur eine Richtung: Vorwärts in der Entmündigung und Enteignung der Bürger!" Dem steht die Privatheit gegenüber, seine "Zitadelle der Freiheit", sein "machtfreies Terrain, das einzig der Regie des Individuums unterliegt".

Also verbittet sich Sofksy die Einmischung - das "Heer der Eindringlinge". Die "rapide Ausdehnung der Überwachung" sieht er parallel zur Erhebung von Steuern: "Der Lohn der Arbeit wird beschnitten, das Einkommen geschröpft, der Gewinn abgeschöpft." Dabei will man sich mit seinem Privateigentum doch "die Gesellschaft ein Stück weit vom Leibe halten"! Und was bekommt man stattdessen für seine Steuern? "Die einzige Gegenleistung, deren sich der Steuerbürger sicher sein kann, ist das Wachstum staatlicher Verwaltung und parastaatlicher Schalt- und Regelzentralen." Die einzige! Und noch mehr: Die Besteuerung von Arbeit, heißt es in dem Kapitel für den Bund der Steuerzahler, sei "eine Art verdeckter Zwangsarbeit".

Löschen nicht vorgesehen

So geht das weiter. Eingriff ins Bankgeheimnis, "prohibitive Tendenzen" der Gesundheits- und Sozialpolitik, Wissbegier des Sozialstaats ("Gerechtigkeit führt unweigerlich zur Erosion des Privaten"), Videoüberwachung, "Gedankenpolitik" zugunsten von politisch korrektem Sprachgebrauch, also "sanfter und gesetzestreuer Totalitarismus" - alles Teufelszeug für diesen radikalen Datenschützer. "Der gläserne Bürger ist nur das vorläufig letzte Modell politischer Herrschaft." Auch "Gerüche und Ausscheidungen fremder Körper" und Mobiltelefone sind Sofksy übrigens zuwider, und so bleibt ihm, lesen wir als Fazit, "nur die persönliche Revolution der Individuen". Na, bei einer solchen Privatgelehrtenrevolution wäre man doch gerne mal dabei. Wir sind sicher: In den eigenen vier Wänden wird der Soziologe auch mal zum Tier!

Ende der Privatsphäre

Peter Schaar, Das Ende der Privatsphäre, Der Weg in die Überwachungsgesellschaft. C. Bertelsmann Verlag, München 2007. 255 Seiten, 14,95 Euro.

(Foto: Foto: C.Bertelsmann)

Zivil und sachlich kommt, im Vergleich damit, der amtliche Datenschützer daher. Man lernt manches über die Ermittlungspraxis der Sicherheitsbehörden, über die Zunahme präventiver Verbrechensbekämpfung und die Arbeit der Datenschützer, über die Vermengung des Privaten mit der Öffentlichkeit, die vor Jahren Richard Sennett beschrieb. Doch auch Peter Schaar treibt die Obsession, dass die Behörden grundsätzlich nur Böses wollten, in die groteske Übertreibung der Verhältnisse.

So schreibt er: "Wenn unser gesamter Alltag registriert wird, schrumpfen die privaten Refugien immer weiter zusammen, in denen wir nicht beobachtet sind und uns unbefangen verhalten." Dieses beklemmende Bild entspricht jedoch überhaupt nicht der hiesigen Wirklichkeit. Gewiss, der Computer kann, soweit vernetzt, nie vollständig privat sein - aber die Möglichkeiten, in der Badewanne seinen Gedanken nachzugehen, auf einem langen Spaziergang ein Gespräch worüber auch immer zu führen oder auf dem Wohnzimmerteppich fernöstliche Meditationsübungen zu machen, diese Möglichkeiten sind doch in den vergangenen Jahren in Deutschland keineswegs geringer geworden!

Schaar möchte "das Bankgeheimnis - wie in unseren südlichen Nachbarländern - unter gesetzlichen Schutz stellen". Das heißt: Der Bundesbeauftragte fordert den Schutz von Verbrecherkonten nach bewährtem Schweizer Modell. Natürlich findet Schaar auch "die Einführung einheitlicher Steuernummern, die mit der Geburt vergeben werden und jeden Einzelnen sein Leben lang begleiten sollen, sehr bedenklich". Aber warum eigentlich?

Es gibt Länder, in denen es eine solche Personennummer schon seit Jahrzehnten gibt; in denen man mit derselben Plastikkarte zum Arzt und in die Stadtbibliothek geht; in denen man gar die Finanzverhältnisse des Nachbarn in der Behörde erfragen kann. Und dies sind europäische Länder, deren Erfolg als demokratische, tolerante und wohlhabende Sozialstaaten ebenfalls seit Jahrzehnten bewundert wird. Übrigens zeigt Schaar, wie Sofsky, mit Recht auf, dass ein umfassender Sozialstaat und ein umfassender Datenschutz nicht miteinander vereinbar sind.

Zwei anklagende Bürger

Der expandierende Sozialstaat nämlich kann gar nicht genug Kontrolle über den Bürger haben - er muss für die lückenlose Umverteilung penibel auf Spekulationsgewinne, auf Schwarzarbeit im Privathaushalt und Ähnliches blicken. Sofern man also unter "Rechtsstaat" versteht, dass im Bereich der Sicherheit jede Zuckung des Staates ein Angriff auf die Rechte des Bürgers, mithin potentiell anrüchig ist, kann dieser Rechtsstaat nicht mit dem Sozialstaat deckungsgleich sein.

Gerade in der Zusammenschau nun sind die Bücher von Sofsky und Schaar bezeichnend. Es zeigt sich nämlich, dass das darin ausgedrückte deutsche Staatsmisstrauen die liberalen Reaktionäre und die liberalen Rechtsstaatler miteinander verbindet. Es ist frappierend: Zwei anklagende Bücher über Staat und Überwachung; beide haben überwiegend "den Staat" und nicht die datensammelnde Privatwirtschaft im Blick; und beide schaffen es, auf keiner einzigen Seite, mit keinem einzigen Wort in Erwägung zu ziehen, dass "der Staat" und die Bürger vielleicht auch irgendetwas miteinander gemeinsam haben könnten.

Dazu kommt noch die beliebte Unterstellung, Politik und Behörden würden auch in der Demokratie nur aus Jux und Dollerei gegen übertriebene Bedrohungen vorgehen, würden den Verdacht auf Verbrechen, der sie zu intensiver Ermittlung führt, ausschließlich als willkommene Gelegenheit zur Erweiterung ihres Machtbereichs und zur Einschränkung von Bürgerrechten betrachten.

Was aber, wenn die - nicht zu bestreitende - Sicherheitspanik im Lande nicht bloß gewisse Anhaltspunkte in der existierenden Kriminalität hätte, sondern auch erst durch die Frontstellung zum Staat kräftig befördert würde, die der deutsche Bürger so gerne einnimmt, statt sich auch als ein Teil, als ein Subjekt des Staates zu sehen? Könnte es nicht sein, dass die in der Innenpolitik heftig geschürte Angst vor der Bedrohung der Ordnung selbst nur ein Spiegelbild der vollkommen übertriebenen Dämonisierung des Staatsapparates ist?

Die Lektüre der Bücher von Sofsky und Schaar wird unbedingt empfohlen. Sie bilden eine unfreiwillige Gemeinsamkeit, die uns lehrt, was uns in Deutschland an Gemeinsamkeit fehlt.

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