Buchtipps der SZ:Was soll ich im Sommer lesen?

Für alle, die noch nicht wissen, welches Buch sie in den Urlaub mitnehmen sollen - hier die Empfehlungen der SZ-Redaktion.

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Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter

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Quelle: DVA

Als junger Anwalt verteidigt er einen Schwarzen, der wegen Vergewaltigung angeklagt ist, und zieht damit Wut, Spott und Verachtung der ganzen Stadt auf sich. Nur seine Tochter "Scout" bewundert ihn für seinen Mut. Doch als sie zwanzig Jahre später von New York in ihre Heimat nach Alabama zurückkehrt, entdeckt sie in ihrem Vater Atticus Finch plötzlich einen kleinkarierten, verbissenen Rassisten. Wer nach den tödlichen Schüssen von Falcon Heights, Baton Rouge und Dallas versucht, den Rassenhass in den Vereinigten Staaten aus der Geschichte des Landes heraus zu verstehen, liest unruhig und fasziniert "Gehe hin, stelle einen Wächter". Das Buch, das fast fünfzig Jahre lang verschollen war und erst 2014 wiederentdeckt wurde, erzählt vom alltäglichen Rassismus in den Südstaaten der Fünfzigerjahre und knüpft an Harper Lees Welterfolg "Wer die Nachtigall stört" von 1960 an, der lange für ihr einziges Werk gehalten wurde. Verstörend, witzig, ernst, kurzweilig - alles auf einmal ist dieser Roman. Wunderbar, dass das "Wächter"-Manuskript kurz vor Harper Lees Tod in diesem Frühjahr noch gefunden wurde.

Wolfgang Krach

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Ian Bostridge: Schuberts Winterreise

Ian Bostridge Schuberts Winterreise C. H. Beck

Quelle: C. H. Beck

Im Sommer ein Buch über Franz Schuberts "Winterreise" zu lesen, ist gar nicht abkühlend, denn in diesem Zyklus von 24 Liedern geht es schließlich um die Liebe eines Zurückgewiesenen. Er wandert fort, durch schneeknirschende Landschaften, schreit seine Gefühle hinaus und wispert sie in sich hinein. Selbst wer Wilhelm Müllers, von Schubert vertonte Gedichte auswendig kann, wird sie ganz neu hören und sprechen, wenn er Ian Bostridges Buch gelesen hat. Bostridge ist Historiker, aber auch ein großer Liedsänger, weshalb er nicht nur Schuberts Welt und Zeit beleuchten und die Deutungslinien bis in die Gegenwart ziehen kann, er tänzelt auch zwischen Malerei, Literatur, Musik und den Naturwissenschaften so leichtfüßig hin und her, dass es eine Wonne ist.

Renate Meinhof

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John Dos Passos: Manhattan Transfer

John Dos Passos Manhattan Transfer Rowohlt Verlag

Quelle: Rowohlt Verlag

In einer Zeitung findet George Baldwin die Meldung, dass es am Bahnübergang Eleventh Avenue wieder einen Unfall gegeben habe, ein Milchkutscher wurde verletzt. Daraus ließe sich doch, denkt der junge Anwalt, dem es an Mandanten fehlt, "eine hübsche kleine Schadenersatzklage" machen. Er findet die Familie des Kutschers McNiel, beginnt eine Affäre mit dessen Frau, erstreitet eine stolze Entschädigungssumme. Der Milchmann steigt auf, wird Gewerkschaftsführer, der Anwalt hat Erfolg und findet doch nirgends richtig Halt. Dies sind nur zwei von vielen Lebensläufen, die John Dos Passos in seinem New-York-Panorama erzählt und durcheinanderwirbelt. "Manhattan Transfer" erschien 1925 und machte den Autor sofort berühmt. Die Fülle der Schauplätze, Charaktere, Perspektiven, die Technik der Montage, das Spiel mit Tonfällen, der Appell an den Voyeurismus des Lesers - alles dient der Schilderung der großen Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie ist das Schicksal und gleichgültig gegenüber den Schicksalen ihrer Bewohner. Dirk van Gunsteren hat "Manhattan Transfer" neu übersetzt: eine Einladung, sich lustvoll zu verlieren, in der Stadt und im Roman.

Jens Bisky

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Evelyn Waugh: Ohne Furcht und Tadel

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Krieg ist furchtbar, mörderisch, absurd. Krieg kann aber auch komisch sein, zumindest in der Literatur. Evelyn Waugh, geboren 1903 in London, im Juni 1966, also vor fünfzig Jahren, gestorben, war ein garstiger englischer Oberklasse-Intellektueller mit der Gabe, alles zu verspotten, auch sich selbst. Der Diogenes Verlag legt seine Bücher neu auf, darunter das bewundernswerte "Ohne Furcht und Tadel", ein dicker, enorm lesenswerter, nachgerade kurzweiliger Wälzer aus drei Teilen (erstmals erschienen in den Jahren 1952, 1955 und 1961). Es ist der autobiografisch unterfütterte Roman über die Kriegsjahre des Guy Crouchback, der dem Empire zwischen 1940 und 1945 unter anderem auf Kreta, in Ägypten und in Jugoslawien dient. Das Empire wiederum tritt Crouchback in Form heldenhafter oder grotesker, feiger oder überbürokratisierter Kameraden entgegen, die ihm das Leben meistens schwerer machen als die Deutschen. Man lernt in dieser Trilogie unter anderem, wie man nicht lieben sollte, warum es besser ist, ein Offizier zu sein, und wie man den Krieg gewinnt, obwohl das Leben entweder langweilig oder gefährlich ist.

Kurt Kister

5 / 21

Léo Grasset: Giraffentheater

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Ein halbes Jahr war der junge Biologe Léo Grasset 2013 in der Savanne, im Hwange-Nationalpark in Simbabwe; von den Erfahrungen und Erkenntnissen dort erzählt er in "Giraffentheater". Es ist eine fröhliche, gleichwohl dreckige Wissenschaft, die gern von der unerwarteten Seite her ihren Anlauf nimmt. "Der Honigdachs ist bekannt dafür, dass er, wenn er große Tiere angreift, vor allem auf deren Hoden losgeht." Aber auch: "Es heißt, er könne die Bedürftigen heilen: Ein Blick auf einen Honigdachs genüge, um wieder zu Stärke und Manneskraft zu finden." "Dirty Biology" heißt Grassets Blog im Internet, irgendwie dreckig, trickreich, fies.

Fritz Göttler

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Gaito Gasdanow: Die Rückkehr des Buddha

Die Rückkehr des Buddha Gaito Gasdanow

Quelle: Hanser Verlag

Ein Bettler spricht einen russischen Exilanten in einem Pariser Park an, irgendwann in den Zwanzigerjahren. Der Bettler bekommt zehn Francs, verneigt sich und geht davon, und dem Exilanten bleibt die Szene im Gedächtnis: "Die Aprilsonne neigte sich schon, und meine Phantasie - wie eine schlechte Uhr ging sie ein paar Minuten vor - ließ entlang des Gitters am Jardin du Luxembourg jenes Dämmerlicht aufkommen, das ein wenig später anbrechen sollte und zu der Zeit noch gar nicht angebrochen war." Mit großer Präzision wandelt in solchen Sätzen ein Erzähler zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte - aber nicht ist. Er ist ein Meister im Entwerfen von sprachlich genau erfassten, aber dann wie in Nebelgebilden verschwimmenden Beobachtungen, und so wie dieser Satz ist schließlich die ganze Geschichte: Gaito Gasdanows erstmals 1947 publizierter Roman "Die Rückkehr des Buddha" ist - wiederentdeckt wie das ganze Werk des russischen Exilautors, der mit "Das Phantom des Alexander Wolf" (1948) berühmt wurde - eine Art Kriminalgeschichte, deren eigentliches Geheimnis in der Sprache verborgen ist.

Thomas Steinfeld

7 / 21

Valeria Luiselli: Die Geschichte meiner Zähne

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Der Albtraum überfällt Frau, Mann und Kind: Die Zähne fallen aus - Grusel im Schlaf. Die aus Mexiko stammende Autorin Valeria Luiselli hat das Gegenmittel auf den Markt gebracht, ein valentineskes Buch mit dem Titel "Die Geschichte meiner Zähne". Das Werk ist auch Lesern zu empfehlen, die nie Albträume haben: Gustavo Sánchez ist ein erfolgreicher Auktionator, braucht aber ein neues Gebiss. Er versteigert seine alten Zähne (und zwar als die von Platon, Montaigne, Rousseau) und besorgt sich neue, angeblich die von Marilyn Monroe. Valeria Luiselli hat eine traumhaft verrückte, lustige Geschichte geschrieben. Wer sich in der Literatur auskennt, wird doppelten Spaß haben.

Franziska Augstein

8 / 21

Fiona Barton: Die Witwe.

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Kann es sein, dass eine Lüge zur Wahrheit wird, wenn man nur lange genug daran festhält? Die Lebenslüge als wahres Leben? Diese Frage steht im Zentrum des Thriller-Debüts "Die Witwe" von Fiona Barton. Die Autorin hat jahrelang für die Daily Mail als Gerichtsreporterin gearbeitet, sie kennt sich - das merkt man dem Roman an - bestens mit jenen Gespinsten aus, die Tatverdächtige als Fakten ausgeben. Die will man jetzt unbedingt von eben jener "Witwe" erfahren. Jean heißt sie, eine unscheinbare Frau, die durch ihren Mann Glen mit einem schlimmen Verbrechen in Verbindung gebracht ist: Mord an einem Kind. Jedenfalls verdächtigt die Polizei ihn dringend. Doch dann stirbt Glen. Sofort stürzt sich eine bellende Presse auf die Witwe, jetzt kann sie es ja sagen, ob ihr Mann der Mörder war. Was weiß sie? Doch Jean tischt die gewünschte Geschichte nicht auf, spricht nur einmal davon, dass mit dem Gattentod "der Blödsinn endlich ein Ende" habe. Ist sie Komplizin? Dumm? Oder selber Opfer? Lügt sie raffiniert - oder macht sie sich etwas vor? "Die Witwe" zieht reichlich Suspense aus diesen kunstvoll in der Schwebe gehaltenen Fragen.

Bernd Graff

9 / 21

Rasha Abbas: Die Erfindung der deutschen Grammatik

Rasha Abbas Die Erfindung der deutschen Grammatik

Quelle: Orlanda Frauenverlag

Diese Geschichtensammlung hat alles, was ein Strandbuch braucht: Sie ist kurz, kurzweilig, hat einen sommerlichen Umschlag, und lustig ist sie auch. Was allein schon als Leistung der 1984 geborenen syrischen Autorin Rasha Abbas gelten kann. Schließlich schreibt sie in "Die Erfindung der deutschen Grammatik" über ein Thema, bei dem man eher Schwermut erwartet. Die meist ins Surreale überzogenen Ich-Texte handeln vom Ankommen als Geflüchtete in Deutschland. Mit einer Mischung aus Renitenz und Erfindungsreichtum nähert sich die Heldin ihrer neuen Heimat. Um Deutsch zu lernen, schaut sie die Schlümpfe. Und Behördengänge meistert sie im Computerspiel-Modus.

Vera Schroeder

10 / 21

Gaziel: Nach Saloniki und Serbien

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Dieses Buch ist hundert Jahren alt und doch zum Fürchten aktuell. Es ist leidenschaftlich, es ist humorvoll, es ist zum Verzweifeln; es ist menschlich. Der junge katalanische Journalist Agusti Calvet (1887-1964), er nennt sich Gaziel, reist im Auftrag seiner Zeitung in den Krieg, nach Griechenland und weiter nach Serbien; er reist durch das zerfallende Osteuropa. Er berichtet dabei genau von den Gespenstern, die heute wieder wach geworden sind. Sein Tagebuch erzählt vom Wahn, "die Erde als parzellierte Landkarte zu betrachten und in jedes Feld stolze oder einfach nur wohlklingende Namensschilder zu stecken". Es berichtet von den Flüchtlingen auf der Balkanroute des Jahres 1915: "Nichts hat mich so erschüttert wie diese Scharen von Bauern, halbnackt, in Lumpen gekleidet, die aus ihrer Heimat gejagt wurden wie menschlicher Abfall". Gaziel, der ein koketter Dandy war und auf dieser Reise ein klarsichtiger Kriegsgegner wurde, schildert eine Welt vor dem Untergang. Sein Buch "Nach Saloniki und Serbien" ist nun erstmals auf Deutsch erschienen. Statt neuer Badelatschen kaufe man sich dieses Buch.

Heribert Prantl

11 / 21

Caitlin Doughty: Fragen Sie Ihren Bestatter

Caitly Doughty: Fragen Sie Ihren Bestatter - Lektionen aus dem Krematorium C.H. Beck

Quelle: C.H. Beck

Ein Buch über den Tod - nein, kein Krimi - als Sommerlektüre? Jawoll, geht. Denn mit Leichen kann man viel erleben. Und lernen kann man von ihnen noch mehr. Die Autorin dieser "Lektionen aus dem Krematorium", Caitlin Doughty, ist erst 23 - jung, schön und gebildet. Dass sie zudem über warmherzigen Witz verfügt, kann man auch auf ihrem Youtube-Kanal sehen: "Ask A Mortician" hatte in den USA schon Kultstatus, bevor sie ihre Erfahrungen als Einäscherungsgehilfin niederschrieb. Ihr Buchist klug und unterhaltsam wie eine gute Tragikomödie. Keiner muss Angst haben, in diese Seiten des Lebens einzutauchen.

Susanne Hermanski

12 / 21

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Ein Vater stirbt. Ein Sohn macht sich auf die Suche. Was nach einem Roman- oder Filmanfang klingt, ist der autobiografische Kern eines unglaublich spannenden und bestürzend aktuellen soziopolitologischen Sachbuchs: Didier Eribon, kosmopolitischer, schwuler Pariser Soziologe, hatte mit seiner homophoben Familie radikal gebrochen. Mit über fünfzig kehrt er erstmals in seine Heimatstadt Reims zurück, sucht, mit der Mutter das Fotoalbum durchgehend, nach Spuren seiner proletarischen Kindheit. Eine Studie über Herkunftsverleugnung, sexuelle und soziale Scham und die alles entscheidenden feinen Unterschiede in der französischen Elite. Ein autobiografischer Text, der sehr diskret und nie narzisstisch ist. Vor allem aber findet Eribon, als er sich in Reims umsieht, eine politisch verwüstete Landschaft vor: Die einfachen Arbeiter, die früher im Kollektiv links gewählt haben, sind nun, jeder für sich, zum Front National gewechselt. Aus "Notwehr", wie Eribon konstatiert: Die unteren Schichten versuchen so, ihre Lebensdemütigungen zu kompensieren. Verstörend und aufschlussreich in Zeiten von Brexit und Populismus. Alex Rühle

Hier lesen Sie eine Rezension des Buches mit SZ Plus

13 / 21

Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Elf Jahre nach ihrem Tod 2004 wurde sie - nein, nicht wiederentdeckt, dazu war sie zu unbekannt, sondern überhaupt erst entdeckt als die wohl beste amerikanische Erzählerin ihrer Generation. Eine Auswahl der rund achtzig Shortstorys, die Lucia Berlin geschrieben hat, erschien 2015 in den USA und wurde zum Bestseller. Antje Rávic Strubel hat den Band nun ins Deutsche übersetzt. Es sind harte, lakonische Geschichten aus den Eingeweiden Amerikas, literarische Polaroids von Frauen, die nah am Abgrund balancieren - und sich umso fester ans Leben krallen: mit grimmigem Humor und "einem heftigen Fauchen im Herzen". Große Absturz- Literatur!

Christopher Schmidt

14 / 21

Jane Gardam: Old Filth

Ein untadeliger Mann Hanser Jane Gardam

Quelle: Hanser

Die Britin Jane Gardam ist fast 90 Jahre alt, sie hat bereits 25 Bücher geschrieben, doch rätselhafterweise erschien erst im vergangenen Jahr "Ein untadeliger Mann" auf deutsch. Es erzählt die Lebensgeschichte eines Anwalts, der London verlässt, um in Hongkong Karriere zu machen - von seiner Jugend, Karriere und Liebe. All das wird vom Ende her betrachtet, man lernt "Old Filth" (F.i.l.t.h. für "Failed in London try Hongkong") als alten, schrulligen, also sehr klassischen Briten kennen . Sein Leben ist fast vollendet und Old Filth blickt zurück, während er sich die letzten Meter vorwärts bewegt. Seine Frau ist gestorben, wird aber in seinen Erinnerungen lebendig. Ihre gleichzeitige An- und Abwesenheit ist ein Hauptmotiv des Romans. Von den ersten Zeilen an schwingt Bedauern mit, das von Seite zu Seite mehr ans Herz geht - und doch kein einziges Mal in den Kitsch rutscht. Aber die ganz große Erzählkunst entfaltet sich in der Verschränkung von gestern und heute, darin, wie Jane Gardam im perfekten Rhythmus die Handlungsebenen wechselt. Und so melancholisch das Buch beginnt, so tröstlich endet es, auch wenn alles auf das Unvermeidliche hinläuft.

David Pfeifer

15 / 21

Irma Nelles: Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Irma Nelles lernte Rudolf Augstein im Jahr 1973 kennen, sie hatte gerade als Sekretärin im Bonner Büro des Spiegel angefangen. Nelles ist eine junge Frau, seit ein paar Jahren verheiratet, Mutter von zwei Kindern und reichlich gelangweilt von ihrem Lebensentwurf. Zwischen Augstein, dem Herausgeber des berühmten Hamburger Nachrichtenmagazins, und der Sekretärin Nelles entwickelt sich in den folgenden Jahren eine Freundschaft, die einem oft sehr wunderlich erscheint. Viele Jahre später wird sie seine Büroleiterin - und beschreibt in ihrem Buch auf wunderbar sensationslose Weise einen der mächtigsten deutschen Journalisten.

Katharina Riehl

16 / 21

Steven Herrick: Wir beide wussten, es war was passiert

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Ein 16-Jähriger, der sich auf den Weg macht, nur weg von der Brutalität des Vaters und den Schrecken der Schule. Ein alter Mann, der nach dem Tod der Tochter sein bürgerliches Leben hinter sich gelassen hat und als Penner in einem alten Bahnwagen vegetiert. Ein junges Mädchen, das nachts bei McDonald's putzt, um ihrem reichen Elternhaus zu entkommen. Sie alle treffen sich in einem kleinen Kaff in Australien, und sie werden sich gemeinsam aus Einsamkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit retten. Trotz des berührenden Happy Ends schließt die Knappheit der lyrischen Sprache Herricks jede Sentimentalität aus.

Roswitha Budeus-Budde

17 / 21

Saša Stanišić: Fallensteller

Sasa Stanisic Fallensteller Luchterhand

Quelle: Luchterhand

Es gibt jede Menge unvergessliche Gestalten, den anarchischen Mo zum Beispiel, der noch jedes Eiapopeia-Menschenrechtsmeeting unterwandert, stiehlt, lügt und mit schlechten Antikriegsbildern dealt. Oder den Fallensteller aus der Titelgeschichte, der Fallen für alles hat, für Ratten, für Wölfe, auch für Träume. Oder aber auch den Laien-Zauberer aus dem Sägewerk, der mit stiller Entschlossenheit vor einem gnadenlos abgelenkten Publikum sein Zauberdebüt gibt. Aber wer auch nur ein bisschen Sympathie für unsere Freunde aus dem Osten hat, der wird den Russen in sein Herz schließen, einen mäßig guten Billardspieler, die Zähne gebleicht, Lyrik auf den Lippen, ein Vieh, ein Zar, "der seine Schwächen nicht versteckt, wie miese Herrscher es tun." Der Russe gewinnt die Billardpartie, mit Glück, ist eben ein Spieler, wie alle Figuren in Saša Stanišićs Erzählungsband "Fallensteller". Stanišić, der 1992 aus den Resten Jugoslawiens nach Deutschland kam, hat Geschichten mit doppeltem Boden geschrieben, glitzernd wie der Schnee in der Uckermark. Sein größter Trick aber ist: eine unbändige Lust auf diese sensationelle Nummernrevue, die Leben heißt.

Sonja Zekri

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Robert Byron: Europa 1925

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Irgendwer schlägt vor, einen Abstecher zum Balkan zu machen. Also brechen drei junge Engländer, die sich aus Oxford kennen, Anfang August 1925 zu einer Reise auf den Kontinent auf. Ihr Automobil nennen sie Diana. Die Route führt von Hamburg über Bayern, Österreich und Italien nach Athen. Den Reisebericht verfasst Robert Byron, der seinen Vorfahren, Lord Byron, nicht mag. Er gibt, mal klug, mal altklug plaudernd, Einblick in den lässigen Snobismus der Reisenden - und in ein Europa, das vom Weltkrieg gezeichnet ist. Am Ende entdeckt Byron etwas Unerwartetes: "das Bewusstsein, nicht nur Engländer zu sein, sondern auch Europäer".

Lothar Müller

19 / 21

Bov Bjerg: Auerhaus

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Zu den schönsten Momenten des Urlaubs gehört die Frage: Mit welchem Buch fange ich an? "Auerhaus" von Bov Bjerg macht es einem da leicht. Von der ersten Zeile an entsteht ein so eigener, wunderbarer Sound, dass man ihn kaum je vergessen wird. Sechs Freunde - Höppner, Frieder, Vera, Cäcilia, Harry und Pauline - alle im Abiturientenalter, wollen ihrem Elternhaus oder der "Klapse" entkommen. Gemeinsam beziehen sie ein heruntergekommenes Haus in der schwäbischen Provinz und beginnen "ein richtiges Leben mit Aufstehen und Frückstückmachen, mit Essenbesorgen" - und mit den drängenden Fragen, die auf Heranwachsende einstürzen. Sie lesen Comics, Philosophen, Psychologen und Suizidanleitungen. Es geht um Eifersucht, Liebe und Sex, um Klauen als Wissenschaft, um Drogen, vor allem aber um das wahre Leben, das auch ein jähes Ende finden kann. So wie der Autor Rolf Böttcher sich mit "Bov Bjerg" ein Pseudonym zugelegt hat, das beste Rockmusik verheißt, so hat er mit diesem Roman eine große Komposition aus Wahrhaftigkeit, Melancholie und Lebenswitz erschaffen, die keinen Ton zu viel und keinen Gedanken zu wenig hat.

Hendrik Munsberg

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Bernd Cailloux: Surabaya Gold

Sommerbücher

Quelle: Verlag

Bernd Cailloux erzählt in seinen Büchern von den sogenannten wilden Jahren. Wäre man selbst ein wildes Jahr, würde man sich allerdings über Cailloux ärgern, denn er nimmt dem Leser die Illusion, früher sei alles toller gewesen. Jetzt hat der gloriose Erzähler Cailloux ein kleines Buch mit Haschisch-Geschichten gemacht. Aber für die blanken Hedonisten ist das nichts: Es geht um die verstohlenen Momente der Jugend, um die Sorge, entdeckt zu werden, um die Lächerlichkeit sowieso. Am Schluss kriegen die Legalisierungs-Spießer zum Glück auch noch eine rein: Haschischrauchen ist Abenteuer, sagt Cailloux, und muss deshalb verboten bleiben. Hilmar Klute

Lesen Sie ein Porträt zu Bernd Cailloux' 70. mit SZ Plus

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Christine Thürmer: Laufen. Essen. Schlafen.

Christine Thürmer Laufen Essen Schlafen Malik Verlag

Quelle: Malik Verlag

Zum Überleben braucht der Mensch vier Dinge: Wasser, Essen, Wetterschutz und Wärme. Mehr nicht. Bekommt er dann mal ein Milky Way zwischen die Zähne, kann das pures Glück bedeuten - "wildes körperliches Glück", ausgelöst durch einen Schokoriegel. Auch die Wonne einer warmen Dusche nach wochenlangem Marsch durch die Mojave-Wüste oder das Sierra-Nevada-Hochgebirge gehört zu dieser Sorte Glückserfahrung, wie sie Christine Thürmer in "Laufen. Essen. Schlafen." beschreibt, ihrem sehr anschaulichen Erfahrungsbericht als Langstreckenwanderin auf den drei großen amerikanischen Hiking-Trails zwischen Mexiko und Kanada. Einst eine knallharte Unternehmenssaniererin mit Sekretärin und Dienstwagen, brach die Geschäftsfrau 2004, nachdem ihr selber gekündigt worden war, zu ihrem ersten Trip auf - allein. Wie sich die Fränkin als "German Tourist" einen Namen erwandert in der Szene der "Thru-Hiker", wie sie insgesamt 12 700 Kilometer zu Fuß zurücklegt und dabei Wind und Wetter, Moskitos und Bären trotzt, ist ein Abenteuer, dem man gerne folgt - vor allem, wenn man sich dabei entspannt zurücklehnen kann.

Christine Dössel

© SZ vom 16.07.2016/cag
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