Buchtipps aus der SZ-Redaktion:Leselust sucht Liegewiese

Der Sommer ist da, der Urlaub nah - endlich Zeit zum Lesen! Nur was? SZ-Autoren empfehlen 24 Lieblingsbücher für Strandtasche und Reisekoffer.

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Western-Prosa wie Patronen

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Der junge Will Andrews, Boston-Söhnchen, Harvard-Zögling, will Büffel schießen. Miller, der Jäger, will das auch. Will war noch nie auf der Jagd. Miller schon oft. Nun finanziert ihm Andrews die Jagd seines Lebens. Zu viert machen sie sich auf, verirren sich, verdursten fast und finden dann: das Tal. Randvoll mit Büffeln, Tausenden. Es sind die letzten, der Rest ist fast ausgerottet, und von diesen, daran lässt Miller keinen Zweifel, soll keiner entkommen. Nun, an dieser Stelle sind Western-Skeptiker schon draußen. Pech für sie. John Williams, der mit "Stoner" einen Welterfolg feierte, schreibt in "Butcher's Crossing" aus dem Jahr 1960 eine Prosa, die so kühl, glatt und präzise funktioniert wie eine Revolvertrommel. Und so durchschlagend ist wie ein Geschoss. Der Roman, eine Verneigung vor Emerson und Melville, vereint Apokalypse und Kapitalismuskritik in sich. Wie die Männer tagsüber töten und nachts häuten, bis aus schönstem sommerblauen Himmel die erste Schneeflocke des einbrechenden Winters fällt, das ist einfach umwerfend. Sonja Zekri

John Williams: Butcher's Crossing. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. dtv, München 2015, 365 Seiten, 21,90 Euro. E-Book 18,99 Euro.

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Schienenstrang ins Offensive

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Einfach einsteigen und losfahren. Und wenn der Zug ankommt, in Paris, in Istanbul, umsteigen und wieder weiter: Paul Theroux, der begnadete Reisende, fuhr vor vierzig Jahren mit Zügen, Schiffen, Postfliegern einmal um die halbe Welt, von London nach Japan und zurück: Teheran, Lahore, Delhi, Madras. Thailand, Japan, Sibirien, Moskau. Es ist eine Fahrt durch wunderschöne Landschaften, eine herrliche Sprache - und eine ferne Zeit. Das Ganze wirkt heute zeitlich weiter entrückt als geografisch: Die Globalisierung war außer Reichweite für Orte wie Mandalay, und all die Menschen, die Theroux unterwegs trifft und so liebevoll-genau porträtiert, sie alle brausten noch in eine weithin offene Zukunft, aus der ihnen der Hoffnungsschimmer einer gerechteren Welt entgegenleuchtet. Alex Rühle

Paul Theroux: Basar auf Schienen. Eine Reise um die halbe Welt. Aus dem Englischen von Werner Peterich. Die Andere Bibliothek, Berlin 2015. 429 Seiten, 42 Euro.

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Die Macht des Mädchens

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"Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert" - mit dem ersten Satz ist man gleich ganz bei Isa, diesem eigenartigen Mädchen, das der Autor Wolfgang Herrndorf auf eine Abenteuerreise schickt, zu Fuß, per Lkw und Boot. Schließlich trifft sie auf einem Schrottplatz auf Tschick, einen der Helden aus Herrndorfs gleichnamigem Ausnahmeroman. Der Autor starb, bevor er Isas Geschichte zu Ende schreiben konnte, als "unvollendeter Roman" ist "Bilder deiner großen Liebe" im Untertitel angekündigt. Natürlich liest man die tragische Geschichte des Autors mit. Doch weil Isa eben verrückt ist und nicht bescheuert, funktioniert sie als ebenso unzuverlässige wie scharfsinnige Erzählerin. Sie unterhält sich problemlos mit einem Taubstummen, und nach wenigen Seiten stört man sich nicht mehr an logischen Brüchen. Die Führung hat Isa übernommen, der man überallhin folgt und gerne noch weiter gefolgt wäre, wenn der Roman nicht zu schnell an sein gar nicht so unvollendetes Ende gelangen würde. David Pfeifer

Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 144 Seiten, 16,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.

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Schönheit der Schlaffis

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Sommer in Wien, nur noch Touristen und der Tiermedizin-Student Julian sind in der Stadt. Julian ist 22 und ein ziemlicher Schlaffi. Er hängt ab und rum, steuert auf eine Depression zu und nimmt in seiner ziellosen Suche nach sich selbst einen Ferienjob an: die Pflege eines Zwergflusspferdes, das im Gartenteich eines kranken Tiermedizin-Professors auf den Abtransport in einen Zoo wartet. Zugegeben, der wunderbare Arno Geiger hat schon spannendere Bücher geschrieben. Aber "Selbstporträt mit Flusspferd" entwickelt eine innere Schönheit, wenn man bereit ist, sich auf den temperamentlosen Antihelden Julian einzulassen, so wie auch das in der Sommerhitze schwitzende Flusspferd eine innere Schönheit ausstrahlt - in all seiner Ruhe und Selbstvergessenheit. Cathrin Kahlweit

Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2015. 288 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.

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Ein Sturkopf ermittelt

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London, im Herbst 1968. Vielen gilt die Stadt an der Themse als Hauptstadt des globalen Jugendkults. Der sagenhafte "Summer of Love" liegt über ein Jahr zurück, aber überall hat er Spuren hinterlassen. Die britische Gesellschaft verändert sich rasch. Doch einer will von all dem so gar nichts mitbekommen. Der irischstämmige Detective Sergeant Cathal "Paddy" Breen glaubt, er sei mit seinen 32 Jahren schon zu alt zum Leben und nur noch ein klein bisschen zu jung zum Sterben. Die Morde, die er zu bearbeiten hat, kommen ihm also ganz recht. "Kings of London" ist der Mittelteil einer Trilogie, der absolut für sich stehen kann: als glaubwürdige Darstellung der harschen Realität in der Stadt und mit herrlich stolpernd-fliehenden Gedanken im Sturschädel des ermittelnden Breen. Bernd Graff

William Shaw: Kings of London. Kriminalroman (Breen-Tozer-Trilogie Teil II). Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 472 Seiten, 14,99 Euro. E-Book 12,99 Euro.

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Das dunkle Erbe der Väter

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Die deutsche Literatur entdeckt gerade ein neues Thema: die Frage nach der Schuld jener Generation von Männern, die als 17-Jährige den schon verlorenen Krieg mit Gewalt und Gehorsam befeuerten. Ralf Rothmann, dessen Romane oft das Ruhrgebiet und das Nachwende-Berlin als poetische Landschaften spiegeln, erzählt in "Im Frühling sterben" von den beiden Jungen Walter Urban und Fiete Caroli. Beide sind Melker aus Norddeutschland; Walter, der Vater des Erzählers, muss zur Waffen-SS, Fiete an die Front. Während Walter das letzte Aufbäumen gegen die heranrückenden Alliierten mitmacht, sich den grausamen Morden an Unschuldigen nur mit leisem Protest entgegenstellt, wird Fiete zum Deserteur - seine Kameraden müssen ihn erschießen, auch Walter drückt ab. Ralf Rothmann bannt diese Zeit, die er selbst nicht erlebt hat, in schrecklich klare, magisch realistische Bilder. Der Erzähler ist von Schuld und Leid ähnlich versehrt wie sein Vater - die dunkle Geschichte vom vererbten Schicksal erzählt dieser große Roman mit. Hilmar Klute

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 234 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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Herzschlag gegen Gewehre

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In diesem 1928 in einem Pariser Exilverlag erschienenen Roman von Michail Ossorgin geht das alte Russland unter. Beobachtungsstation für diesen Untergang ist das Haus des Ornithologen Professor Iwan Alexandrowitsch. Es ist ein bürgerliches Haus, in dem gelebt und geliebt wird, debattiert und musiziert. Der Große Krieg geht durch dieses Haus hindurch, dann die Revolution, der Terror. Die Tiere nehmen die Witterung der Zeit auf, die Kuckucksuhr des alten Professors bleibt stehen und im op.37 des einsamen Komponisten kämpft der Rhythmus des Herzschlags gegen das Staccato der Maschinengewehre. Der Roman "Eine Straße in Moskau" ist geräumig, wie das Haus, ein stiller Zeuge, der seine Scharfsichtigkeit hinter der Maske der Naivität versteckt. Lothar Müller

Michail Ossorgin: Eine Straße in Moskau. Aus dem Russischen von Ursula Keller und Natalja Sharandak. Die Andere Bibliothek, Berlin 2015. 519 Seiten, 42 Euro.

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Mehr lüstern als listig

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Nur der Mann besaß den Zauberstab, um dieses Frauenleidens Herr zu werden - der Hysterie. Heute ist sie aus der Mode, doch Platon war sich noch sicher: Hysterie gründet in der Gebärmutter, die mangels regelmäßiger Besamung durch den gesamten Weibskörper bis ins Hirn wandert. Im Fin de Siècle gaben Ärzte wie Freuds Ziehvater Charcot regelrechte Shows mit sich grotesk bäumenden Jungfern, die schrien und derart überspannt waren, dass man sie wie ein Brett über zwei Stuhllehnen spreizen konnte. Dieses Phänomen existierte aber nicht nur in der westlichen Welt. In Japan glaubte man die Betroffenen "vom Fuchs besessen" - davon erzählt Christine Wunnike in ihrem hoch konzentrierten und wunderbar absurden Roman, dessen Sprache sie pfiffig mit manch medizinischem Fachausdruck impft. Ihr Held ist ein gewisser Dr. Shimamura, den es wirklich gab. Als er sich bei einer Forschungsreise durch Japans Provinz selbst einen Fuchs einfängt, sucht er mehr lüstern als listig sein Heil in Europa. Was für eine irre Idee. Von ihm und der Autorin. Susanne Hermanski

Christine Wunnicke: Der Fuchs und Dr. Shimamura. Roman. Berenberg Verlag, Berlin 2015, 144 Seiten, 20 Euro.

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Vernunft und Gefühl

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Eine Frau, die ihrem eigenen Mann nicht mehr nahekommt ("Fiona, wann haben wir das letzte Mal . . .?"), sich einem jungen Mann aber zu sehr nähert, wenn auch nur einmal, für Sekunden. Dass ihr Mann, bevor er tot umfällt, noch eine "große, leiden-schaftliche Affäre" mit einer anderen, viel jüngeren Frau anfangen will und sie Gefühle für einen 17-Jährigen entwickelt, wirft Fiona Maye aus ihrer Lebensbahn. Fiona, 59, Richterin für Familiensachen am High Court in London, lernt den Jungen kennen, weil sie entscheiden muss, ob er leben darf oder stirbt. Er hat Leukämie, ist aber Zeuge Jehovas und verweigert Bluttransfusionen. Die nüchterne Juristin entdeckt ihre Zuneigung zu dem selbstbewussten, vorlauten Teenager. Die Sprache, in der Ian McEwan diese Geschichte erzählt, ist kühl, ja sezierend - wie Fionas Gedanken, wenn sie rechtliche und philosophische Fragen durchdekliniert. Und doch nimmt einen diese Nüchternheit des Wortes mit auf eine wunderbare Reise zwischen Glück und Unglück, Vernunft und Gefühl. Wolfgang Krach

Ian McEwan: Kindeswohl. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2015. 224 Seiten, 21,90 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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Fiesling erster Güte

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Der deutsche Sommer kann es den meisten nicht recht machen. Gerade hat man sich auf eine gepflegte Hitzewelle eingestellt, dann steht Nieselwetter auf dem Plan - und umgekehrt. Abhilfe, wenigstens eine Weile lang, schafft da "Mr Gum und der schauerliche Hund von Bad Lamonisch" von Andy Stanton. Der Autor begann seine Karriere hoffnungsfroh an der Universität Oxford, fand freilich, dass alles eitel war, und zog das Dasein als Standup-Comedian vor. Vor allem aber schreibt er Kinderbücher. Eltern und übrige Erwachsene dürfen ihm dankbar sein. Mr Gum ist ein Fiesling erster Güte und sehr komisch. Andy Stantons schwarzer Humor macht allen Spaß, die zwischen 7 und gefühlten 700 Jahren alt sind. Der jüngst auf Deutsch erschienene Band ist das Finale der neunteiligen Mr-Gum-Serie. Übersetzt hat ihn Harry Rowohlt, der keine Gelegenheit mehr hat, sich über den Sommer zu beschweren - er starb Mitte Juni. Zu seinem Erbe gehören die Mr- Gum-Bücher, mit denen er vielen Menschen unsterbliche Freude macht. Franziska Augstein

Andy Stanton: Mr Gum und der schauerliche Hund von Bad Lamonisch. Roman. A. d. Engl. von Harry Rowohlt. Verlag S. Fischer, Frankfurt 2015. 240 Seiten, 12,99 Euro.

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Liebe, was ist das eigentlich?

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Schlüssel verlegt? Termin vergessen? Sich nicht mehr an den Namen der Mutter des besten Freundes erinnern können? Achtung, wenn man gerade "Still Alice" gelesen hat, besteht akute Identifikationsgefahr. Der mit Julianne Moore ganz ordentlich verfilmte Roman - sie bekam einen Oscar - erzählt die Geschichte einer Harvard-Professorin, die sich, gerade mal 50-jährig, an Alzheimer verliert. Die Krankheit wird sich als Romansujet vermutlich ähnlich verbreiten wie im richtigen Leben, aber in Lisa Genovas Buch steckt mindestens eine Ebene mehr. Es geht nicht nur um den Angriff auf das Selbst der Protagonistin und den Umgang ihres Umfelds damit. "Still Alice" ist auch eine Geschichte über Beziehungen - zwischen Ehepartnern, Eltern und ihren Kindern, zwischen Geschwistern. Worauf gründet sich Liebe? Das ist die große Frage, die Genova stellt. Sie lässt einen mit dem nicht gänzlich urlaubstauglichen Gefühl zurück, dass auch sicher Geglaubtes im Leben fragil ist. Aber das vergisst man dann zum Glück auch wieder. Alexandra Borchardt

Lisa Genova: Still Alice - Mein Leben ohne Gestern. A. d. Engl. von Veronika Dünninger. Verlag Bastei Lübbe, München 2015. 320 S., 8,99 Euro. E-Book 7,49 Euro.

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Napoleons letzte Irrtümer

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Lässt sich nach gut 200 000 Büchern über Napoleon noch etwas Neues über ihn sagen? Dem britischen Historiker Munro Price gelingt es in seinem Buch über die drei Jahre zwischen dem Russlandfeldzug und der Schlacht von Waterloo. Mehrmals wurden dem Kaiser Kompromisse angeboten, er aber glaubte, weiter kämpfen und siegen zu müssen, wenn er den Respekt der Franzosen behalten wollte. Waren die Friedensangebote ernst gemeint? Hätte Napoleon sie annehmen können? Price erschließt bislang übersehene Quellen, etwa aus dem Nachlass Caulaincourts, der Bonapartes Vertrauter war. Auch zieht er die Monatsberichte zur "öffentlichen Moral" heran, die alle Präfekten verfassen mussten. Man liest dies Buch mit von Seite zu Seite wachsender Spannung. Jens Bisky

Munro Price: Napoleon - Der Untergang. Aus dem Englischen von Enrico Heinemann u. Heike Schlatterer. Siedler, München 2015. 464 S., 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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Fontane mochte keinen Kürbis

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Nach diesen 226 Seiten sehnt man sich wie wahnsinnig, zum Beispiel, nach Fontane. Nach der flirrenden Erotik der Auslassungen, der flüchtigen Berührung des Blicks auf der Düne. Denn das Buch "Wer hat den schlechtesten Sex?" von Rainer Moritz ist ja vollkommen unerotisch, obwohl es doch um nichts anderes geht als um DAS EINE. Das heißt: Es geht darum, wie Schriftsteller über DAS EINE schreiben. Und das nun ist höchst amüsant. Unglaublich, was der Autor in diesem Kompendium der peinlichsten Sex-Szenen alles zusammengestellt hat. Da sind die "lappigen inneren Schamlippen, die an die Ohren der Chinesischen Morchel erinnern" bei Wolfgang Schömel. Oder aus der Abteilung Sex, botanisch: Ihre Brüste "waren vor sieben Monaten voll, aber spitz gewesen, jetzt wuchsen sie wie Kürbisse sogar über den Bauch hinaus" aus Barbara Sichtermanns "Vicky Victory". Genüsslich führt Rainer Moritz den Leser durch die Unerotik der vergangenen Literatur-Jahrzehnte. Man ist entsetzt. Man hält sich den Bauch vor Lachen. Was für eine Orgie. Renate Meinhof

Rainer Moritz: Wer hat den schlechtesten Sex? Eine literarische Stellensuche. DVA, München 2015. 240 Seiten, 17,99 Euro. E-Book 13,99 Euro.

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Das Spiel der Anziehung

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Als Michèle Bernsteins "Alle Pferde des Königs" im Jahr 1960 erschien, soll sie sogar zu einem kleinen Bestseller geworden sein: die Geschichte eines freisinnigen Pariser Paares, das sich auf andere Liebschaften einlässt und einen Sommer im Süden verbringt. Dann verbinden sich die Liebschaften, gehen wieder auseinander, und zurück bleibt das lachende Paar, mit dem die Geschichte begann. Das Vorbild von Choderlos de Laclos ist darin zu erkennen, aber auch der Ton von Françoise Sagan. Das Buch der damaligen Lebensgefährtin des Philosophen und Künstlers Guy Debord ist ein Roman und die Kritik des Romans zugleich. Wer das Nachwort liest, wird danach klüger sein, wer es bleiben lässt, hat möglicherweise zwei Stunden vertrödelt, auf angenehme Weise. Thomas Steinfeld

Michèle Bernstein: Alle Pferde des Königs. Aus dem Französischen von Dino Beck und Anatol Vitouch. Edition Nautilus, Hamburg 2015. 128 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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Von Kokotten und Koalitionen

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Schon in der "Rocky Horror Picture Show" singt der bestrapste Frank N. Furter: Don't judge a book by its cover. Das sollte man bei Adam Zamoyskis "1815" auch nicht tun. Der Schutzumschlag nämlich zeigt einen schottischen Kavalleristen, der französischen Soldaten den Adler ihres Regiments entreißt. So geschehen am 18. Juni 1815 bei Waterloo. Man könnte nun daraus schließen, dies sei eines der vielen Bücher über die Schlacht von Waterloo. Doch Zamoyski handelt die Schlacht nur in zwei Absätzen ab. Dafür erzählt er, wie es kam, dass Napoleon zweimal stürzte, und wie die europäische Allianz, in sich zerstritten, den Kontinent beim Wiener Kongress neu zu ordnen versuchte. Kokotten und Koalitionäre spielen dabei eine größere Rolle als die Kanonen. Der Erzähl-Historiker Zamoyski geleitet den Leser von Leipzig über Wien bis nach Waterloo und St. Helena. Ein Buch für alle, die wissen, dass Geschichte Gegenwart werden kann. Und eines für Europäer, die sich daran freuen können, dass fast alle der in Wien neu gezogenen Grenzen gefallen sind. Kurt Kister

Adam Zamoyski: 1815 - Napoleons Sturz und der Wiener Kongress. Verlag C.H. Beck, München 2014. 704 Seiten, 29,95 Euro. E-Book 24,99 Euro.

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Mottengift gegen die Tradition

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"Man lebt nicht gut als Sklavin einer mottenzerfressenen Tradition." Valancy, unverheiratet und von ihrer schrecklichen Familie tyrannisiert, wacht an ihrem 29. Geburtstag auf und sieht ein trostloses, erbärmliches Leben vor sich. Nichts würde sich jemals ändern, und sie war einfach nicht zur Rebellin geboren. Die Diagnose ihres Arztes schreckt sie auf. Ein Jahr hat sie noch zu leben; sie beschließt, die Zeit zu nutzen und wird schließlich vom Schicksal belohnt. Als die kanadische Autorin Lucy Maud Montgomery 1926 diesen unterhaltsamen Frauenroman verfasste, war sie bereits berühmt. Jetzt neu übersetzt, beeindruckt immer noch, wie sarkastisch und schonungslos ihr Roman das Leben der Frauen in der viktorianischen Gesellschaft schildert. Roswitha Budeus-Budde

Lucy Maud Montgomery: Das Schloss in den Wolken. Roman. Aus dem Engl. v. Nadine Püschel. Carlsen, Hamburg 2015. 368 Seiten, 18,99 Euro. E-Book 12,99 Euro.

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Der Wahnsinn des Jahrhunderts

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Aufstieg und Apokalypse des an sich selbst irre werdenden kommunistischen Riesenreiches, von der Zarenzeit bis zum Mauerfall, das ganz große Gemälde: hundert Jahre, zwei Weltkriege, drei Frauengenerationen, hunderttausend Tränen, 1280 Seiten. Eine Zumutung - und was für eine! Nino Haratischwili, 1983 in Tiflis geboren, seit 2003 in Hamburg lebend, erzählt hier die Geschichte der georgischen Geschwister Kostja und Kitty Jaschi (und ihrer Töchter; und Töchterstöchter), in deren Leben sich dieses wahnsinnige 20. Jahrhundert auf ganz unterschiedliche Weise vollzieht. Der eine wird Günstling des Regimes, die andere ohnmächtige Geliebte des Geheimdienstchefs, die nächste versucht mit allen Mitteln, die Familie zu retten. Und scheitert. Keiner, der diesen dreien einmal von Tiflis über Leningrad bis nach Moskau gefolgt ist, wird sie je wieder vergessen. Alles drin: Liebe, Hass, Verrat, Vergebung. Wahrheit und Kitsch. Krieg und Frieden. Wer jetzt Tolstoi schreit: auf eigene Verantwortung. Aber was soll man sagen, es stimmt ja. Tanja Rest

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka). Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014. 1280 Seiten, 34 Euro. E-Book 24,99 Euro.

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Taktgeber des neuen Denkens

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Vergessen und verdrängt wurde Frank Schirrmacher nach kurzer, eruptiver Erschütterung und einer unfassbaren Orgie gedruckter Nachrufe. Man kann seine immer gescheiten, hochtemperierten, alarmistischen, denksüchtigen und - ja, das auch - selbstverliebten Feuilletons, Aufsätze und Zwischenrufe heute noch einmal als Vergewisserung lesen, dass 1990 eben nicht das Ende der Geschichte war. Frank Schirrmacher war es, der den Anfang des neuen Denkens befeuert hat wie kein anderer Journalist in diesem Land: Demografischer Wandel, die Gen-Debatte, erste und weite Reisen in die Diktatur der Algorithmen, die Gier der Banken und Finanzmärkte, die aus dem bürgerlich-humanistischen Herausgeber der FAZ einen modernen Linken machte. In seinem Nachwort zu dieser sensationell lesenswerten Auswahl von Texten nennt Jakob Augstein ihn den "rasenden Reporter der Ideen", dem "der katastrophale Imperativ die Grundform seiner gedanklichen Grammatik" war. Es war auch die Grundform seines viel zu kurzen Lebens. Evelyn Roll

Frank Schirrmacher, Jakob Augstein (Hrsg.): Ungeheuerliche Neuigkeiten. Blessing Verlag, München 2015. 336 Seiten, 16,99 Euro. E-Book 13,99 Euro.

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Unsere Götter in Übersee

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Das ist hart für Shadow, der einfach seine Gefängniszeit absitzen wollte, danach der Neubeginn - nun soll er zwei Tage früher raus. Laura ist tot, seine Frau. Auf dem Flug nach Hause trifft er diesen merkwürdigen Unbekannten, der sich Mister Wednesday nennen lässt und sagt: Ich habe einen Job für Sie, Shadow. 1992 zog der britische Fantasy-Autor Neil Gaiman nach Amerika, auf Reisen durchs Land schrieb er Shadows Geschichte, wie er in traumhafte Dimensionen schaut, auch Laura wieder sieht. Das Buch kam erst gekürzt heraus; im Juni 2001 begann Gaiman seine PR-Tour, im Buchladen des World Trade Center. Nun ist es ungekürzt, das große Buch für die Zeit nach 9/11, den Kampf mit den unberechenbarsten, unglücklichsten Migranten - den uralten Göttern in Amerika. Fritz Göttler

Neil Gaiman: American Gods. Director's Cut. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. Eichborn Verlag, Köln 2015. 672 Seiten, 14 Euro. E-Book 10,99 Euro.

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Die gnädige Desillusionistin

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"Er tut mir so leid, in seinem Misserfolg, in seiner Unfähigkeit, einen Beruf als das zu sehen, was er ist: ein Zeitvertreib im Warten auf den Tod." - Ein Buch, in dem sich auf der fünften Seite ein Satz wie dieser findet, ein Satz, der einen nicht nur auf den Boden der Tatsachen herunterholt, sondern eben dort schon ein hübsches Grab ausgehoben hat, so ein Buch ist wie gemacht für den Sommer. Es heißt "Der Tag, als meine Frau einen Mann fand" und ist der neue Roman der großen Schweizer Desillusionistin Sibylle Berg. Es geht um Cloe und Rasmus, ein fast langweiliges Mittvierzigerpaar. Und ihren beinahe angewiderten Sex. Und um Liebe geht es natürlich auch irgendwie. Ein gutes Buch für die besten Tage im Jahr ist es auch, weil ja niemand das große Glück wirklich genießen kann, wer nicht eine Ahnung davon behält, dass es etwas Besonderes ist. Aber Sibylle Berg ist gnädig. Nach ein, zwei, drei Seiten sind die Kapitel meist schon wieder vorbei. Und womöglich ist es klug, das Buch dann auch wieder für eine Weile aus der Hand zu legen. Vera Schroeder

Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. Carl Hanser Verlag, München 2015. 256 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.

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Ablästern und Tee trinken

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Zu Evelyn Waughs 50. Todestag im kommenden Jahr soll sie abgeschlossen sein, die Neuausgabe seiner Romane und Erzählungen im Diogenes Verlag. Eine wahrhaft heroische Tat, ist doch Waugh, das brillanteste Ekel der Weltliteratur, ein wenig in Vergessenheit geraten - trotz "Downton Abbey", der Kult-Serie für Wachsjacken-Monarchisten, die sich gerne bei ihm bedient. Als Einstieg in Waughs gesammeltes Partygeflüster empfiehlt sich der jüngst erschienene Band "Lust und Laster", wie alle frühen Bücher Waughs Sittenbild der britischen Upperclass und satirisches Säureattentat zugleich. "Vile Bodies", so der Original-Titel, ist eine gnadenlos komische Roman-Sause über die Spaßgesellschaft der Roaring Twenties. Nur böse Menschen können so gute Bücher schreiben. Christopher Schmidt

Evelyn Waugh: Lust und Laster. Roman. Aus dem Englischen von Pociao. Diogenes Verlag, Zürich 2015. 288 Seiten, 23,90 Euro. E-Book 21,99 Euro.

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Zwischen allen Betten

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Manche Männer haben panische Angst, sich festzulegen; wenn sie sich verlieben, läuft bei ihnen ein innerer Film ab: Wie wird es sein, wenn die sexuelle Anziehungskraft nur einen Hauch nachlässt, wenn es ernst wird? Auch Nathaniel gehört zu den Wankelmütigen, obwohl er sich viel Mühe gibt, seine wechselnden Bettgefährtinnen nicht zu kränken. Für den 30-Jährigen läuft es gerade etwas zu gut, er hat einen lukrativen Buchvertrag in der Tasche, die Frauen finden ihn geistreich, doch aus seiner Dachkammer in Brooklyn will er nicht raus. Oder doch? Schließlich gibt es ja Hannah . . . Es macht viel Spaß, den Helden bei seiner Suche zu erleben, und man staunt über dieses Romandebüt: Wie kann es sein, dass die New Yorkerin Adelle Waldman so viel über Männer weiß? Christian Mayer

Adelle Waldman: Das Liebesleben des Nathaniel P. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Liebeskind Verlag, München 2015. 304 S., 19,90 Euro.

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Rebellion auf zwei Rädern

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Rachel Kushners "Flammenwerfer" spielt während der Siebzigerjahre in den Nachtklubs und Künstlerlofts von New York, auf der Rennstrecke in der Salzwüste von Nevada, auf einem Gutshof über dem Comer See, in den Arbeitervierteln von Rom. Zentrale Figur ist die junge Rennfahrerin und Künstlerin Reno. Es geht um Motorräder und Konzeptkunst, um den Geldadel und um Revolutionäre. Und mitten in diesem Erzählrausch werden die Liebe, die Gerechtigkeit und die Kraft der Rebellion verhandelt. Weil Rachel Kushner das alles aber mit der dramaturgischen Souveränität eines Hollywoodregisseurs zusammenhält, reißt einen der Roman in einen Strudel der Geschichten und Gedanken, dem man den literarischen Kraftakt nicht anmerkt, den sie da vollbringt. Andrian Kreye

Rachel Kushner: Flammenwerfer. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 560 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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Ein hinreißendes Husarenstück

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Patrick Leigh Fermor gilt als einer der besten Reiseschriftsteller Großbritanniens. Aber "Die Entführung des Generals", sein interessantestes Buch, ist kein Reisebuch, sondern eine abenteuerliche Erzählung, die sich im Nachlass des Autors gefunden hat. Es ist eine wahre Geschichte, ein hinreißender Text über ein Husarenstück, das der Autor einst selbst inszeniert hat. Damals, im Zweiten Weltkrieg, war Fermor Major und der Führer einer kleinen Truppe britischer Soldaten und kretischer Widerstandskämpfer, die 1944 den deutschen Befehlshaber auf Kreta entführt hat, um so die Moral der deutschen Truppe zu drücken. Das Buch ist kein politisches Buch, aber nebenbei lernt man auch, warum die Deutschen in Griechenland nicht den allerbesten Ruf haben. Fermor schreibt nüchtern, präzise, hochspannend. Und das Verrückte ist: Alles hat sich genau so abgespielt. Der Autor wirft sich nicht in Heldenpose, er schreibt mit Understatement. Dieses Buch wird auch diejenigen begeistern, die Kriegsliteratur eigentlich nicht leiden können. Heribert Prantl

Patrick Leigh Fermor: Die Entführung des Generals. Aus dem Englischen von Manfred Allié, Gabriele Kempf Allié. Dörlemann, Zürich 2015, 304 Seiten, 25 Euro, E-Book 18,99 Euro.

© SZ.de/aper
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