Buch zur Geschichte der USA:Rock 'n' Roll und Atombombe

Was macht die amerikanische Identität aus? Der Historiker Bernd Stöver erzählt die Geschichte der USA - von den ersten Siedlern bis zu Obama. Der harten Wirklichkeit weicht er nicht aus und beschreibt den "Völkermord" an Indianern, Xenophobie und Lynchjustiz.

Gert Raeithel

We Are One: The Obama Inaugural Celebration At The Lincoln Memorial

Ein Teil amerikanischer Identität? Bruce Springsteen vor dem Lincoln Memorial in Washington, bei der Feier zur Amtseinsetzung von Barack Obama 2009.

(Foto: AFP)

Über 700 Seiten Amerika: Bernd Stöver, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Potsdam, hat zuletzt eine kleine Geschichte Berlins vorlegt und jetzt eine große Geschichte der USA geschrieben. Er schildert politische, militärische und sozio-ökonomische Entwicklungen von der ersten Besiedlung durch Europäer bis hin zu Barack Obama. Dazu kommen eigene Kapitel über amerikanische Literatur, Musik, Film und andere kulturelle Sparten.

Der Autor stützt sich dabei kaum auf Archivmaterial, eher schon auf Primärtexte, mehr noch auf Monografien seiner Fachkollegen aus der Geschichts- und Politikwissenschaft und nicht zuletzt auch auf die Arbeiten deutschsprachiger Amerikanisten. Einer bestimmten historiographischen Schule lässt sich Stöver nicht zurechnen, eine durchgängige theoretische Grundierung ist nicht erkennbar. Er selbst definiert seinen Approach als eine Verbindung aus Struktur- und Mentalitätsgeschichte. "Was eigentlich amerikanische Identität ausmacht" - so lautet das übergeordnete Erkenntnisziel.

Die Recherche ist gründlich, die Prosa geradlinig, die Beschreibungen detailgenau. Noch das kleinste annektierte Atoll im Pazifik findet Erwähnung. Ausführlich behandelt das Buch Indianerkriege, Bürgerkrieg und Zweiten Weltkrieg. Die Abschnitte über Außenpolitik gehören zu den besten, das Scheitern Woodrow Wilsons, die zahlreichen globalen Interventionen. Im Einklang mit dem Forschungsstand widerlegt Stöver Mythen und Legenden: dass Deutsch beinahe Amtssprache in den USA geworden wäre; oder dass der Angriff auf Pearl Harbor überraschend kam.

Die dunklen Seiten abbilden

Das engere Spezialgebiet von Bernd Stöver ist der Kalte Krieg. Wie erklärt er den Zerfall der Sowjetunion? Einmal mit inneren Faktoren - das Wirtschaftssystem der UdSSR funktionierte nicht. Zweitens mit der amerikanischen Hochrüstung, die den Kreml überforderte ("Triumphalismus"), und schließlich mit der Entspannungspolitik und dem Wandel durch Annäherung. "Letztendlich trifft die Verknüpfung aller drei Thesen wahrscheinlich am ehesten die historische Wahrheit." Diese Beurteilung ist charakteristisch für den Autor: Statt sich auf einen Historikerstreit einzulassen, bietet er eine Synthese an.

Zu den überzeugenden Kapiteln des Buches zählen auch die Erörterungen des Bildungssystems, der ethnischen Hierarchisierung und der sozialen Ungleichheit. Wir staunen mit dem Autor über den Gleichmut, mit dem das Gros der Bevölkerung in den USA die ungleiche Einkommensverteilung in ihrer Krassheit hinnimmt.

Bernd Stövers Grundhaltung ist middle-of-the-road, doch scheut er sich nicht, die dunklen Seiten der amerikanischen Geschichte abzubilden. Was einem Reinhard Lettau oder einem Ekkehard Krippendorf noch wütende Kritiken der sogenannten NATO-Intellektuellen eintrug, ist heute Mainstream. So nennt Stöver die Behandlung der indigenen Bevölkerung "bewussten Völkermord". Er berichtet, wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg Menschenversuche an Indios durchführte -als gerade die Nürnberger Prozesse liefen. Die Auswahl des Bildmaterials belegt, dass Autor und Verlag der harten Wirklichkeit nicht ausgewichen sind: Waffenkult, Xenophobie, Lynchjustiz. Und ein riesiger Berg mit Büffelknochen: Die Ausrottung dieser Tiere geschah nicht aus Jagdleidenschaft, sondern um den indigenen Stämmen die Nahrungsgrundlage zu entziehen. Ein anderes Foto zeigt das völlig zerstörte Hiroshima - aufgenommen und signiert vom Piloten des todbringenden Flugzeugs.

Selbst altgediente Amerikaspezialisten werden in diesem Buch noch Informationen mit Neuigkeitswert finden. Der revolutionäre Hitzkopf Samuel Adams war früher königlicher Steuereintreiber. Der Bürgerkriegsgeneral Sheridan erteilte deutschen Offizierskameraden Ratschläge, wie man einen Krieg möglichst brutal führt. Welcher Leser hätte gewusst, dass es in den USA mehr als ein Cold War Museum gibt? Oder dass auf der B-Seite von Bill Haleys Hit "Rock Around the Clock" die Atombombe verharmlost wird?

Feminismus zwischen Discomusik und Aids

Bernd Stöver versteht es, Vergangenes an die Gegenwart anzubinden. Er referiert einige Verfassungsprinzipien und erwähnt bei dieser Gelegenheit, dass Washington einzelne Bundesstaaten kalt in den Bankrott gehen lässt, die über ihre Verhältnisse gelebt haben. Mit Respekt registriert man, wie es ihm gelungen ist, sein Werk bereits mit einer passablen Würdigung der bisherigen Amtszeit Barack Obamas abzurunden, oder wie er neueste Daten untergebracht hat, etwa den Prozentsatz übergewichtiger Amerikaner für das Jahr 2o12. Das Buch enthält die Nachricht über einen chinesischen Dissidenten, der im Mai dieses Jahres in die USA emigrieren durfte. Kompliment an den Verlag C. H. Beck, der sich in dieser Hinsicht abhebt von der Trödelei anderer Verlagshäuser.

Ziemlich nonchalant abgehakt

Dass ein Werk dieser Dimension einige sachliche Fehler enthält, ist nicht weiter verwunderlich. Das puritanische Erbe wurde vom Verfasser allein schon deshalb überstrapaziert, weil er die Prädestinationslehre mit dem Glaubenssatz von der Rechtfertigung durch gute Werke verwechselt. Oder: Es ist falsch, Federalist mit Föderalist zu übersetzen. Und: Die Mormonensekte entstand nicht in Europa. Ungleich problematischer ist die Gewichtung bestimmter Inhalte, die Abwesenheit ganzer Komplexe oder die Nennung von Randfiguren, während bedeutende Kulturträger unberücksichtigt bleiben.

Von einem Werk mit dem Untertitel "Geschichte und Kultur" dürfte man erwarten, dass dem Dreigestirn des Pragmatismus - John Dewey, Charles S. Peirce, William James - mehr als zwei Sätze gewidmet werden. Der eine Satz über Ralph Waldo Emerson enthält wenigstens eine Aussage, während es über Edward Hopper nur heißt: "Ein weiterer berühmter Vertreter war Edward Hopper." Der Kulturbeitrag der Amerikanerin wurde nicht ganz vernachlässigt, aber doch ziemlich nonchalant abgehakt. Kein Historiker muss sich zu den Zielen der herstory bekennen - doch den radikalen Feminismus einzwängen zwischen zwei Absätze über Discomusik und Aids?

Namen sind Nachrichten, aber war es nötig, sämtliche Mitverschwörer des Lincoln-Attentäters namentlich aufzuführen? Den peripheren deutschen Nazi Frank Spanknöbel oder die Rockgruppe ZZ Top aus Texas zu nennen, aber den Architekten Frank Lloyd Wright oder den Sprachforscher Noam Chomsky unerwähnt zu lassen? Dreimal Friedrich Gerstäcker, keinmal William Faulkner. Die Verlagswerbung spricht von einer Histoire totale. Das trifft auf den Kulturbereich nicht zu.

Doch wesentlich vollständiger und überzeugender ist, was Bernd Stöver über Politik, Wirtschaft, Militär und Gesellschaft zu sagen hat. Auf diesen Feldern kann man von einem einbändigen Werk über die Geschichte der Vereinigten Staaten vernünftigerweise nicht mehr verlangen.

Bernd Stöver: United States of America. Geschichte und Kultur. Von der ersten Kolonie bis zur Gegenwart. Verlag C.H. Beck, München 2012. 763 Seiten, 29,90 Euro.

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