Buch über Sprayer-Szene:Plötzlich steckt ein Mann seinen Kopf heraus und schießt

Buch über Sprayer-Szene: Auch hoch motivierte Mitbürger oder Hunde können ein Grund sein, als Sprüher die Flucht zu ergreifen.

Auch hoch motivierte Mitbürger oder Hunde können ein Grund sein, als Sprüher die Flucht zu ergreifen.

(Foto: Dirk Enters/mauritius images)

Das "Book of Bott" sammelt anarchische Berichte, in denen Graffiti-Sprüher vor der Polizei fliehen - und in Verstecken "eingezwängt zwischen der Angst vor Polizisten und der Angst vor Ratten" enden.

Von Felix Stephan

In dem viel diskutierten Roman "Sieben Nächte" des Theaterkritikers Simon Strauß geht es um einen jungen Mann, der, bevor alles in die Phase der großen Angestellten-Erschlaffung mündet, das Leben noch einmal intensiv spüren möchte. Er beschließt also, die sieben Todsünden zu einer To-do-Liste umzufunktionieren und bleibt im Laufe des Romans etwa faul zu Hause oder gibt sich in einem Restaurant der Völlerei hin.

In dem kleinen Kreuzberger Korbinian-Verlag ist jetzt ein Buch erschienen, das noch eine weitere Variante erörtert, der Saturiertheit und Mittelbarkeit des modernen Lebens vorübergehend zu entkommen: das Botten. Das ist ein Ausdruck, der im Berliner Sprachraum noch immer recht gebräuchlich ist und so viel bedeutet wie "wegrennen". Das Buch heißt "Book of Bott" und es versammelt authentische Berichte, in denen anonyme Graffiti-Sprüher erzählen, wie sie einmal fast von der Polizei erwischt wurden und deshalb gezwungen waren zu botten.

In der Sammlung finden sich wahre "Horror-Botts", in deren Verlauf die Flüchtenden kopflos durch unbekannte Viertel sprinten und sich vor Panik und Erschöpfung unterwegs übergeben. Und es gibt Botts, die eher von der Suspense leben und die sich vor allem in dunklen Ecken abspielen, in denen die Delinquenten in geduckter Haltung ausharren, die Luft anhalten und die Kegel der Taschenlampen vorbeihuschen sehen. In einer Geschichte liegt ein Protagonist stundenlang in einem U-Bahn-Tunnel im Kabelschacht, eingezwängt zwischen seiner Angst vor Polizisten und seiner Angst vor Ratten. In einer anderen schleicht der Erzähler paranoid durch ein Viertel in Ostdeutschland und schaut sich ständig über die Schulter, weil ostdeutsche Männer sich genauso anziehen wie Zivilpolizisten und sie deshalb kaum auseinanderzuhalten sind. Der Sprüher "Tzvoffnat" formuliert die Lage einmal so: "In meiner ganzen Zeit als Writer musste ich schon des Öfteren wegbotten. Ob das nun vor Bullen war, hoch motivierten Mitbürgern, Hunden oder Hubschraubern. Das gehört eben dazu."

Das Risiko lohnt sich, wenn ein Moment der Anarchie entsteht - also eigentlich immer

Der Aufbau der Geschichte ist fast immer identisch: In der Exposition wird beschrieben, wie es zu der unerhörten Situation kommen konnte, der Hauptteil schildert die Flucht, und der Schluss ordnet das Geschehen ein. Im Regelfall stellt sich am Ende heraus, dass sich der Aufwand, das Risiko und die Anstrengung insgesamt doch gelohnt haben, vor allem dann, wenn man der sedierten Vernunftgesellschaft erfolgreich einen Moment der Anarchie und Lebendigkeit abgeluchst hat, also im Grunde immer.

In der Geschichte "Dachbrand" wird dieses Programm ganz explizit formuliert: Ein paar Freunde verlassen spontan eine WG-Party in Berlin-Mitte, um über ein Baugerüst in der Nähe auf ein Dach zu klettern, auf dem gerade eine freie Fläche gesichtet wurde. Während sie schwer angetrunken auf dem viel zu steilen Spitzdach herumbalancieren, öffnet sich allerdings plötzlich ein Dachfenster, ein Mann mit einer Pistole in der Hand steckt seinen Kopf heraus, und fängt an, auf die Sprüher zu schießen. Sie verstecken sich hinter Schornsteinen, nutzen eine Feuerpause, um "wie hockende Skispringer nacheinander vom Dach aufs Gerüst" zu rutschen, können sich gerade noch fangen, entkommen über die Fassade, kehren zu der Party zurück und bekommen dort einen Lachanfall. Der letzte Satz der Geschichte lautet: "Wir waren am Leben."

Das "Book of Bott" tritt zum größten Teil als Sammlung authentischer Aussagen auf, von den Protagonisten selbst erzählt, als wären die Herausgeber Elias Hermann und Karl Dietrich im Rahmen einer ethnologischen Feldforschung mit einem Aufnahmegerät durch die Szene gelaufen und hätten dann die Transkripte veröffentlicht. Im Dokumentartheater ist die Methode längst etabliert, in der Literatur hingegen durchaus noch umstritten: Als Swetlana Alexijewitsch im Jahr 2015 für ihre Interviewsammlungen mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, wurde die Literarizität der Texte noch ausführlich bezweifelt.

Der schöne Nebeneffekt dieses Verfahrens besteht allerdings darin, dass im "Book of Bott" ein Berliner Straßendeutsch gesprochen wird, das klingt, als hätte es Alfred Döblin persönlich protokolliert: "Ich gab also Vollgas, das Bottface stand mir ins Gesicht geschrieben und hörte nur noch ein ,SCHEIßE!'-Ruf von dem Bullen. (...) Als die ausstiegen, dachte ich: ,Okay, hundert pro gebustet, keine Chance'." Bei Émile Zola war der niedere Stil, der genus humile, ein Angriff auf die dogmatische Formenschule der Pariser Literaturelite, die so versunken war in die akademische Traditionspflege, dass das bloße Abschreiben der sozialen Wirklichkeit als Naturalismus verspottet wurde. Und ganz ähnlich ist dieses Projekt aus dem Deutschland des Jahres 2018 wohl auch zu verstehen.

Die Romantik speist sich hier jedenfalls eher nicht aus den Bibliotheken. Als sich ein Sprüher an einer Stelle am Kreuzberger U-Bahnhof Kottbusser Tor vor der Polizei versteckt, ergibt sich dieser sentimentale Moment: ,Rattattattattattattaaaahhh!', unterbrach gelegentlich die U-Bahn, die direkt neben meinem Kopf verkehrte, mein Schwelgen. ,Du hast Recht, U-Bahn, alter Freund', sprach ich leise." Nicht das Absolute ist hier der Endpunkt der Sehnsucht, sondern die Möglichkeit, in einer Welt aus Glas und Stahl als fühlendes Ich vorzukommen.

Das Wertvollste, was ein Sprüher besitzt, ist die Speicherkarte, auf der sich seine Graffiti befinden

Untereinander haben die Protagonisten nur das Hobby gemein: Sie bemalen Wände und Züge, fotografieren ihre Werke und erzählen dann von den Momenten, in denen es fast schiefgegangen wäre. Walter Benjamins Beobachtung, dass jede Leidenschaft ans Chaos grenzt, nur die sammlerische an das der Erinnerungen, trifft auch hier zu: Das Wertvollste, was ein Sprüher besitzt, heißt es an einer Stelle, sei die SD-Card, auf der die Fotos gespeichert sind.

So könnte das also funktionieren mit der Wirklichkeitsemphase, allerdings stehen die Zeichen für diese urbane Kulturtechnik zurzeit eher auf Untergang: In Berlin schwinden die Baulücken und mit ihnen die leeren Hauswände. Vor Kurzem zählte der britische Guardian einige weltberühmte Berliner Graffiti auf, die in den kommenden Jahren hinter Neubauten verschwinden werden, darunter Arbeiten von Eduardo Paolozzi und Ben Wagin. Und weil es in Deutschland eben nicht zuletzt von der Herkunft abhängt, ob man Zeitungen und Bücher füllen darf oder doch nur die Wände, verschwindet mit den Freiflächen auch eine Art Öffentlichkeit.

Anders als die meisten anderen Medienschaffenden sprechen Sprüher tatsächlich mit dem Querschnitt der Gesellschaft, ihr Medium ist auf fast altmodische Weise un-identitär und klassenlos. Selbst Eugen Gomringers Gedicht "Avenidas" wurde erst an einer Wand zum Politikum. Im "Book of Bott" findet sich übrigens ein Gedicht mit dem Titel "Bot10" und das geht so: "Spa10, Exo10 & Mutan10 / sprüh10 & rann10 / Polizis10 & Rat10 / verra10 & bus10 / Welch Spas10". Die Chancen stehen nicht schlecht, dass es das zweite konkrete Gedicht sein wird, das in Berlin bald an einer Hauswand zu finden sein wird.

Elias Hermann & Karl Dietrich: Book of Bott. Korbinian-Verlag, Berlin 2018, 20 Euro.

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