Buch "Subkultur Westberlin 1979-1989":Promis, Trümmertunten und Zickereien

Tödliche Doris

Zwischen Punk und Post-Punk: Die "Tödliche Doris", fotografiert vor rund 25 Jahren im "Kumpelnest 3000", Berlin.

(Foto: Wolfgang Müller)

Im interessantesten Berlin-Buch der vergangenen Jahre erzählt Wolfgang Müller von Kunst und Kneipen im guten, alten Westberlin. Und von den Nächten und Tagen der "Tödlichen Doris".

Jens Bisky

In dem Jahr, in dem Chomeini nach Teheran zurückkehrte, Margaret Thatcher Premierministerin wurde und die Sowjets in Afghanistan einmarschierten, 1979 also, zog Wolfgang Müller von Wolfsburg nach Westberlin, um an der Hochschule der Künste zu studieren, bei Professor Ramsbott, im Fachbereich Visuelle Kommunikation/Experimentelle Filmgestaltung.

Es ging ihm um "Freiheit", "schöpferische Entfaltung", wovon die konventionelle Kunstszene der Inselstadt viel zu wenig bot. Also gründete er gemeinsam mit seinem Kommilitonen Nikolaus Utermöhlen eine Musikgruppe, "Die Tödliche Doris", die in wechselnder Besetzung bis zum Jahr 1987 bestand. "Subkultur Westberlin" heißen nun Müllers Erinnerungen an die Jahre zwischen Punk und Post-Punk, wichtiger noch scheint der Untertitel "Freizeit", denn: "Westberlin war 'Freizeit', war freier Raum". Hier ließ sich ein ziemlich bequemes Leben führen, anfangs auf lediglich dreißig Quadratmetern "ohne Bad, dafür mit Kohleheizung und Außenklo".

Der Luxus, den die subventionierte Stadt bereit hielt, bestand kaum in materiellen Reichtümern, sondern in Zeit, die nie verging, und in der Möglichkeit, auszuweichen, im beengten Raum neue Freiräume zu erschließen. Der Musiker Alexander von Borsig, damals Gitarrist bei den "Einstürzenden Neubauten", erinnert: "In den Achtzigerjahren lief ein ganz normaler Tag folgendermaßen ab: Irgendwann hast du deine Wohnung verlassen und bist losgegangen, von einem Ort zum nächsten. Wahrscheinlich bist du dann mal sechs Stunden in der Wohnung von irgendjemandem hängen geblieben. Von dort aus bist du wieder in den Club gegangen, der gerade aufgemacht hatte oder noch auf war. Danach bist du wieder weitergezogen. Möglicherweise hast du mal eine Weile geschlafen, bei dir zu Hause oder irgendjemandem, den du kennen gelernt hast. Das ging fortwährend immer so weiter".

Schutz gegen Westdeutschland

Wer Karriere machen wollte, ging nicht unbedingt nach Westberlin. Geschäftigkeit und Zukunftsdenken herrschten, so Müller, anderswo. Die Mauer bot "Schutz gegen Westdeutschland". Sie abzureißen schien Blixa Bargeld keine gute Idee. 1983 erklärte er gegenüber dem englischen Musikmagazin NME: "It would be like living in West Germany and West Germany is totally uninteresting", so uninteressant, möchte man ergänzen, wie das Erwachsenenleben für einen Teenager.

Diese Geisteshaltung ist nach dem Mauerfall, in den vielen Krisen Berlins, ausgiebig verhöhnt und verdammt worden. Wie viel ihr dann doch zu verdanken ist, wie geschickt manche die Freiheit genutzt haben, kann man nun in Wolfgang Müllers Buch nachlesen, das gewiss das interessanteste Berlin-Buch der letzten Jahre ist.

Drei Beispiele: Mark Ernestus, der auch bei Prof. Wolfgang Ramsbott studierte, plante für seinen Meisterschülerabschluss ein "Readymade-Lokal": Er übernahm das Bordell "Club Maitresse", änderte nichts und eröffnete es am 1. Mai 1987 als "Kumpelnest 3000". Der Name verdankte sich dem hübschen Frankokanadier und Escort-Boy David Steeves, der zwei Betrunkene, eng umschlungen aus einer Erotik-Bar kommen sah und laut fragte, ob sich dort wohl ein "Kumpelnest" befände. Die Jahreszahl "3000" fügte etwas Frisches, Verheißendes hinzu.

Stadt "genialer Dilletanten"

Am 1. Mai dieses Jahres wird das noch immer beste Absturzlokal Berlins, in dem man wirklich aus der Zeit fallen kann, seinen 25. Geburtstag feiern. Ein wenig älter ist das SO 36, am 13. August 1978 mit einem "Mauerbaufestival" eröffnet. Man nahm eine Anregung von Joseph Beuys auf: "Erhöhung der Berliner Mauer um 5 cm (bessere Proportion!)". Im Merve-Verlag veröffentlichte Wolfgang Müller 1982 das Buch "Geniale Dilletanten": Mit Doppel-L und Einsparung beim T - wie sonst sollte man die lallende Keckheit der Berliner Lebenskünstler und Tagediebe schreiben?

Wolfgang Müller macht es dem Leser nicht leicht. Auf einen hinreißen schwungvollen ersten Teil, assoziativ aneinandergereihte Erinnerungen, folgt eine zweite, vieles wiederholende Erzählung, die mit manchen Aufzählungen und Kleinigkeiten ermüdet, dann aber wieder durch wunderbare Porträts besticht. Man kann in dem Buch einiges über Promis erfahren, Martin Kippenberger oder Blixa Bargeld, Karl Lagerfeld oder David Bowie, über Kneipen, Läden, die Anfänge der taz, bei der Müller 1979 wenige Woche als Setzer arbeitete, über Trümmertunten, Super-8-Filme und Zickereien, man kann in ihm nostalgisch verzückt blättern und es als Reiseführer in entspanntere Zeiten missverstehen.

Wer nicht dabei war und der Meinung ist, auch Kreuzberg dürfe sich weiterentwickeln, solange das SO 36 bestehen bleibt, der liest diese Erinnerungen am besten als Kommentar zur gegenwärtigen Lage in der Hauptstadt. Wolfgang Müller blickt immer wieder über das Epochenscheidejahr 1989 hinaus, verfolgt die späteren Schicksale der Subkultur-Protagonisten. Er verteidigt Muße, freie Zeit, Pausen und die "Ästhetik der Absage", den Lebensstil der "Antiberliner" (Eberhard Diepgen).

Gegen "Bionade-Biedermeier" und hemmungslosen Kapitalismus

Also wettert er gegen "Bionade-Biedermeier", Machogehabe, das utilitaristische Menschenbild einer sich brutalisierenden Gesellschaft, hemmungslosen Kapitalismus, gegen Neoindividualliberalismus insgesamt: "Erfolg und Misserfolg des Individuums werden nicht mehr mit strukturellen, politischen und sozialen Ungleichheiten wie Geschlecht, Herkunft und so weiter erklärt, sondern als eine rein persönliche, höchst individuelle Angelegenheit des betreffenden Individuums betrachtet."

Will man wirklich noch einmal hören, der Raum der Kunst sei heute "homogen", weil alles dem "einen Kommando" folge: "Sei frei und brich alle Grenzen!"? Was soll die gewundene Verteidigung der Kübeltruppe, die 1987 das "Maxwell" in Kreuzberg mit einem Fäkalienattentat heimsuchte? Es mag dieses Restaurant ja unerträglich gewesen sein, aber Großstadt mit Freiräumen heißt eben auch, am mir Unerträglichen vorüberzugehen und dabei bestenfalls mit den Ätztussis, einer Frauen-Punkband, zu singen: "Hey du linker Spießer . . . / Wir sind Punks / Passen uns nicht an / Pissen in die U-Bahn/ Scheißen auf jeden Zwang."

Der Philosoph Martin Bauer hat es einmal als Besonderheit Westberlins bezeichnet, dass man dort die "Narzissmen der kleinsten Differenz" ungestört entwickeln konnte, weil die Milieus nicht gezwungen waren, sich "im Medium des Arguments" über divergierende Geschmacksurteile, Meinungen, Lebensstile zu verständigen. Die besondere Atmosphäre der Stadt schützte auch vor dieser "zivilisierenden Zumutung". Mancher Kommentar Müllers bestätigt die These, und doch liest man das Buch mit Gewinn. Es zeigt, und das meist unterhaltsam, wie viel von Westberlin heute noch lebendig ist, wie sehr die Atmosphäre der Unwirklichkeit und Vorläufigkeit auch die Hauptstadt der Berliner Republik prägt.

Wolfgang Müller: Subkultur Westberlin 1979-1989. Freizeit. Fundus Band 203. Philo Fine Arts, Hamburg 2013. 600 Seiten, 24 Euro.

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