Buch mit Nachrufen:"Der Tod zwingt zur Ehrlichkeit"

Golzheimer Friedhof Düsseldorf

Der Tod lasse sich nicht so leicht schönreden wie die restliche Biografie, meinen die Buchautoren Georg Thiel und Florian Baranyi.

(Foto: dpa)

Zwei österreichische Autoren skizzieren das 20. Jahrhundert in Nachrufen, unter anderem auf Oscar Wilde und Lolo Ferrari. Im Interview erklären Georg Thiel und Florian Baranyi, warum der Tod zur Ehrlichkeit zwingt und was George Orwell und Aldous Huxley verbindet.

Von Carolin Gasteiger

Oscar Wilde starb an einer Hirnhautentzündung und war kurz vor seinem Tod noch zum Katholizismus konvertiert. Alban Berg verschied tragisch an Heiligabend an einer Blutvergiftung; Charles Bukowski konnte dem "rough motherfucker" Leukämie schließlich nichts mehr entgegenhalten. Und bei Lolo Ferrari ist bis heute nicht klar, ob wirklich ihre Brustimplantate ihr das Leben kosteten. In dem Buch "Alle tot" versammeln die österreichischen Autoren Georg Thiel und Florian Baranyi 101 Persönlichkeiten aus dem 20. Jahrhundert. In Nachrufen.

SZ.de: "Alle tot" ist ein sehr pessimistischer Titel für ein Buch. Sind Sie Schwarzseher?

Florian Baranyi: Nein, wir haben eher eine realistische Weltsicht: In unserem Buch geht es ja um Menschen, die kein ausschließlich schönes Leben hatten - und das Negative wollen wir nicht beschönigen.

Georg Thiel: Der Titel ist eigentlich ein Zitat aus Thomas Bernhards Theaterstück "Elisabeth II.". Das endet mit den Worten: "Wahrscheinlich sind alle tot."

Wie kommt man darauf, ein Jahrhundert in Nachrufen zu erzählen?

Thiel: Das war Zufall. Im Literaturarchiv in Marbach sind mir einige Exemplare "Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog" in die Hände gefallen. Das war ein Nachschlagewerk über die im Vorjahr Verstorbenen, naturgemäß von einem Wiener herausgegeben. Denen sagt man ja nach, dass sie ein besonders inniges Verhältnis zum Tod haben. So kam ich auf die Idee.

Ihre Auswahl ist überraschend und amüsant: Mit Oscar Wilde fängt das 20. Jahrhundert an, mit Lolo Ferrari endet es.

Baranyi: Wir sind beide sehr literaturaffin und hatten anfangs viele Schriftsteller auf der Liste. Mein erster Nachruf galt Joan Vollmer, Muse der Beat-Generation, weil mich ihre Wilhelm-Tell-Geschichte fasziniert hat. Aber im Laufe der Zeit hat sich die Auswahl verschoben. Wir wollten uns nicht nur Künstlern widmen, sondern ganz generell Menschen, die eine originelle Lebensgeschichte haben.

Joan Vollmer (1923-1951)

Nehmen wir an, dass die Muse der Beats mit einem Glas auf dem Kopf starb, konzentriert, ohne eine Miene zu verziehen. Die letzten Worte, die sie hörte, waren: "It's about time for our William Tell act. Put a glass on your head, Joan."

Also stellen Sie Menschen vor, die einen außergewöhnlichen Tod starben?

Baranyi: Das war die Ursprungsidee, die allerdings nicht durchzuhalten war. Viele Menschen starben dann doch an ähnlichen Krankheiten. Also haben wir nach außergewöhnlichen Details gesucht, wie dem herzzerreißenden Telegramm, das Jazz-Legende Charlie Parker an seine Frau schickte - und das den Anfang vom Ende bedeutete. Zwei Jahre später starb Parker an seinen Süchten, offiziell an einer Lungenentzündung.

Charlie "Bird" Parker (1920-1955)

Es gibt eine Art von Wahn, der sich nur über die Sprache offenbart. In dem Telegramm Birds aus dem März 1953, das er Chan zusandte, nachdem er vom Tod seiner zweijährigen Tochter Pree erfahren hatte, lässt sich ein solcher Fall nachvollziehen: "Meine Tochter ist tot. Ich weiß es. Ich komme, so schnell ich kann. Mein Name ist Bird. Es ist schön, hier zu sein. Die Leute waren sehr nett zu mir. Ich komme sofort nach Hause. Nimm's nicht so schwer. Lass mich der erste sein, der sich dir nähert. Ich bin dein Mann. In Liebe, Charlie Parker."

Thiel: Einzelne Biografien sind auch miteinander verwoben. Als George Orwell (gestorben 1950) nach Eton kam, unterrichtete Aldous Huxley dort Französisch, was den jungen Orwell sehr beeindruckte. Huxley starb 1963. Und Charles Bukowski wurde gegen Ende seines Lebens, schwer vom Krebs gezeichnet, von einer Meditationslehrerin behandelt, die Zeugin des Suizids von Ernest Hemingway gewesen war.

Baranyi: Oft musste ich beim Schreiben über die vielen schelmischen Gestalten schmunzeln. Nehmen wir den Maler Marcel Duchamp, der hat ein Leben lang Scherze gemacht. Und diese positive Lebenseinstellung merkt man auch seinem Sterben an. Wenn jemand in seinen Grabstein einmeißeln lässt "Im Grunde sind es immer die anderen, die sterben", dann zeugt das durchaus von Humor.

Marcel Duchamp (1887-1968)

Martins (Maria Martins, mit der Duchamp eine Beziehung unterhielt, Anm. d. Red.) vermutete in dem Farbklecks der Paysage fautif stets einen frivolen Scherz Duchamps. Bei einer naturwissenschaftlichen Analyse des Bildes 1989 stellte sich heraus, dass sie recht hatte: Duchamp hatte das Bild aus mit Farbe vermischtem Sperma gemalt. Das Werk gilt als das erste Bild der Körperflüssigkeitenkunst, die im 20. Jahrhundert bekanntlich noch exzessivere Blüten treiben sollte.

Ist der Nachruf die Textform unserer Zeit?

Aber die meisten Menschen verlässt der Humor angesichts des Todes. Klammern wir das Sterben zu sehr aus?

Baranyi: In unserer Gesellschaft gibt es eine gewisse Form von Jugend und Lebenskult. Über den Tod denken wir nicht gern nach. Aber wer sich ebenso mit dem Sterben wie mit dem Leben beschäftigt, gewinnt eine gewisse Leichtigkeit. Und der Tod zwingt zur Ehrlichkeit: Wir haben beim Schreiben versucht, nicht ein glitzerndes Leben nachzuzeichnen, sondern immer dessen Ende im Blick zu haben. Schließlich wirft der Tod ein ganz anderes Licht aufs Leben. Er lässt sich nicht so leicht schönreden wie die restliche Biografie.

Unsere Gesellschaft wird immer älter. Ist der Nachruf die Textform unserer Zeit?

Baranyi: An sich ist der Nekrolog ja eine sehr veraltete Literaturform. Es geht um die Lebensleistungen, die positiven Aspekte des Lebens. Die Verschiebung, die wir vorgenommen haben, zeigt Menschen, die nicht nur ein spannendes Leben hatten, sondern auch einen herausragenden Tod gestorben sind. Und der hat im Idealfall mit der Zeit zu tun, in der die Personen gelebt haben.

Thiel: Die vorhin erwähnte Buchreihe ist 1917 eingestellt worden, aber Nachrufe gehören vor allem in englischsprachigen Zeitungen nach wie vor zum festen Repertoire. Wir haben einfach den Versuch unternommen, ein Jahrhundert mit 101 Toten zu erklären.

Wenn man von den Toten in Ihrem Buch auf das 20. Jahrhundert schließt: Was war das für ein Jahrhundert?

Thiel: Bezeichnend ist, dass das 20. ein Jahrhundert der Technik war. Im 19. Jahrhundert kam schließlich niemand bei einem Autounfall oder Flugzeugabsturz ums Leben. Aber es ist wohl auch deutlich brutaler. Die Möglichkeiten der Vernichtung sind andere.

Baranyi: Es ist außerdem das Jahrhundert des Selfmade-Man oder der Selfmade-Woman. Vielen Künstler wäre es im 20. Jahrhundert aus gesellschaftlichen Gründen nicht vergönnt gewesen, erfolgreich zu sein. Aber sie haben sich selbst stilisiert und gekonnt in den Medien präsentiert. Eva "Evita" Perón etwa hat es nicht nur durch ihre Heirat, sondern auch durch Film und vor allem Radio geschafft, von der chancenlosen, nicht anerkannten Tochter eines Gutsherren zur Frau mit dem größten politischen Einfluss ihrer Zeit zu werden.

Eva Perón (1919-1952)

Beim Wahlkampf Peróns 1946 war es Eva, die die mittellosen Teile der Gesellschaft, die sogenannten descamisados (Hemdlosen), für ihren Mann mobilisierte. Sie hatte eine wöchentliche Radioshow, in der sie lange Reden zu seinen Gunsten hielt. Ihre eigene ärmliche Herkunft brachte ihr die Sympathien des Volkes ein. Sie war die nichteheliche Tochter eines Großgrundbesitzers und seiner Geliebten, die dem Ehrenmann von ihrer eigenen Mutter für eine Stute und ein Pferdefuhrwerk überlassen worden war.

Prägen die Toten nun das Jahrhundert oder andersherum?

Baranyi: Es ist schon das Jahrhundert oder vielmehr sind es die gesellschaftlichen Umstände, die Personen und Lebensläufen ihren Stempel aufdrücken - auch in unserem Buch.

Buchcover "Alle tot"

"Alle tot", Das 20. Jahrhundert in 101 Nachrufen. Verlag Anton Pustet, 320Seiten, 25 Euro

(Foto: Verlag Anton Pustet)
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