Buchkritik "Ehrenmord - Ein deutsches Schicksal":Aus der Parallelgesellschaft

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Ein junger Mann ermordet seine eigene Schwester, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Wenige Gewaltverbrechen haben das Land so stark erschüttert wie die Bluttat an Hatun Sürücü. Die Autoren Matthias Deiß und Jo Goll entschlüsseln in ihrem Buch "Ehrenmord - Ein deutsches Schicksal" die Hintergründe - und gelangen zu einer beklemmenden Erkenntnis.

Verena Mayer

Diese zwei Fotos haben die Integrationsdebatte in Deutschland geprägt. Das eine zeigt eine dunkelhaarige Frau im Blaumann, in der Hand eine Bohrmaschine. Die angehende Elektroinstallateurin Hatun Sürücü. Auf dem zweiten sieht man eine Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof. Auf dem Boden, bedeckt mit einem Tuch, die Leiche von Hatun Sürücü.

Gedenken an die ermordete Hatun Sürücü: Anders als in dem knappen Film ist in dem Buch Platz für die Zwischentöne. (Foto: picture-alliance/ dpa)

Zwischen diesen beiden Bildern liegt der Versuch einer jungen Türkin, zu arbeiten und ein Kind zu erziehen. Zu lieben, wen sie will, und zu glauben, was sie will. Es ist Hatun Sürücü nicht gelungen. Am 7. Februar 2005 schoss ihr Bruder Ayhan ihr dreimal in den Kopf. Sie wurde 23 Jahre alt.

Das Verbrechen löste eine beispiellose Diskussion über die sogenannte Parallelgesellschaft aus. Es brachte Politiker dazu, die seltsamsten Sachen zu sagen. So forderte der Berliner Innensenator die gesamte Familie Sürücü auf, das Land zu verlassen, auch die minderjährigen Töchter und diejenigen, die einen deutschen Pass hatten. Als gebe es eine Sippenhaftung.

Und der Fall Sürücü brachte die deutsche Justiz an ihre Grenzen. Beim Prozess in Berlin waren drei Brüder angeklagt, gemeinsam sollen sie den Mord geplant haben. Es gab eindeutige SMS, und da war Ayhans Freundin, die nach der Tat mit den Brüdern in der U-Bahn saß. Die waren wie im Rausch, und einer sagte zu Ayhan: "Ich hab dir doch gesagt, schieß nur einmal auf den Kopf."

Verurteilt wurde aber nur Ayhan, damals 18. Die anderen wurden im Zweifel freigesprochen und setzten sich in die Türkei ab. Inzwischen hat der Bundesgerichtshof die Freisprüche aufgehoben, der Prozess muss neu aufgerollt werden. Ob und wann, ist unklar. Die Türkei liefert ihre Staatsbürger nicht aus, und aus Deutschland ist der Druck nicht besonders groß, es dennoch zu tun. Der Mord an Hatun Sürücü ist noch immer nicht gesühnt.

Erschütternd und erhellend

Nun haben die Autoren Matthias Deiß und Jo Goll vom RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg) den Faden wieder aufgenommen. Sie lassen die politische Diskussion links liegen und recherchieren dort, wo es am ehesten Erklärungen gibt: am Ort der Tragödie, in der Familie. Sie haben den Weg der Sürücüs verfolgt, von den Dörfern Anatoliens, wo die Sürücüs Hirten waren, bis zum Kottbusser Tor, wo die Familie zu elft in einer Vier-Zimmer-Wohnung lebte. Sie haben mit Verwandten gesprochen, mit Behörden und Freundinnen von Hatun.

Und sie haben Ayhan Sürücü getroffen, der derzeit in Berlin seine Jugendstrafe absitzt. Ayhan kochte Tee für die Journalisten und redete. Von der Therapie und der Tischlerlehre im Gefängnis. Davon, dass er in Berlin nie einen deutschen Freund hatte. "Den ersten hab ich hier im Knast kennengelernt."

Herausgekommen sind eine ARD-Dokumentation über einen jungen Mörder und das Buch "Ehrenmord - Ein deutsches Schicksal". Anders als in dem knappen Film ist in dem Buch Platz für die Zwischentöne. Für die vielen kleinen Details und unglücklichen Verkettungen, die zu dem Verbrechen geführt haben. "Ehrenmord" ist das so erschütternde wie erhellende Porträt einer Familie.

Da ist der strenggläubige und depressive Vater, der selten anwesend ist. Die Mutter, die neun Kinder großzieht und kaum Deutsch spricht. Die älteren Brüder Alpaslan und Mutlu. Der eine versucht sein Glück in der Gastronomie, der andere in der Religion. Tochter Hatun wird mit 16 aus dem Gymnasium genommen und in der Türkei mit einem Cousin verheiratet. Sie wird schwanger. Nach einem Jahr scheitert die Ehe, Hatun kehrt zu ihrer Familie zurück. Ayhan schließlich, der jüngste Bruder, ist mit seinen 16 Jahren für die Familie verantwortlich. Er wacht über die Schwestern, vertritt Vater und Mutter bei Elternabenden.

Behutsam zeichnen die Autoren die Dynamik dieser Familie nach. Wie alle versuchen, ihren Weg zu finden und dabei scheitern. Der Vater rackert sich in einer Großbäckerei ab, fasst in Deutschland aber nie Fuß. Mutlu will die Werte seines Vaters übernehmen, wird zum Islamisten, der auch in der Türkei im Abseits steht. Die Autoren haben ihn in Istanbul getroffen, mit langem Vollbart, über die Scharia schwadronierend. Hatun wiederum will es in Deutschland schaffen, in einem Männerberuf und als Alleinerziehende, und sie bricht mit allem, was der Familie heilig ist.

Bis heute ist unklar, warum Hatun erschossen wurde. Ob die Familie dahintersteckte oder gar ein radikaler Imam eingeweiht war. Fest steht, dass die junge Frau ständig Thema war. Ob am Familientisch oder auf dem Hof des Sozialbaus - immer ging es um Hatun. Die unverheiratet und unverschleiert war, Beziehungen zu deutschen Männern hatte. Irgendwann hat Ayhan in seiner Überforderung und Selbstüberschätzung wohl geglaubt, auch dieses Problem lösen zu müssen. Er besorgte eine Pistole und Munition. Am 7. Februar 2005 besuchte er Hatun, überredete sie, ihn zur Bushaltestelle zu begleiten. Sie ging mit, ihr Sohn blieb allein in der Wohnung. Er lebt heute in einer Pflegefamilie.

Goll und Deiß enthalten sich in ihrem Buch jeder Wertung. Auch den heiklen Begriff "Ehrenmord" diskutieren sie nur kurz. Sie beschreiben lieber die einzelnen Personen in ihrer Ambivalenz: Die Verwandten aus Ostanatolien, die um einiges fortschrittlicher denken als die Sürücüs in Kreuzberg. Hatuns Schwestern, die zwischen ihrer Liebe zu Hatun und der Loyalität der Familie gegenüber aufgerieben werden. Die kleine Tochter, die auf Mutlus Schoß sitzt, während er über die Steinigung ehrloser Frauen spricht. Familientragödien, so zeigt sich einmal mehr, sind vielschichtig.

Diffuses Einverständins in der Familie

Grundsätzlich muss sich das Projekt die Frage gefallen lassen, ob man einem Mörder eine solche Plattform bieten darf. Ob es zur Resozialisierung beiträgt, wenn sich ein junger Mann, der aus Selbstüberschätzung getötet hat, nun zur Knastprominenz zählen darf. Nicht umsonst untersagen die meisten Gefängnisse solche Interviews, wie sie diesem Buch zugrundeliegen. Andererseits verdanken sich der Täterperspektive wesentliche Erkenntnisse. Über das diffuse Ehrverständnis etwa, das durch die Familie Sürücü geisterte. "Hinter dem Begriff Ehre stand immer in Klammern gesetzt 'meine Mutter', 'meine Schwester' oder 'meine Frau', was auch immer."

Goll und Deiß haben so interessante Gesprächspartner aufgetan wie Melek A., Ayhans frühere Freundin. Das Mädchen aus einer liberalen türkischen Familie gerät unter den Einfluss einer Sürücü-Schwester, die aus ihr eine strenge Muslima machen will. Melek A. beginnt, das Kopftuch zu tragen, will einem Islamverein beitreten. Noch am Tag nach der Tat wollen die Sürücüs sie mit Ayhan verheiraten, damit sie nicht gegen ihn aussagt. Sie tut es trotzdem. Seither muss sie um ihr Leben fürchten, sie ist mit ihrer Mutter untergetaucht.

Zu Wort kommt auch ein kurdischstämmiger Abgeordneter der Linkspartei, der eine gespenstische Vermittlerrolle spielt. Er wird in Familien gerufen, wenn ein Ehrenmord bevorsteht. Dann sitzt er mit Männern zusammen, die im deutschen Exil die mittelalterlichen Werte konserviert haben, über die man in den Herkunftsländern längst hinweg ist. Der Politiker sagt, dass sich oft eine friedliche Lösung finden lasse. Die Männer und Brüder lassen ihre Töchter oder Schwestern in Ruhe, die sich wiederum im Gegenzug von der Familie fernhalten. Der Abgeordnete glaubt, ein Teil der Tragödie sei Hatuns Wunsch gewesen, von den Sürücüs so angenommen zu werden, wie sie war.

Unterstützt wurde Hatun Sürücü bis zuletzt von den deutschen Behörden. Aus hunderten Aktenseiten lässt sich rekonstruieren, wie sehr dem Staat daran gelegen war, Hatun das Leben zu ermöglichen, das sie führen wollte. Es gab eine Sozialarbeiterin, Hausbesuche, Hilfekonferenzen. Ein Mutter-Kind-Heim und ein Ausbildungsplatz wurden vermittelt, Therapien bezahlt, Mietschulden gestundet. Doch gegen die Liebe, die Hatun Sürücü immer wieder zu ihrer Familie zurückzog und damit in den Dunstkreis ihres Bruders, konnte der Staat nichts ausrichten.

MATTHIAS DEISS, JO GOLL: Ehrenmord. Ein deutsches Schicksal. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 256 Seiten, 18,99 Euro.

© SZ vom 30.08.2011/js/pak/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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