Bruce Springsteen:Der Boss als Heiliger

Bruce Springsteen ist nicht einfach ein Rockmusiker. Er ist eine Religion - und die Erfindung eines Popkritikers. Schmälert letzteres seine Bedeutung? Überhaupt nicht.

Stephen Metcalf

In seinen ersten Konzerten in den frühen siebziger Jahren erzählte Bruce Springsteen gern irgendeine vollkommen unwahrscheinliche Geschichte aus seiner Jugend. Die Band dudelte dazu im Hintergrund vor sich hin. Und das schüchterne Lächeln Springsteens machte deutlich, dass er es keine Sekunde ernst meinte. Der Sänger und Gitarrist war damals bestenfalls eine regionale Größe und tourte durch heruntergekommene Bars und Clubs an der Atlantikküste.

Bruce Springsteen in Bilbao

Bruce Springsteen bei einem Konzert mit der E Street Band am 26. Nobember 2007 in Bilbao.

(Foto: Foto: ap)

Im Grunde spielte er überall, wo man ihn auftreten ließ. Routinemäßig begannen Springsteen-Shows damit, dass Menschen aus dem Publikum, Geschenke auf die Bühne warfen. Keine BHs oder Schlüpfer, sondern tatsächlich irgendetwas nettes Billiges. Springsteen war einer von ihnen. Ein kleiner, dünner Kerl von der Atlantik-Küste.

1978, mit der Veröffentlichung seines vierten Albums "Darkness at the Edge of Town" hatte sich die liebenswürdige Hafenratte Bruce Springsteen jedoch verwandelt. Bruce Springsteen war der grundehrliche amerikanische Durchschnittstyp geworden, als der er heute bekannt ist, ein Mann, der Autos liebt und seine Frau und ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater hat. Er hat sich diese Rolle so einverleibt, dass es fast unmöglich erscheint, heute daran zu erinnern, dass sie einst eine Erfindung war.

Das Intellektuelle austreiben

Aber das war sie. Und es war noch nicht einmal seine eigene. Der moderne Mythos Bruce Springsteen ist eine Erfindung des Journalisten Jon Landau. Demselben Kritiker des wichtigsten amerikanischen Musikmagazins Rolling Stone, der 1974 nach einem Springsteen-Auftritt den berühmten Satz notierte: "Ich habe die Zukunft des Rock'n'Roll gesehen, sie trägt den Namen Bruce Springsteen."

Ob er damit recht hatte, sei vorerst dahingestellt. Sicher ist, dass Bruce Springsteen die Zukunft Jon Landaus war. In den folgenden Jahre schrieb sich der Rockkritiker, der weiterhin der Rolling-Stone-Redaktion angehörte, in die Kunst und das Bewusstsein Bruce Springsteens ein und wurde schließlich auch dessen Produzent, Manager und unersetzliches Mädchen für alles. Anders als der vom Leben gebeutelte Springsteen aus Fairhold, New Jersey, kam der Journalist Landau aus einem wohlhabenden Vorort Bostons und hatte einen sehr guten Abschluss in Geschichte von der Universität Brandeis in der Tasche.

Als erstes drückte dieser Landau seinem neuen Schützling eine Liste mit Klassikern der amerikanischen Literatur in die Hand, John Ford, Steinbeck und Flannery O'Connor. Und während er Bruce Springsteen zum Intellektuellen machte, trieb er ihm gleichzeitig das Intellektuelle aus. Einen transzendenten Effekt, glaubte Landau, habe Rockmusik nämlich nicht, weil sie sehr kompliziert sein könne, sondern weil sie so primitiv sei. Das weiße Album der Beatles, Jimi Hendrix und die New Yorker Band Velvet Underground hätten der Rockmusik die Kraft geraubt, die sie in der Zeit vor den Beatles noch gehabt hätte, bei Del Shannon etwa und den Ronettes. Dementsprechend kleiner wurde Springsteens musikalisches Vokabular.

Hundstage für Hafenratten

Auf "Darkness at the Edge of Town" waren West-Side-Story-ähnliche Jazz-Passagen, wie sie noch auf "The Wild, the Innocent, and the E Street Shuffle" zu hören gewesen waren, verschwunden. Stattdessen gab es dichte, gitarrenlastige Songs im einfachen Schema Einstieg-Strophe-Refrain-Strophe-Übergang-Refrain. Ganz ähnlich wandelte sich das Image der Person Bruce Springsteen. Auf dem Cover von "Darkness" sieht er aus wie der noch blassere Cousin von Sonny Wortzik, dem schon ziemlich blassen, von Al Pacino verkörperten, Anti-Helden in dem Kinofilm "Hundstage" aus dem Jahr 1975. Die Botschaft war klar: Bruce Springsteen war einer dieser traurigen Verlierer aus der Vorstadt, die trotz allem anständig bleiben.

Dreißig Jahre später - und dank Jon Landau - ist Bruce Springsteen nicht einfach bloß ein Rockmusiker. Er ist eine Religion. Und wie jede Religion, die etwas gilt, duldet auch diese keine Zweifel. Entweder man macht mit - oder man gehört nicht dazu. Seine Fans lieben Bruce Springsteen dafür mehr denn je. Für sie ist er der Inbegriff eines authentischen Rock-Gottes. Die Europa-Tour ist so gut wie überall restlos ausverkauft. Für alle anderen ist er erledigt als. Von Amerikas letztem großen Rockstar ist man entweder frenetisch begeistert - oder man verachtet ihn gründlich.

Auf der nächsten Seite schafft es der Schüler, den Meister zu übertreffen.

Der Boss als Heiliger

Will man aus dieser Deutungs-Sackgasse herauskommen, muss man Bruce Springsteen als das sehen, was er wirklich ist: Jon Landaus Vorstellung von weißer Arbeiter-Klasse-Authenzität. Schmälert das seine Bedeutung? Überhaupt nicht. Nur wenn die alte Hafenratte aus Jersey wiederentdeckt wird, kann der besondere Reiz, der von diesem Mann und seiner Musik ausgeht, verstanden werden. Etwas von der alten liebenswürdigen Hafenratte war etwa zu erleben, als Springsteen vor zwei Jahren die Aufnahme der irischen Band U2 in die Rock'n' Roll Hall of Fame bekannt gab und mit Blick auf deren iPod-Werbespot sagte:

Voll mit biblischer Symbolik

"Also ich selbst pflege ja einen wahnsinnig teuren Lebensstil, den meine Frau so gerade noch toleriert. Ich verbrenne Geld, wozu man ja einen enormen Cashflow benötigt. Aber ich habe auch ein albernes Bild von mir selbst, das mich davon abhält, richtig abzukassieren. Sie wissen wovon ich rede. Also rufe ich Jon Landau an und sage: ,Hast Du diesen iPod gesehen?' Und er sagt: ,Ja, und sie haben überhaupt kein Geld dafür genommen.' Und ich sage: ,Das sind gerissene Iren. Jeder kann einen Werbespot drehen und das Geld nehmen. Aber einen Werbespot drehen und kein Geld nehmen - das ist schlau.' Also sage ich noch: ,Jon, ich will, dass du denjenigen, der hinter der Sache steckt, anrufst und ihm folgende Idee vorschlägst: Einen rot-weiß-blauen iPod, signiert von Bruce 'The Boss' Springsteen. Und ganz gleich wieviel Geld er dafür bietet, nimm es auf keinen Fall an!"'

Das 2005 erschienene Album "Devils & Dust" spiegelte dieses Maß an Selbstironie allerdings nicht. Es klingt warm, fast intim. Das Titelstück ist ein klassischer Springsteen: Ein "dreckiger Wind weht" und ein junger Soldat tötet, um zu überleben, "vielleicht die Dinge, die er liebt". Viele Songs sind filigran, und trotzdem unaufdringlich arrangiert. Ärgerlich sind nur die schweren geschmacklichen Entgleisungen! Die Streicher und mancher Refrain wirken kitschig, als läge der Konzeption der Platte eine Zielgruppenumfrage zu Grunde.

Und tatsächlich: Sie passte verdächtig gut zu zwei jüngeren Trends, dem massiven ländlichen Bevölkerungswachstum in Arizona und New Mexico und zu der zunehmenden Religiösität im ganzen Land. "Devils & Dust" scheint präzise auf den Süden und Südwesten der USA zugeschnitten. Für einen Song gibt es sogar eine kleine Übersetzungshilfe für regionale Begriffe. Prärie heißt jetzt "Pradera" und Seil nicht mehr "Rope", sondern "Riata". Zudem ist das Album voll mit biblischer Symbolik.

Gastarbeiter und Gestrandete

Die hohe Messlatte in Sachen kommerziellen Erfolg, stammt natürlich aus dem Jahr 1984, als "Born in the USA" irgendwie sowohl das Unbehagen angesichts mancher sozialer Verwerfungen traf als auch den euphorischen Hurrapatriotismus der Reagan-Ära. Landaus Erfindung des Blaumann-Rock'n'Rollers war nie mehr so massentauglich. "Born in the USA" verkaufte sich 15 Millionen Mal. In den vergangenen Jahren wurden von Springsteen-Alben in der Regel kaum mehr als zwei Millionen Stück an die unsterblichen Bruce-Fans verkauft. Sein jüngstes Album "Magic" wurde von seinen Fans als Meisterwerk bejubelt. Und war doch nur Altbewährtes.

Eine Ahnung davon, wer diese Menschen sind, die Bruce-Fans, kann man in Springsteens gewandelter Rolle finden, die inzwischen nicht mehr allzu sehr an seiner Arbeiterklasse-Herkunft hängt. In einem kurzen Film, der auf "Darkness at the Edge of Town" zu finden ist, sagt Springsteen, er versuche, in den Stimmen der Gastarbeiter und sozial Gestrandeten zu verschwinden: "Was sie tun würden, was sie nicht tun würden, wie sie sich in einer bestimmten Lage verhalten würden, der Rhythmus ihrer Sprache - all das ist es, worum es mir in meiner Musik geht."

Ohne sichtbare Zeichen von Landau - in den offiziellen Titelcredits des Albums taucht der alte Manager nicht auf - ist Bruce Springsteen auf sich allein gestellt beim Versuch, die Stimme der Erniedrigten zu sein. Und der Schüler schafft es sogar, den Meister zu übertreffen.

Deutsch von Lutz Lichtenberger

Tour: 13.12. Köln, 16.6.08 Düsseldorf, 21.6.08 Hamburg

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