Britischer Kunstpreis:Assemble gelingt, woran Städteplaner scheitern

Turner Prize 2015 Award Ceremony

Familienfoto nach der Preisverleihung: Das Londoner Kollektiv Assemble erhielt in Glasgow den renommierten Turner-Preis.

(Foto: dpa)

Das Londoner Kollektiv gestaltet Stadträume an der Grenze zwischen Design, Architektur und Sozialarbeit. Dafür wurde ihm der Turner-Preis verliehen.

Von Catrin Lorch

Die von der Tate Gallery ausgerichtete Turner-Preis-Gala ist ein Ereignis. Der Glamour zieht nicht nur Kuratoren oder Kulturfunktionäre an, alle sind da - Galeristen, Künstler, Sammler, Prominente - die Verleihung ist ein Ereignis von internationalem Rang, gilt der Turner-Preis doch als einer der wichtigsten Trophäen der Kunstszene. Damien Hirst hat einen, Wolfgang Tillmans gehört zu den ehemaligen Gewinnern, die meisten gelten als Stars. Jetzt hat Assemble gewonnen. Ein Kollektiv, zu dem - neben Künstlern - vor allem Architekten gehören, Designer, Ethnologen. Und in der Ausstellungshalle Tramway in Glasgow gibt es Waschbecken zu sehen, Sessel und Kacheln. Denn das Projekt, für das sie nominiert wurden, sind ein paar Straßenzüge in Liverpool, halb renovierte Backsteinhäuschen, enge Gärtchen.

Assemble gelingt, woran Städteplaner und Architekten scheitern

Der Kommentar "das war eine super-surreale Erfahrung", mit dem sich einer der Assemble-Architekten auf der Bühne bedankte, der gilt sicher auch für Menschen wie Eleanor Lee, die in Liverpool wohnt im Stadtteil Toxteth. Seit vor sechs Monaten bekannt wurde, dass Assemble für das Projekt Granby Street Workshop nominiert ist, wurden plötzlich Anwohner wie sie von schwarzgekleideten Architekturkritikern interviewt, streiften die Kunstjournalisten mit deutschem oder spanischem Akzent durch die Staßen eines Viertels, das seit Dekaden als Problemzone gilt. Und suchen das Gespräch mit Anwohner wie Eleanor Lee, die bislang nicht unbedingt zu Fragen der Ästhetik gehört wurde, nicht einmal zur Gestaltung ihrer verwahrlosten Wohngegend.

Doch Assemble scheint zu gelingen, woran Städteplaner, Architekten, Verwaltungen bislang scheiterten: das Viertel Toxteth wieder bewohnbar zu machen, einen Stadtteil, der als harte Gegend galt. Sogar Lokalpolitiker sprachen ungeniert von "geordnetem Verfall", wo man die Müllabfuhr abbestellte und die Straßenreinigung nicht mehr fuhr. Besser abwarten, abreißen und neu bauen, das war uneingestanden die Alternative.

Ist jetzt mit Assemble die Kunst vor Ort? Zunächst fällt vor allem auf, dass das Kollektiv, zu dem etwas mehr als ein Dutzend Mitarbeiter gehören, darauf achtet, die Kritiker, Fernsehteams und Berichterstatter vor allem mit den Bewohnern in Kontakt zu bringen, die sie als Kollaborateure schätzen. Während sie selbst sich im Hintergrund nützlich machen, Jugendlichen zeigen, wie man Pigment in Beton einrührt, Kaminsimse gießt und Holzpfeiler zu einer Wohngalerie zusammenmontiert. Alles in Absprache mit denen, die in diese Räume auch einziehen werden. Und ohne fest umrissene Vorstellungen - wo nichts mehr ist, wie es sein sollte, muss das Alte nicht um jeden Preis wiederhergestellt werden.

"Wir feiern auch die Idiosynkrasie der verfallenen Gebäude", diktiert Lewis Jones einem Reporter. Was heißt, dass, wo ein Fußboden herausgebrochen ist, sich ein hoher Raum bis unter das Dach öffnen darf. Oder die Fläche zwischen zwei Reihenhäusern nicht mit einem weiteren Scheibchen Wohnfläche geschlossen wird, sondern einem Wintergarten. Die Finanzierung organisieren die Anlieger in einer Gesellschaft, die öffentliche Mittel beantragt, aber auch den Verkauf selbsthergestellter Hocker, Handtücher oder Skulpturen zugunsten des Projekts organisiert.

Aus einer verrotteten Tankstelle machten sie ein glamouröses Kino mit Goldvorhang

Genauso wie in Toxteth, arbeitet Assemble auch in Berlin-Pankow, wo man mit Senioren Wohnformen entwirft, oder auf Abenteuerspielplätzen in Glasgow: in Gesprächen. Und, ganz konkret, mit dem Hammer. So stand auch ein Projekt am Anfang dieses Kollektivs, dessen Mitglieder sich überwiegend seit ihrer Studienzeit in Cambridge kennen. Doch statt nach dem Abschluss ein gemeinsames Architekturbüro zu gründen, fantasierten sie, was man mit den vielen Tausend Tankstellen anfangen könnte, die - von den auf Großflächen fixierten Betreibergesellschaften - am Straßenrand verrotten. Was tun? Mit Nähmaschine und Werkzeugkasten die ganz großen Versprechen, die glitzernden Träume und Entwürfe von Hollywood einfangen war die Antwort, in Clerkenwell beispielsweise, am Rand einer der meistbefahrenen Straßen Europas.

Die Umwandlung zum Kino war total, auch wenn die Klappbestuhlung aus rohem Holz gezimmert wurde und statt einer Wand nur ein rüschiger Vorhang aus Goldlamé unter dem auskragenden Tankstellendach befestigt wurde. "Cineroleum" versprach die Leuchtschrift auf dem Dach, im Eingang rappelte die Popcornmaschine. Und am Schluss jeder Vorstellung fiel, in aller Dramatik, der Vorhang. Allerdings nicht vor der Leinwand - der Goldstoff, eben noch einhüllende Wand, lag am Boden, und als Zuschauer tauchte man mit verstörendem Tempo in einer Wirklichkeit auf, als sei man rückwärts aus dem Wasser wieder auf dem Sprungturm gelandet.

In der Grenzzone zwischen Design, Architektur und Sozialarbeit

Dass es womöglich nicht allein um die kulturelle Nutzung einer Ruine ging, sondern um diesen Moment, die Verblüffung, das Erstaunen, die Freude - wobei man an all diesen Worten das Adjektiv "ästhetisch" durchaus voranstellen kann - das macht die Qualität der Entwürfe aus, die Assemble seither in der Grenzzone zwischen Design, Architektur, Städtebau, Pädagogik, Sozialarbeit abgestellt hat. Die meisten hielten nur ein paar Monate, wie "Folly for a Flyover" (2011), ein spitzgiebeliges Häuschen, mehr Fassade als Gebäude, das sich an einem Kanal unter der Brücke einer Stadtautobahn eingerichtet hatte. Die Dachspitze stakte zwischen den Fahrbahnen und zeigte den Autofahrern an, dass hier an einem Ort Theater gespielt wurde, Freiluftkino und Performances stattfanden, den es vorher überhaupt nicht gab: eine Uferpromenade, die - bevor Assemble die mittelalterlich anmutende Fassade aus Holz dort zusammenstückelten - auf dem Stadtplan nicht einmal als Restraum zu sehen war.

Auf so einem Gelände in London liegen übrigens auch die Studios von Assemble, wo sich das Team - zu dem neben Architekten und Künstlern auch Ethnologen oder Psychologen gehören - donnerstags in einem alten Industriebau trifft, zwischen Schuttplätzen und den Betonrampen aufgegebener Viadukte. Das Büro hat, wo andere sich ein Vorzimmer leisten, ein Lager eingerichtet: Altholz, Wellblech, Plastikbahnen, womöglich auch noch ein paar Pfosten, auf denen die Sitzreihen des "Cineroleum" montiert waren, warten darauf, erneut verbaut zu werden.

Hier zeigt sich eine junge Generation, die nicht vorhat, alte Grenzen einzuhalten

Spätestens in diesem Entree wird deutlich, dass es in diesem Tagen womöglich gar nicht darum geht, dass hier junge Architekten und Designer den Turner-Preis abstauben, sondern dass man endlich bemerkt, wie eine junge Generation sich ausbreitet, die gar nicht vorhat, alte Grenzziehungen zwischen den Disziplinen neu abzustecken. Während man in England "Artist or Architect" fragt, sollte man die Alliteration noch um das Tätigkeitsfeld des Aktivismus erweitern. Denn was die Pop-up-Entwürfe von Assemble vor allem verbindet, ist ihre kommunikative, fast propagandistische Qualität. Und der Wille zur Autonomie. Dass die Ersten, mit denen man verhandelt, nicht die Geldgeber sind, die Stadtplaner, Politiker, Altersforscher, Lehrer, sondern Kinder, Senioren, Anwohner.

Wenn man mit Fran Edgerley, einer studierten Philosophin und Psychologin, die aber auch als Künstlerin arbeitet, zu den Baustellen von Assemble unterwegs ist, weist sie im Stadtbild der Londoner Siedlungen mehr als einmal auf Architekturen von William Morris hin, Künstler, Architekt, Utopist, Sozialreformer. Ein erzbritischer, sehr erfolgreicher Ästhetik-Export des Zeitalters der Frühindustrialisierung: Wo man Anfang des 20. Jahrhunderts Gartenstädte plante, Volksbildungsheime, Stadtbibliotheken, verwandelte sich die blaue Blume Zukunft in eine fest umrissene Blaupause.

Die Generation Assemble arbeitet in respektvoller Sichtweite zu den Arts-and-Crafts-Fassaden von William Morris. Auch diese Entwürfe leben davon, dass sie sich als Architektur wie als Skulptur gleichermaßen anschauen lassen. Aber sie sind zeitgemäß, weil sie die fest zementierte Autorität aller Planungen umdrehen, wo man sich mit seinen Entwürfen - als öffentliche Skulptur oder Gebäude - unmittelbar nützlich macht.

Dass Assemble gerade jetzt mit dem Turner-Preis einen weltweit beachteten Auftritt hat, ist nicht ohne Ironie. Zum einen ist die Entscheidung der Jury sicher als Kommentar zu verstehen zu einer zeitgenössischen Szene, die sich an der Aufmerksamkeit von Pop-Stars oder kunstsammelnden Hollywood-Schauspielern berauscht - und an unerhörten Markt-Erfolgen. Weswegen im Gegensatz zwischen internationaler Kunstszene und Problemviertel von Liverpool vieles aufscheint von den gesellschaftlichen Spannungen der Gegenwart. Aber das Londoner Kollektiv Assemble gewinnt in dem Moment, in dem die Kunst selbst in der Kunstmetropole heimatlos wird . Ausgerechnet Assemble sind mit einem anderen Entwurf Opfer dieser Entwicklungen geworden: Auf einem Londoner Parkplatz sollten - nach ihren Entwürfen - 800 ultrabillige Künstlerateliers entstehen. Der Plan ist abgesagt. Die Gentrifizierung in London soll in den nächsten fünf Jahren gut ein Drittel aller Künstlerateliers vernichten.

Eine erste Fassung dieses Textes erschien am 4. Dezember in der Süddeutschen Zeitung. Anlässlich der Verleihung des Turner-Preises veröffentlichen nun eine aktualisierte Version.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: