Britische Literatur:Hai sein, frei sein, überall dabei sein

Will Self treibt in "Shark" den psychedelischen Roman auf die Spitze. Man kann danach süchtig werden, ohne Drogen nehmen zu müssen.

Von Jutta Person

Stellt man die alte Hippie-Floskel "High sein, frei sein, überall dabei sein" auf die Kalauerprobe, dann wird klar, dass die Misere der unschuldig-verstrahlten Weltumarmung von Anfang an zu hören war. Nirgends ist der Hippie so sehr Hai wie dort, wo er Gutes und Wahres verspricht - oder auch "absolute Freiheit, keine Medikamente, keine Behandlung". Mit dieser Art von Idealismus gründet Zack Busner, der antipsychiatrische Antiheld in Will Selfs großartig psychedelischem Roman "Shark", im London der frühen Siebziger eine Kommune, in der psychisch Kranke und Psychiater zwang- und hierarchielos zusammenleben wollen.

Im "Konzepthaus" wohnen Zack Busner, seine Familie, sein Kollege Roger und acht weitere psychotische Patienten (die weder psychotisch noch Patienten genannt werden). Besonders Claude "das Ekel" Evenrude, ein amerikanischer Weltkriegsveteran, der den Untergang des Kriegsschiffs USS Indianapolis überlebt hatte, wird zum Dreh- und Angelpunkt einer halluzinierenden Wortspirale - in der Haie eine Hauptrolle spielen.

Zack und Roger folgen der Lehre Ronald D. Laings, wobei ihnen der schottische Antipsychiater nicht radikal genug ist: Beide sind überzeugt, "dass sie - und nur sie - den Röntgenblick besaßen, der nötig war, um die Pseudoereignisse zu durchschauen, die sie ... im flimmernden Herzen des sklerotischen Kapitalismus umgaben." Als Roger seine Mitbewohner, sich selbst und seinen Kollegen auf einen LSD-Trip schickt, eskaliert die Lage; ein paar Katastrophen später erklärt Zack das Experiment des Konzepthauses für gescheitert. Die Summe des Leidens bleibe im Grunde gleich, die Bilanz falle aber zu seinen Ungunsten aus, erklärt er seiner Frau.

So viel zum Haiwerden des Hippies, der sehenden Auges die Irren in ihre Klinikknäste zurückschickt und sich selbst in den weißen Kittel des Systems zurückschwingt (seine Ehe rettet er damit trotzdem nicht). Genau dort - in den Fängen des Systems - hatte man Busner schon in Will Selfs Roman "Regenschirm" von 2012 kennenlernen können: als Psychiater einer Nervenklinik, der eine jahrzehntelang vor sich hin dämmernde Patientin erwachen lässt und damit ein atemberaubendes Geschichtspanorama bis zurück zum Ersten Weltkrieg eröffnet. "Regenschirm" und "Shark" bilden zwei Teile einer geplanten Trilogie, wobei der Hai-Roman in den Zweiten Weltkrieg führt.

ETHIOPIA. Suri Tribe, Tulget, Omo Valley, 2013. A child studies in a classroom.

Lesen verbinde die Menschen, sagt McCurry. Schüler im äthiopischen Omo-Tal.

(Foto: Steve McCurry/Magnum Photos/Agentur Focus)

Auch "Shark" dreht sich nämlich nicht nur um Busner und die antipsychiatrische Bewegung, vielmehr rauschen ineinander: die Atombombe von Hiroshima; ein englischer Pazifist, der sich im Zweiten Weltkrieg ins Landleben flüchtet; der Meeresbiologe und Hai-Experte Jacques Cousteau; die USS Indianapolis, deren Besatzung im Juli 1945 zu einem großen Teil von den Haien des Pazifiks gefressen wurde, nachdem sie einen Teil der Atombombe abgeliefert hatte; ein Junkie-Strichmädchen namens Jeanie, das sich - nach David Bowies Song - Genie nennt; ihre herzlose, versoffene Mutter, genannt Mumsie, die in einen Abgrund aus Vulgarität und Verwahrlosung blicken lässt und außerdem mit erwähntem Kriegsdienstverweigerer liiert war; sowie Steven Spielbergs "Der weiße Hai", den sich Busner mit seinen Söhnen im Kino anschaut, als die Familie schon längst auseinandergefallen ist.

Ein fünfhundertseitiger Bewusstseinsstrom lässt die Zeiten, Orte und Figuren wie drogengeschwängerte Monsterquallen ineinander morphen. Dass alles mit allem zusammenhängt, ist bei Will Self aber nicht nur dem literarisch etablierten Prinzip Paranoia geschuldet - die Dinge sind tatsächlich kausal verbunden. Claude trifft auf den britischen Militärbeobachter Michael Lincoln, der an Bord der Enola Gay den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima erlebt hatte und im London der frühen Siebziger als Vormund eines psychotischen Jungen in die Kommune kommt.

Zufällig ist er auch der Bruder des besagten Kriegsdienstverweigerers, der als Vater von Jeanie-Genie in Betracht kommt. Von den Kriegshandlungen (fantastisch sind die Passagen, in denen der melancholische Pazifistenbruder in W.-G.-Sebald-Manier durch die englische Provinz zieht) führen alle Wege in die scheinbar befreiten Siebziger, unter deren Oberfläche sich die Umrisse der Hai-Phantome zeigen. Zack erkennt dieses kosmische Ganze erst ein paar Jahre später im Kino.

Britische Literatur: Will Self: Shark. Roman. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 512 Seiten, 34 Euro.

Will Self: Shark. Roman. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 512 Seiten, 34 Euro.

Auf seinem LSD-Trip halluziniert Zack einen Ouroboros, die mythische Figur, die sich selbst in den Schwanz beißt und einen ewigen Zirkel bildet, ähnlich wie ein Hai, der mit seiner Finne einen Kreis um die Beute zieht. Darin liegt der nicht ganz so hippieske Clou des Romans: Es geht ums Schlingen, Beißen und Verschlucken. Um Feindvernichtung. Etwa, wenn Claude mit sarkastischer Todesverachtung beobachtet, wie die anderen Schiffbrüchigen ihre Konkurrenten um einen Platz auf dem Floß in den Pazifik zu den Haien stoßen.

Die "verbale Bouillabaisse" dieses furiosen Romans serviert Gregor Hens auf Deutsch

Jeder Figur schiebt Self etwas Haihaftes unter, Embryos inbegriffen. Zacks schwangere Frau fühlt unheimliche Fischbewegungen: "Jetzt, wo der Hahn tropft und im Duett die Uhr in der dunklen Tiefsee der Wohnung tick-tropf-tockt, spürt sie es schon ... in mir dreschen, seine Schwanzflossen streifen ihre Gebärmutterwand im ... phylogenetischen Überschlag."

Man hat Will Self - der in Großbritannien zuerst als Mitglied der Punkband The Abusers, als Zeichner und Journalist bekannt war, ehe er in den Neunzigern als Schriftsteller erfolgreich wurde - immer wieder als Modernisten auf den Spuren von James Joyce porträtiert. Zur modernistischen Schreibweise gehört aber auch jene überbordende Masse an Songtexten, Filmzitaten, Kalauern, Werbeslogans und Wortverhackstückungen, die jedem ernst zu nehmenden Psychotiker und/oder Drogenkonsumenten durch die Rübe rauscht. Zacks Frau nennt Claudes Sprachfuror einmal eine "verbale Bouillabaisse", die Klangbruchstücke der Vergangenheit mit solchen aus der Gegenwart kurzschließt.

Diese delirante Fischsuppe hat der Übersetzer Gregor Hens in eine Form gebracht, nach der man süchtig werden kann: In den Wohnzimmern zuzeln die Staubsauger, ein Hai mampft sich ins Herz von London, und wenn Zack auf LSD den Wasserhahn aufdreht, heißt es: "der Geysir sprötzelt und erwacht zum Leben, die Rakete ruckelt". Überhaupt, die drogeninduzierte Spülorgie: "Schrubb-Spül-Wisch-Flutsch - und immer wieder von vorn. Zack, der mit der schwungvollen Sicherheit eines Zwergs arbeitet, fängt an zu summen - und es dauert nicht lange, bis alle gemeinsam den Refrain singen: Hei-ho, hei-ho, wir sind vergnügt und froh". Die Welt wird eine Dermis, "die sich über nur Scheinendes runzelt". Vor allem aber wird sie, auch dank dieser Übersetzung, zu einer wahnwitzigen Wahrnehmungspforte. Mit Will Selfs Sarkasmus wächst endlich zusammen, was zusammengehört - ohne dass man dafür Drogen nehmen müsste.

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