Briefwechsel:Die alte Welt muss klug werden

Klatsch, Turbulenzen und ein neues Zahlensystem: Der Briefwechsel zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und Sophie von Hannover ist endlich ins Deutsche übersetzt worden.

Von Hans Pleschinski

"Ich antworte Ihnen nur, um mir das Vergnügen zu verschaffen, Briefe von Ihnen zu empfangen", schreibt Sophie von Hannover im Juni 1700, "denn ohne die weiß man in Herrenhausen nur das, was am Holzmarkt geredet wird". Nun, ganz so verhielt es sich nicht. In der Sommerresidenz der Welfen bei Hannover trafen durchaus Nachrichten aus aller Welt ein, zum Beispiel, ob die Truppen des Sonnenkönigs neuerlich die rheinischen Lande verwüsteten, oder ob der Zeitpunkt nahte, an dem die Briefschreiberin via Erbfolge den Thron von England besteigen würde.

Sophie Herzogin, dann Kurfürstin von Hannover schrieb ihre Briefe meistens auf einem Pult im Bett. Das behagte ihr bei einer Tasse Schokolade so. Von allen Korrespondenten dieser hochfürstlichen, klugen und charmanten Dame waren ihr gewiss ihre Nichte Liselotte von Pfalz in Paris am liebsten und der hannöversche Hofrat Gottfried Wilhelm Leibniz. Leibniz konnte sie in Fragen der Parkgestaltung beraten oder ihr den Sinn der Schöpfung erklären. Was der Universalgelehrte, Historiograph, Ingenieurskopf, Mathematiker und Philosoph nicht wusste, das schien nicht zu existieren. Da der berühmte Mann unermüdlich auf Reisen war, um in Braunschweig Urzeitknochen zu begutachten, eine Sozietät der Wissenschaften in Berlin zu gründen oder italienische Archive zu durchforschen, waren die Fürstin und ihr Genie oft auf den Briefverkehr angewiesen. Vierunddreißig Jahre lang, von 1680 bis 1714, tauschten sie sich mittels Tinte und Feder und zumeist auf Französisch aus. Knapp vierhundert ihrer Schreiben sind überliefert, die, sorgfältig übersetzt und kommentiert, nun endlich auf Deutsch zu lesen sind.

Diese Korrespondenz ist ein Schatz. Und das in vielerlei Hinsicht. Sie erfasst die Geschichte unruhiger Jahrzehnte, in denen Kriege, Sehnsucht nach Wohlergehen und ein bisschen Fortschritt Europa bewegten. Die Briefe sind zudem ein literarisches Vermächtnis. Sie erweitern das Spektrum von Literatur in Deutschland, das gemeinhin und bestenfalls bis in die Zeit Lessings zurückreicht. Doch schon zuvor waren die Geister selbstverständlich rege, kulturbewusst gewesen und konnten, wie Leibniz, ebenso elegant wie eindringlich mitteilen: "Gott sei Dank fängt die Welt an, klüger zu werden. Es ist an der Zeit, da sie schon so alt ist."

Portrait de Gottfried Wilhelm Leibniz 1646 1716 philosophe et mathematicien allemand William Lei

Gottfried Wilhelm Leibniz, 1646 bis 1716, war einer der bedeutendsten Gelehrten des 17. Jahrhunderts und gilt als Vordenker der Aufklärung.

(Foto: Leemage/imago)

Nicht zuletzt ist der Briefwechsel das Zeugnis einer einzigartigen Freundschaft. Die weltoffene Fürstin wusste, dass sie im bürgerlichen Gelehrten ein Juwel besaß, um das sie noch die Nachwelt beneiden mochte. Wo andere nur berichteten, da dachte Leibniz zugleich. Und für ihn wurde Sophie zur Schutzpatronin, alsbald zur Freundin, der er auch Privates anvertraute: "Die schlechte Jahreszeit hat mir kalte Flüsse in den Schultern und Knien verursacht, die mich manchmal am Schlafen und am problemlosen Laufen hindern." Die Fürstin öffnete sich gleichermaßen: "Ich bin auch nicht gut zurecht, ich habe einige Fieberanfälle gehabt, jetzt ist das vorbei, aber ich habe einen Schnupfen, das macht ganz stumpfsinnig."

Manche Passagen des Austauschs wird der heutige Leser nicht beflissen studieren müssen. Das ist der Fall, wenn die Briefschreiber dynastische Verflechtungen entwirren, oder wenn beide, noch ohne rasche Nachrichtensysteme, über geostrategische Turbulenzen spekulieren. Hier kann der Leser barocke Protagonisten wie einen Reigen von Schatten an sich vorbeiziehen lassen, bis unversehens einige unserer Ahnen plastisch aus dem Zeitennebel treten: "Mich grämt es nicht, lieber Leibniz, dass die beiden Gräfinnen, die einander nur in ihrer Fettleibigkeit gleichen, nicht auf einmal hier sein werden."

Klatsch versüßt das Leben, und sowohl der Gelehrte als auch die Kurfürstin wussten, den Briefempfänger mit den Arabesken des Daseins zu unterhalten: "Die Fürstin von Hohenzollern wird zum Karneval in Hannover sein, der passt besser zu ihr als das Kloster. Sie wird die Gesellschaft einer Gräfin von Sinzendorff haben, die am Wiener Hof ganz zu Unrecht beschuldigt wurde, Hexerei zu betreiben, denn jetzt ist sie, wie es heißt, nicht in der Lage, irgendwen zu bezaubern." Die souveräne Sophie war firm in Seitenhieben und deutlichen Worten: Ihr "Porträt taugt nichts, der Maler hat Ihnen eine dicke Trinkernase verpasst." Oder nachdem im aufstrebenden Berlin ihrem Gelehrten neue Kostbarkeiten gezeigt worden waren: "Sie ins Porzellankabinett zu führen, hieß wahrlich Perlen vor die Säue werfen." Leibniz, der Prunk und Festen tatsächlich abhold war, äußerte sich gemessener: "Dem Herzog von Celle geht es besser als jemals, er ist wie ein Kamin, der gebrannt und sich selbst gereinigt hat." Die Plaudernden behielten alles im Blick.

Bisweilen seufzt die Kurfürstin: "Alles verstehe ich besser, als was das Denken ist ..."

Was nicht nur für die Fürstin, sondern auch für die Nachwelt den Austausch einmalig und verführerisch machte, sind Leibniz' spontane geistige Exkurse. Es bleibt unfasslich, mit welcher Hingabe der Wissenschaftler und Philosoph seiner Briefpartnerin Naturgesetze, das Sein hinter dem Schein darlegte. Er erklärt Sophie - und uns - dass ein neues Säculum nicht mit dem Jahr 1700 oder 2000 beginnt, sondern erst am 1. Januar 1701 oder 2001. En passant entwirft er ein neues Zahlensystem, das nur aus den Ziffern 0 und 1 besteht. Vor allem aber erläutert er der hohen Freundin immer wieder sein philosophisches System der prästabilierten Harmonie, wonach es nichts Unnützes in der Schöpfung gibt, dass nichts vergeht, sondern alles sich verwandelt, und dass Gott der allwissende, letztlich gütige Urantrieb jeglicher Bewegung, des Lebens, ist. Seine Geistesflüge vermittelte Leibniz anschaulich: "Da jeder Körper aus Teilen besteht, ist er nicht wahrhaft ein Seiendes, sondern mehrere Seiende, er ist ein Seiendes dem Namen nach, etwa so wie eine Armee, eine Herde oder ein Wasserbehälter voller Fische."

Briefwechsel: Die Herzogin, später Kurfürstein Sophie von Hannover wurde 1630 in Den Haag geboren, sie starb 1714 in Hannover.

Die Herzogin, später Kurfürstein Sophie von Hannover wurde 1630 in Den Haag geboren, sie starb 1714 in Hannover.

(Foto: oh)

Die Kurfürstin seufzte bisweilen: "Alles verstehe ich besser, als was das Denken ist und dass das Immaterielle passiv ist, denn ich weiß nicht, was das Immaterielle ist ...". Doch offenbar bedeutete es schon für Sophie eine anregende Meditation, mit dem großen Denker den Seinsgrund, die Ewigkeit und den Sinn des Lebens zu umkreisen. Noch zart, als Schemen, kündigt sich in Leibniz' Post das moderne selbstbestimmte Individuum an: "Aber in jedem organischen Körper, Madame, ist die Seele seine vorzüglichste beherrschende Einheit. Das ist das Ich ins uns." Welcher Glaubenssparte dieses revolutionäre Ich angehörte, war für die Briefpartner nachrangig. Leibniz und Sophie streuten freies Gespräch, Freiheit in die Welt.

Dabei lebten beide, wie wir, umgeben von Schrecknissen rundum. Krieg, Seuchen, Machtmissbrauch sind ein eigener Aspekt des Austauschs. Zigtausende hingeschlachtete Soldaten und darbende Untertanen geistern durch die Zeilen, doch zu üblich war die europäische Selbstzerfleischung, als dass die Korrespondenten mehr als Trauer und Entsetzen bekunden konnten. Leibniz bedenkt eine bessere Versorgung von Verwundeten, die Kurfürstin beklagt den vermeintlichen Heldentod von Söhnen und Enkeln. Der Parlamentarismus Englands, mit dem sich beide aus erbrechtlichen Gründen beschäftigten, besaß noch kaum die Ausstrahlung, um als Modell für Kompromiss und Frieden zu gelten. Beim Empfang von Gesandtschaften aus London ärgerten die Kurfürstin in erster Linie die Kosten.

Als die Dreiundachtzigjährige 1714 starb, kurz vor dem Besteigen des englischen Throns, worauf sie durchaus Lust verspürt hatte, widmete Leibniz ihr einen Nachruf: "Die Sich schohn auf der Welt geschwungn Himmel an/Gott ohne falsch geliebt, dem Nechsten guths gethan/Im unglück nicht verzagt, im glück sich nicht erhoben/Und alles angesehn als käme es ihr oben/ ... Die kann, wenn Gott befielt, ohn alles vorbereiten/Beherzt, SOPHIEN gleich, zum bessern leben schreiten."

Am berührenden, lehrreichen, heiteren brieflichen Zwiegespräch des seelenverwandten Paars darf man nun teilhaben.

Gottfried Wilhelm Leibniz, Kurfürstin Sophie von Hannover: Briefwechsel. Hrsg. von Wenchao Li. Aus dem Französischen von Gerda Utermöhlen und Sabine Sellschopp. Wallstein Verlag, Göttingen 2017, 872 S., 39,90 Euro. E-Book 31,99 Euro.

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