Brian Wilson:Angst und Sand

Zwei Frauen für jeden, das war einmal. Ein Treffen mit dem einstigen Songwriter der Beach Boys, der behauptet, sich nicht für die Vergangenheit zu interessieren. Nicht einmal für seine.

von Willi Winkler

Wenigstens Nacht sollte es jetzt sein, oder so spät abends, dass die Japaner nicht mehr DIE TÜR fotografieren können, die Busse davon gerollt sind und zwischen den Ampelphasen die Place Vendôme so still und erschöpft daliegt, als warte sie auf den Auftritt der Guermantes, in Tüll die Damen, coiffiert und kostbar parfümiert, die Herren ganz klein daneben, wie sie als erste den Kutschen entstiegen und ihrer Begleitung dann die Hand reichten und strengstolz schauten, wenn die tüllenen Damen das lang nachschleppende Kleid rafften.

Durch DIE TÜR aber kam damals nur die geschiedene Prinzessin von Wales, ein mittelmäßiger Playboy folgte ihr, der Sohn vom Chef, die Überwachungskamera (japanisch!) bewahrte die letzten Bilder von dem holdseligen Paar, das dann davonrauschte, aus dem Ritz fort, hinein in die Unterführung, die Fotografen hinterher.

Keine Chance für Paprazzo

Aber es ist ja nicht Nacht, sondern helllichter Tag. Bei der Place Vendôme steht nicht bloß das Ritz, sondern auch das neureiche Hotel, in dem Brian Wilson wartet und sich anstaunen lässt. Die Eingangshalle könnte auch auf eine Abbruchbaustelle führen oder verschärfte Isolationsfolter ankündigen. Nichts ist da außer zwei wachsamen und entsprechend kurz geschorenen Herren. Der Paparazzo hätte hier keine Chance und vor allem nichts zu fotografieren.

Drin im Hotel hat natürlich niemand je gehört von Brian Wilson. "Breienn Vilsonn, qui est-ce?"

Das ist, liebe Knopf-im-Ohr-Träger, liebe luxurierende Hotellobbylungerer, allerliebste Pariser EmpfangsdamInnen, das ist der größte Komponist seit Ludwig van Beethoven, der Erfinder der schönsten und traurigsten und kürzesten Symphonien der Welt, der Mann, der "Good Vibrations" geschrieben hat. "Aaaa!" - hört Ihr denn das nicht? "Good-good-good vibration/- exaltation"? Außerdem hat er jedem zwei Mädchen versprochen, jedem, der nach Kalifornien käme, dorthin, wo immer die Sonne scheint, die Flutwelle steigt und die Autos mit den großen Heckflossen direkt an den Strand fahren.

Brian Wilson machte die Musik dazu, "Sloop John B." und "Surfin' Safari" und natürlich "California Girls". Drei Brüder waren sie damals, ein Cousin und noch ein Schulfreund, die Beach Boys, und Brian Wilson komponierte diese Teenager-Symphonien, acappellierte und falsettierte die glücklichste Musik, die der liebe Gott der armen Erde je gönnte. Einen Hit nach dem anderen haute er heraus, und alle handelten sie von süßen Mädchen, vom Surfen, vom Autofahren und dem einen oder andern Cheeseburger dazwischen.

Und Brian?

Brian hatte Angst. Sein Vater, selber nicht weit gekommen als Komponist, hatte ihn wieder und wieder ans Klavier geprügelt. Ein Wunderkind muss leiden, ehe man die Wunder sieht. Mit den Beach Boys trotzte Amerika der britischen Invasion, den Beatles und Rolling Stones und Animals. Die Engländer sind sogar zu ihm ins Studio gepilgert, wollten wissen, wie er diese Musik machte, aber irgendwann spielte er lieber in seiner Sandkiste.

Tonnen-, waggonweise ließ sich Brian Wilson den Sand ins Haus fahren, feinsten kalifornischen Strandsand, blondinenblonden Sand vom blondinenreichen Meer, nur damit er nicht mehr rausgehen musste in die Sonne und an den Strand und zu den Blondies.

Die Angst wurde größer. "Ich fürchtete mich vor dem Meer, vor der Flut." Den Sand am Meer konnte er nicht riechen, die ewige kalifornische Sonne schlug ihm aufs Gemüt. "In My Room" singt er, "ein Ort, an den ich gehen, wo ich meine Geheimnisse erzählen kann..."

Im abgedunkelten Zimmer stand sein Klavier im Sand. Mit nackten Füßen kraulte er den ganzen Tag darin, das war besser, viel besser als der Strand, und drei Jahre ging er nicht mehr aus dem Haus. "Ich hatte einen kleinen Zusammenbruch", sagt er heute. Er wurde nämlich verrückt. Drehte durch auf einer Tournee, wollte in der Luft raus aus einem Flugzeug, wälzte sich schreiend am Boden. "Der schlimmste Trip, den ich je hatte", singt er in "Sloop John B.", aber da wusste er noch gar nicht, was ein schlimmer Trip ist.

Angst und Sand

Brian Wilson hat wahrscheinlich mehr Drogen genommen als zehn Eppendorfer Abiturklassen zusammen. Er aß alles, was reinging, rauchte, schnupfte und aß weiter. Er war ja nicht der einzige. In seiner besten Zeit lagen die anderen zugedröhnt neben ihm auf dem Boden, tasteten nach einem Mikro und versuchten wenigstens annähernd hineinzusingen, während die Groupies warteten, dass es endlich vorbei war.

Eines Tages konnte Brian Wilson nicht mehr singen. Er trat nicht mehr auf. Er schrieb keine Lieder mehr. Er hatte Gott gesehen. (Sand wird auf Dauer dann doch langweilig.) Gott war die Musik, die er machen wollte. Gott trug eine Perücke und eine Pilotenbrille, war klein und dünn, trug aber monstermäßige Kopfhörer, durch die absolut maßlose Musik tropfte. Gott hatte auch einen Pass, in dem stand, dass er eigentlich Phil Spector heiße und Musik produziere. Musik mit viel Krach, Musik mit Schmelz, Sphärenmusik.

Wochenlang lag Brian in seinem abgedunkelten Zimmer und hörte die vollkommenste Platte, die es in der Popmusik gibt, hörte Tag und Nacht und jeden Tag wieder nur "Be My Baby" von den Ronnettes oder vielmehr von dem Produzenten Phil Spector. Das konnte er nicht, das war unerreichbar, und die Versagensängste, die er von seinem Vater kannte, waren wieder da. Phil Spector ist sein Vorbild, bis heute. Phil Spector, also Gott, wollte Brian Wilson töten. "Ich hatte Halluzinationen", sagt er.

Ein eigenes Kunstwerk

Brian Wilson schrieb keine Lieder mehr, sondern träumte, hörte, malte Symphonien, die es nur in seinem Kopf gab. Das war "Smile" und so verrückt, dass die anderen es nicht haben wollten. Kein Hit, kein Strand, und absolute Musik kann man doch nicht in 2:58-Portionen verkaufen. Aber "Smile" war ein eigenes Kunstwerk, ein ganzer Vergnügungspark aus Musik, Ringelspiel und Karussell und Achterbahn mit Schifferklavier, Tröten und alles unter einem Feuerwehrhelm aus Plastik.

Brian Wilson sitzt unerkannt in der Lobby, versperrt den Weg, starrt vor sich hin und sieht niemanden. Ganz neue, ganz weiße Turnschuhe trägt er, ein schlimmes Bequem-Hemd über dem Bauch, und die Haare straff nach hinten. Wartet er und auf wen? Er schaut ins Leere, redet, gestikuliert manchmal in dieses Leere. Wie festgewachsen sitzt er dabei im Sessel, die Beine merken nichts von dem, was da in ihm rast und tobt. Weiße Turnschuhe. Was ist los?

Dann kommt ein Manager, und Brian Wilson beginnt sofort eifrig zu sprechen: über das letzte Wochenende, das nächste, über Kalorien und über Spiritualität. Guter Gott! Sprechen Sie mir nach: "Spi-ri-tu-a-li-ty!" Er ist doch normal.

Brian Wilson ist inzwischen 62 und gerettet. Wie immer war es eine Frau, die ihn erlöste. Melinda, wirklich wahr, verkaufte ihm ein Auto ("ein ganz hässliches Auto"); dabei fand sie Gefallen an dem Kunden und eine Lebensaufgabe. Man darf ihn nicht fragen nach dem Teufel, der ihn geritten hat, nach dem Arzt, der ihn jahrelang in der Zwinge hatte, nach der Hölle, durch die er musste. Ja, da waren Schwierigkeiten, Dr. Landy, gewissjadoch, aber was soll ihm das jetzt? Er hat sich gefangen. Er ist doch glücklich, braucht keinen Psychiater, keine Beach Boys, keinen Vater, keine Hits. Er macht wieder Musik, seine Musik.

"Wollen Sie nicht so eine gelbe Rübe?", fragt Brian Wilson. Er langt in eine der beiden Schalen, die links und rechts von ihm stehen. Mit dem Silbermesserchen sind sie breiweich gesäbelt und tragen sogar noch ein zierendes Originalgrün. Reicht es rüber, bestellt sich ein kalorienarmes Pepsi. Dann ist er also doch Vegetarier. Brian Wilson: Ich? Ich esse das Zeug nicht. So wird man seiner besten Klischees beraubt. Er ist gar kein Vegetarier, sondern wirklich gesund.

In jenen dunklen Jahren eröffnete er einen Gesundheitsladen mit dem schönen Namen "Der strahlende Rettich" und stellte sich hinter die Kasse. Nicht auszudenken: Beethoven nicht bloß taub, sondern - "Gnä' Frau!" und "Grüß Gott, die Herren!" - Portier beim Sacher hinter der Oper. Wie ihr Brian war Melinda erst skeptisch, als diese Musiker kamen und Brian Wilsons Songs spielen wollten. Die fragten, was es mit dem legendären "Smile" auf sich habe, dem vergrabenen Schatz, der Drogen-Hymne, dem 60er-Jahre-Wahnsinn.

Er hat die jungen Menschen, nach langem Zögern, zu sich nach Hause gebeten, er hat, noch zögernder, wieder mit der Musik angefangen, mit seiner Musik, mit den Songs, die er in seinem Kopf hörte, über Jahrzehnte nur im Kopf.

Die "Wondermints" sind nicht die Beach Boys, sondern seine ergebensten Fans. Wenn Brian Wilson die Band um sich hat, die ihn verehrt, die seine Musik spielt, wie er sie nur immer träumen konnte, ist er vollkommen glücklich. Beim Konzert im August in Bonn, dem einzigen in Deutschland, hätte er weinen können, so glücklich war er.

Vegetarische Kinderkarussell-Symphonie

Sie verlangen keine Hits von ihm wie sein Vater und seine Brüder, sie wollen nicht an sein Geld wie die Groupies und sein Psychiater, sie wollen einfach nur seine Musik spielen, die Hits, die inzwischen vierzig Jahre alt sind, und die vegetarische Kinderkarussell-Symphonie "Smile", die er nach fast vierzig Jahren vollendet hat und die jetzt endlich herauskommt. "Tut mir leid, das sagen zu müssen", sagt er ohne Kummer, "aber die Jungs sind besser als die Beach Boys je waren."

Um mit seiner neuen Band auf Tournee gehen zu können, hat Wilson eigens nochmal Gesangsunterricht genommen. Die Töchter aus erster Ehe singen auch, aber nichts an der Gegenwart interessiert ihn. "Seit 15 Jahren kommt doch nur Dreck im Radio, die Musikindustrie befindet sich auf einem historischen Tiefpunkt, keine Hits, kein Sound, nichts, ich höre nichts." Wozu auch, er selber ist die Musik. Paul McCartney hat auf seiner letzten Platte mitgesungen und ihm gesagt, dass Brian Wilson die Inspiration für den "Sgt. Pepper" der Beatles war.

Kann er glücklich sein, wenn er nicht auf der Bühne spielt? "Oh ja", sagt er, lobt pflichtgemäß Frau und Kinder, "oh ja, wenn ich am Klavier sitze und neue Lieder und Tänze schreibe." Nach "Smile" will er ein weiteres Album herausbringen, Rock'n'Roll, lauter neue Sachen, denn Songs schreiben, "das kann ich am besten". Und setzt dazu, glühend im verhaltenen Stolz: "Ich glaube, ich habe zwei, drei Songs geschrieben, die ganz gut sind." Seine Songs haben ihn in den Abgrund gerissen, seine Musik hat ihn auch wieder aus dem Abgrund gerettet.

Vor eineinhalb Jahren hat Phil Spector am frühen Morgen eine Zufallsbekanntschaft mit nach Hause genommen und soll sie - bang! - erschossen haben. Gegen eine gigantische Kaution ist er auf freiem Fuß und wartet auf seinen Prozess. "Hat er die Frau erschossen, was glauben Sie?" - "Er ist unschuldig." Natürlich. Klar ist er unschuldig. Brian Wilson ist unschuldig, so unschuldig, wie man in den 60-er Jahren nur sein konnte.

Und dann fliegt die Musik herein, Rummelplatzmusik, Brian-Wilson-Musik in dieses japanoide Flausch-Ensemble, in jeder Aussparung eine andächtig beleuchtete Figurine, teuer nachgemachte Giacomettis. Die Surfwelle steigt, lastwagenweise schwemmt sie Sand herein, aber niemand braucht sich zu fürchten. Die Sonne strahlt, die Mädchen warten, zwei für jeden, mindestens. Brian Wilson lächelt.

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