Brexit:Ein Alibi für Demokratie

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Worauf es jetzt ankommt in dem Europa, das übrig bleibt, ist der dringende Wille, die Strukturen der Europäischen Union zu reformieren und sie endlich transparent zu machen. Das Foto aus dem Jahr 2012 zeigt das Zeltlager der Occupy-Bewegung vor dem Sitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. (Foto: Regina Schmeken)

Die Europäische Union sollte nicht nach Schuldigen suchen, sondern die eigenen Schwächen finden.

Von Colm Tóibín

Die Europäische Union kann anscheinend alles aushalten - außer einer Krise. Als das ehemalige Jugoslawien in den frühen Neunzigerjahren auseinanderbrach, und auch während der ökonomischen Turbulenzen der letzten Jahre, fielen viele Länder zurück in den Zustand des 19. Jahrhunderts. Es war vorbei mit Floskeln wie "Wir sind jetzt alle Europäer". Wir alle kehrten vielmehr zurück in unsere eigenen Länder mit ihren krummen Geschichtswegen und ihren individuellen Wünschen.

Begeisterte Ansprachen unserer europäischen Herren hörte man nun nicht mehr. Das nationale Interesse schien drängender zu sein, als ein Gemeinschaftsgefühl auszubilden. Wenn die europäischen Staatenlenker zusammenkamen, hatten wir nicht den Eindruck eines Europas, das die Werte, die man miteinander teilt, befördert, sondern eines Europas der aufeinanderprallenden Konzerne, der Nationalstaaten, die über begrenzte, lokale Prioritäten stritten und die manchmal an nichts anderem interessiert waren als an ihrem kurzfristigen politischen Vorteil.

Das gilt vor allem für die Flüchtlingskrise. Trotz Übereinkünften zwischen Ländern innerhalb der Europäischen Union, insbesondere der Dublin-Verordnung und des Schengen-Abkommens, schien jedes europäische Land auf Alleingänge im nationalen Eigeninteresse fixiert zu sein, sobald die Krise begonnen hatte. Selbst Länder, die bereit zu sein schienen, ihre Türen für Flüchtlinge zu öffnen, bereiteten sich schon darauf vor, diese wieder zu schließen, manchmal nach Lust und Laune.

Trotz der Anstrengungen, eine gesamteuropäische Politik zu schaffen, haben die Regierungen der EU-Länder die Flüchtlingskrise behandelt, als gäbe es keine Union, jedenfalls keine, auf die es ankommt.

Die europäische Mattigkeit ist erfüllt vom geräuschlosen Geräusch zirkulierenden Geldes

Nun, da England und Wales dafür gestimmt haben, die Union zu verlassen, wäre es leicht für die EU, einer Art Post-Empire-Belastungsstörung dafür die Schuld zu geben, oder den Torys oder ebenjenen Einwohnern, die abgestimmt haben. Allerdings wird es einige in Brüssel geben, die wünschten, dass sie, um es mit Bertolt Brecht zu sagen, das Volk auflösen und ein anderes wählen könnten. Weitaus dienlicher wäre es jedoch, wenn die Europäische Union ihre eigenen Strukturen überprüfen würde, ihre eigenes schwieriges Verhältnis zu Demokratie und Transparenz.

Viele der Institutionen, die von der europäischen Staatengemeinschaft geschaffen worden sind, wirken nun wie bloße Alibis für etwas anderes. Das Europa-Parlament beispielsweise wirkt wie ein Alibi für Demokratie. Eine integrale Außenpolitik wirkt wie ein Alibi für eine Außenpolitik, die tatsächlich ängstlich und bruchstückhaft und nahezu nicht-existent ist. Die europäische Kommission wirkt wie eine Organisation, deren Hauptfeind die jetzige europäische Bevölkerung ist.

Diejenigen, die in den Hauptstädten leben, haben häufig Gelegenheit, die Kommission und diejenigen, die für sie arbeiten, dabei zu beobachten, wie sie mit hoher Geschwindigkeit in Limousinen mit dunkel getönten Scheiben durch die Straßen gefahren werden. Sie werden begleitet von Polizei-Eskorten, wenn sie von irgendeinem Regierungsgebäude zum Flughafen unterwegs sind. Sie empfinden gelinde Angst vor uns, aber diese Angst ist nichts im Vergleich zu der gelinden Verachtung, die sie uns entgegenbringen.

Sie kann verglichen werden mit der Verachtung, die Diplomaten eines großen Landes empfinden, wenn sie in ein kleines Land entsendet werden. Das kleine Land ist ein wenig öde, trotzdem muss mit ihm achtsam umgegangen werden. Und mehr als alles andere muss die Verschwiegenheit gewahrt bleiben.

Die Europäische Kommission hat sich selbst mehr den Charakter eines Auswärtigen Amtes gegeben als den einer Regierung; ihre Politik ist moderat, ihr Misstrauen maßvoll, im Übrigen hält man auf Distanz. Zusammengepresste Lippen, ein schwaches Lächeln und sich nicht in die Karten gucken zu lassen, ist wichtiger als um Zustimmung zu werben oder für nur irgendein System der Transparenz.

Keiner hat den Eindruck, dass die Kommission und ihre Bürokraten vom europäischen Volk bestallt worden wären oder dass sie das wären, was sie doch eigentlich sind: Staatsdiener. Einige von ihnen mögen spüren, dass sie unsere Interessen vertreten, aber nicht so sehr, dass sie sich wirklich davon beeinflussen ließen, was wir tatsächlich wollen oder nicht wollen.

In ihren Träumen sind wir Kinder. Sie haben keine Albträume, dafür haben sie alles zu gut unter Kontrolle. Sie sind, nach allem, keine Diktatoren, die nur darauf warten, gestürzt zu werden; ihre Macht ist dafür zu geschmeidig, zu durchtrieben und verdeckt.

Einige der europäischen Institutionen haben es geschafft, die nationalen Parlamente zu unterminieren, die Teile ihrer Souveränität an sie abgetreten haben. Und, was noch wichtiger ist, sie haben es geschafft, die nationalen oder sogar die lokalen Debatten über Ethik und Politik zu schwächen. Wir alle wissen doch, dass die Staaten, deren Einwohner wir sind, ihre Macht an ein Konstrukt übergeben haben, das als eine Organisation präsentiert wurde, die angeblich getragen wird von Idealismus und erfüllt ist von lautersten demokratischen Absichten.

Wir alle wissen darüber hinaus, dass die einzige Bewegung mit Energie und Willen, Europa zu reformieren oder es auseinander zu reißen, eine rechtsextreme Bewegung ist, mit undeutlichen Wurzeln im Faschismus und tieferen in einem alten fremdenfeindlichen Konservatismus. Der Drang, die europäischen Institutionen besser und greifbarer zu machen, zur Idee einer Union zurückzukehren, derzufolge jeder Mitgliedstaat gleich ist, und jeder ihrer Bürger ebenso, hat nichts mit diesen anti-europäischen Bewegungen gemein und nichts von ihnen zu lernen, außer vielleicht ihre Hartnäckigkeit.

Worauf es jetzt ankommt in dem Europa, das übrig bleibt - dem Europa, das die Schwächung seines Idealismus einigermaßen heil überlebt hat und das Referendum im Vereinigten Königreich überleben wird - ist ein dringender Wille, die Strukturen der Europäischen Union zu reformieren, angefangen damit, die Ratsversammlungen der Minister für die Öffentlichkeit und die Medien zu öffnen und die einzelnen Mitglieder der Kommissionen direkter haftbar und ihre Beschlüsse Argumenten besser zugänglich zu machen.

Die Europäische Union, die jetzt abhängt von verschlossenen Türen und geflüsterten Deals, sollte in die Öffentlichkeit gehören. Wissen das eigentlich die Amtsträger und jeder einzelne Funktionär? Wenn ja, wie viele verlorene Referenden und wie viel öffentliches Misstrauen und das Großwerden von wie vielen Anti-Eu-Parteien sind noch nötig, bis sie etwas dagegen tun?

In der Zwischenzeit liegt die Welt außerhalb der Europäischen Kommission danieder, nicht weil sie bedroht wäre von einem Krieg, wie er zweimal im 20. Jahrhundert unsere Welt zerbrochen hat, sondern weil sie gelähmt ist. Geschichte ereignet sich das erste Mal als Tragödie, und dann wird die Welt ihrer müde. Und diese Mattigkeit ist erfüllt vom geräuschlosen Geräusch des Geldes, dass sich sanft über Grenzen bewegt aufgrund von Verträgen, welche die Länder Europas unterschrieben haben. In guten Zeiten hören wir die leere Rhetorik über die leuchtende, glänzende Zukunft Europas, und wenn die Zeiten nicht so gut sind, gibt es stattdessen viele Krisentreffen und Telefonate bis spät in die Nacht. Gleichzeitig werden Dolmetscher aus schweren Träumen geweckt, damit sie unseren Anführern bei dem Versuch helfen zu verstehen, was der jeweils andere sagt, als ob viele Stimmen gehört werden müssten, als ob irgendwer zuhören würde.

Einiges ist ja immer noch intakt, trotz allem. Überdauert hat zum Beispiel im Herzen des europäischen Traums die Idee, dass jedem eine Chance gegeben werden und Chancengleichheit oder gleichberechtigter Zugang zu allen Angeboten bestehen sollte, besonders bei Bildung und Gesundheit, und dass Frauen den Männern gleichgestellt sein sollten.

Das mag in der Praxis nicht immer funktionieren und auch von Land zu Land unterschiedlich sein, aber nur eine Minderheit der europäischen Spitzenpolitiker würde sagen, dass es eine solche Chancengleichheit nicht überall geben oder dass sie drastisch beschnitten werden sollte. Sie bleibt Teil dessen, was wir unter europäischer Identität verstehen.

Verglichen mit den Vereinigten Staaten oder Indien oder Zentral- und Südamerika, wird die Idee des Wohlfahrtsstaates in Europa nach wie vor hoch gehalten. Wir verhängen auch keine Todesstrafen mehr und werden es, wie es aussieht, auch nie mehr tun, und das ist zweifellos ein Fortschritt. Es unterstreicht zweifellos, wie fest die Idee der Menschenwürde und der Sinn für Menschenrechte verankert ist.

Es gibt ebenfalls in Europa eine stabile Vorstellung davon, dass der Staat eine Verantwortung hat, über die unabhängigen Radio- und Fernsehsender zu wachen, ihre Existenz rechtlich abzusichern oder sie überhaupt ins Leben zu rufen und eine gewisse Vielfalt in der Zeitungslandschaft sowie bei Online-Angeboten zu garantieren. Und einen Sinn dafür, dass der Staat Steuermittel aufwenden sollte, um kleinere Verleger, Filmemacher, Theater, Musik, Kunstgalerien und einzelne Künstler zu fördern, ohne ihre Unabhängigkeit zu beschneiden. All das ist jetzt bedroht, aber es ist noch nicht verschwunden.

Die Staatspräsidenten nicken ab, was zwei oder drei von ihnen bereits zuvor entschieden haben

Aber das Problem des Demokratieverständnisses bleibt bestehen. Wenn ich, als Staatsbürger der Vereinigten Staaten, für oder gegen einen Präsidenten stimmen möchte, kann ich das tun, ohne daran gehindert zu werden. Ich darf ebenfalls für andere Ämter in Amerika meine Stimme abgeben mit einem klaren Verständnis für den Umfang und die Grenzen ihrer Macht, so auch in Kanada, Australien und Neuseeland. Aber kann ich das Gleiche auch in Europa? Ich kann bei nationalen Wahlen abstimmen, deren Ergebnisse darüber bestimmen, wer mit am Tisch sitzt, wenn die Finanzminister Europas zusammenkommen oder die Staatspräsidenten. Aber sie selbst agieren im Verborgenen.

Im jetzigen Europa sind wir, als eine Folge der Griechenland-Krise, zurecht der Meinung, dass diese Präsidenten bei ihren Treffen nur abnicken, was zwei oder drei von ihnen bereits entschieden haben, nämlich die größten und mächtigsten, oft in ihrem eigenen Interesse, und so ist es auch bei mehreren anderen europäischen Institutionen, die für die Bürger Europas völlig ungreifbar bleiben.

Ich darf zwar ebenfalls bei den Wahlen zum europäischen Parlament meine Stimme abgeben, aber wenn ich dies tue, dann in dem Wissen, dass es keinen Unterschied für mein Leben oder das der Welt um mich herum machen würde, wenn dieses Parlament nicht mal für ein ganzes Jahr besteht oder schon am selben Morgen komplett ausgetauscht wird.

Dieses zermürbende Wissen um den Zusammenhang zwischen den europäischen Eliten und der europäischen Bevölkerung sieht, an der Oberfläche, nach einer Krise aus, aber bis zum Brexit wurde sie von den führenden europäischen Zeitungen und Kommentatoren genauso wenig als solche wahrgenommen wie von den meisten Politikern oder Politikwissenschaftlern. Es ist dahin gekommen, die langsame, giftige Entfremdung der Einwohner Europas von den europäischen Institutionen als Normalität anzusehen, dieses schleichende Gefühl, dass wir, diese Einwohner, mit Mängeln behaftet sind und dass man uns nicht trauen kann.

Gleichgültig, über wie viele Fragen wir als Bürger uneinig sind, es gibt vielleicht einen Punkt, dem wir alle, die wir in Europa leben, nun zustimmen müssen. Keiner, der ein ernst zu nehmendes demokratisches Bewusstsein besitzt, würde, wenn man von Neuem beginnen könnte, das System, nach dem Europa regiert wird und die Beschaffenheit unserer Staatsbürgerschaft noch einmal so entwerfen. Wie jeder Einzelne von uns ist die Union mit Fehlern behaftet. In den nächsten zwei Jahren, wenn die Union die Bedingungen für den Austritt des Vereinigten Königreiches festlegt, könnte sie sich auch die Zeit nehmen, sich einmal selbst zu betrachten, um zu erkennen, dass es hier einen überfälligen Weckruf gegeben hat, und anfangen, darauf zu reagieren. Sie könnte sogar darüber nachdenken, dies öffentlich zu tun.

Der Autor, geboren 1955 in Irland, ist Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker. Deutsch von Christopher Schmidt.

© SZ vom 05.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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