BRD-Serie (28):Die Carrera-Bahn

Gerhard Matzig

(SZ vom 19.07.2001) - Sie zieht den Schlüssel ab und steht in der Halle. In jener Nacht hatte natürlich niemand damit gerechnet, dass sie nach Hause kommen würde.

BRD-Serie (28): Carreristen sind einsam: Die Spuren sind Schicksal, ihre Bahnen treffen sich nie.

Carreristen sind einsam: Die Spuren sind Schicksal, ihre Bahnen treffen sich nie.

(Foto: Foto: Martin Fengel/ Herburg Weiland)

Wmm. Wmm. Dieser Klang, irgendwie schleifend, dunkel und auch ein bisschen wattig, denkt sie. Wahrscheinlich denkt sie das - das denkt doch das ganze Kino. Man kann ja fast hören, wie das merkwürdige Geräusch durch die Ohren der Filmgucker hindurchrast, angesaugt von einem Gedächtnis, welches plötzlich wach ist und sich auflädt mit Signalen aus der Vergangenheit.

Ich sitze also im Kino, in der Mitte, sehe die Frau in der Halle und höre die Klänge von gestern. Ich finde, dass jenes Wmm auf dunkelwattige Art surrt und zugleich elektrohaft-hell wimmert. Und das Schleifen, das ist vielleicht eher ein Schieben, ein Drängen, ein Ankommen, mehr noch: ein Abfahren- und Durchstarten-Wollen. Und dann klingt das alles auch sehr unentschieden, halberwachsen und kein bisschen nach einer dieser Reise- Weisheiten von Valéry. Denn: Wer will schon abfahren, wenn er einfach nur fahren kann in einem ewigen Kreis?

Aber dann geht auch jener Film, der sich außerhalb des Kopfes und auf der Kinoleinwand befindet, weiter - und jetzt kommt offenbar der Loop, denn da geht auch der Ton in die Höhe: Wiieee. Und in der Steilkurve kommt noch ein ratterndes Rasen dazu: W-r-r-r-r. Die Frau in der Halle geht ein paar Schritte, lauscht in das Schwarz hinein und betrachtet müde ein zittriges Lampengelb, das aus dem Zimmer schlüpft. Ahh! Da war es - zwischen Wmmm und Wiieee. Dunkel, lustvoll und wattig wimmernd. Sie reißt die Tür auf, bleibt fassungslos stehen. Da ist ihr Mann. Vor drei Wochen haben sie geheiratet, vor zwei Wochen sind sie in die hübsche Villa gezogen, vor einer Minute war die Welt noch in Ordnung. Aber jetzt liegt ihr Mann nackt in der Hängematte und sieht aus wie jemand, der eine Menge Drogen genommen hat.

Das Boxenluder

Seine Blöße ist von einer schlafenden Katze bedeckt, die Augen starren in den Raum, seine rechte Hand birgt ein Geheimnis, das an einem Kabel hängt: Das ist der Drücker, der Temporegler. Ihr Blick verfolgt das Kabel und führt sie zu der riesenhaften Carrera-Bahn, die fast das ganze Zimmer ausfüllt. Dort ist die lange Gerade, dann kommt der Loop, dann das W-r-r-r-r. Und in dem gigantischen Loop-Kringel hockt wie eine schwarze Witwe: die fremde Frau. Das nackte Hausmädchen. Das Boxenluder. Obszön bewegt sie sich auf und ab - mit einem Ahh! immer dann, wenn das kleine Rennauto in den Loop einfährt, unter ihrer Scham hindurch. Und dann dreht die Kamera endlich ab - und was danach kommt, liegt glücklicherweise im Dunklen dieses idiotischen Films. Wobei sich diese Szene natürlich trotzdem in jene Gedächtnisse bohrt, welche auch die Zeit der dunklen Hobbykeller und hell surrenden Rennautos birgt. Obszönität ist vielleicht einfach nur eine Frage des Maßstabs.

Natürlich war das, in den neunziger Jahren, ein deutscher Film, einer, der in dieser Szene mal so richtig was riskieren wollte: Filmen auf der Überholspur. Ein Film also mit Katja Riemann als Apothekerin Hella (nach dem Roman "Die Apothekerin") und mit Jürgen Vogel als Levin. Mit Levin, dem Mörder. Mit Levin, dem Auto-Freak, der mal Rennstall-Besitzer werden möchte oder Formel-1-Pilot, der Porsche fährt - und wenn nicht Porsche, dann Auto-Scooter. Und wenn er nicht auf dem Rummel oder auf den Autobahnen irgendwo im deutschen Süden seinen kleinen Verstand in den Fahrtwind hängen kann, dann baut er sich in seiner Villa eine große Carrera-Bahn auf, um damit seine autoperversen Sex- Phantasien zu inszenieren.

Allerdings: Das tut Levin nur im Film - in der Krimi-Vorlage ist von der Carrera-Bahn keine Rennspur zu entdecken. Das wirklich Spannende an diesem Film ist also die Erfindung einer denkwürdigen Metapher: die Carrera-Bahn (die auch von jeder anderen Firma stammen kann, und dann trotzdem immer und überall eine "Carrera"-Bahn sein wird), die Carrera-Bahn als Ort des Bösen.

Im Buch heißt es nämlich nur: "Margot bot sich Levin auf eine Weise dar, die ich für pervers und abscheulich hielt, und tat Dinge, für die ich mich nie im Leben hergeben würde." Das ist alles. Man muss sich vorstellen: Die Drehbuch-Autoren lesen den Krimi, machen einen Film daraus - und übersetzen den Abgrund, das Abstoßende, das peinlich Perverse und geheimnisvoll Höllische - sie übersetzen das einfach mit einer Carrera-Bahn, als wäre dies das definitiv Schlimmste, was man unter Strom setzen kann in der deutschen Provinz.

Der Witz daran ist: Wahrscheinlich haben das meine Eltern genauso gesehen. Ein ganzes Jahrzehnt lang, in den siebziger Jahren, die so dunkel und so elend waren wie die Röhren einer braunen Cordhose, habe ich mir eine Carrera-Bahn gewünscht. Zu Weihnachten, zum Geburtstag, dann wieder zu Weihnachten. Ich bekam keine. Nicht von den Eltern, nicht von Oma, Tante, Onkel. Von dem bestimmt nicht. Der saß in Mödling in seiner großen Wohnung, und in das größte Zimmer hatte er eine Eisenbahnlandschaft eingebaut. Komplett.

Um überhaupt ins Zimmer zu gelangen, musste man unter eine Holzplatte kriechen, und in der Mitte konnte man dann wie durch ein Eisloch wieder herausschauen. Dann durfte man all den Eisenbahnen zugucken, die durch eine Märchenlandschaft voller kleiner Häuser fuhren - und wenn ich nichts anrührte, dann bekam ich zehn Schilling geschenkt.

Es gab damals vor allem glückliche Eisenbahn-Kinder, Märklin natürlich, und es gab glückliche Rennbahn-Kinder, natürlich Carrera. Es gab allerdings auch Kinder, die einfach so glücklich oder unglücklich waren. Ich jedenfalls war ein total unglückliches Eisenbahn-Kind. Ich hatte jede Eisenbahn, die es gab. Ich hatte eine Personenzuglokomotive mit Schlepptender, einen Ringlokschuppen, verschiedene Tunnel, einen See (mit Campingplatz) und jede Menge Felsen-Korkrinde plus Schneetannen.

Aber ich hatte keine Carrera-Bahn. Ich war unglücklich - während Franz Josef Strauß in Niederbayern die Autobahn baute, damit BMW nach Dingolfing kam. Vermutlich waren aber meine Eltern glücklich, und zwar schon deshalb, weil sie sich mit ihrer unerbittlichen Carrera-nein-danke-Haltung auf der pädagogisch sicheren Seite fühlen durften.

Das Leben sollte offenbar zu jenem langen ruhigen Fluss werden, der sich aufstaut, wenn man immer durch ein Eisloch ins onkelhafte Wohnzimmer guckt und nichts anrühren darf. An wohl behüteten Eisenbahnspielkindern sollte das Leben vorüberziehen wie die Bilder einer bizarren Nachkriegs-Märchen-Landschaft, über die nette Erwachsene gebieten. Dabei hatte Hitler ja gar nicht die Autobahn erfunden; die Amerikaner aber hatten das Slotracing erfunden, das "Schlitzrennen".

Nachkriegsdeutsche Carrera-Kinder waren jedenfalls anders als nachkriegsdeutsche Eisenbahn-Kinder: Carrera-Kinder wollten am Drücker sein und Gas geben, nur sich selbst und keineswegs ein ganzes Land erfinden. Die wirklichen Carreristen wollten einfach schneller fahren, vorbei an unrentablen Bahnstrecken, wollten auf pechschwarzen Spuren unter Funkenflug die Steilkurven bezwingen und den Loop erzittern lassen. Sie wollten draufdrücken mit dem Daumen, mit dieser besonderen Geste einer Faust, die immer etwas größer sein möchte. Den Wiederaufbau muss man sich noch in den siebziger Jahren vorstellen, wie er gerade wütend aus einem Kellerfenster rast.

"Carrera": Das ist spanisch und fremd und heißt Rennen. Und in jenen späten sechziger Jahren, in denen eine kleine Fürther Firma, die sich eher an erwachsene Kinder statt an retardierte Erwachsene richtete, als die ihrer sensationellen Kinderspielzeug-Erfindung einen gefährlich klingenden Namen gab, da gab es ja auch noch eine Menge Platz im Land für jene Spuren, die Träume hinterlassen, wenn sie übers Land fahren wollen.

Der Schumi

Das war die Zeit, in welcher die Pisten "Avus" hießen oder "Monza", die Zeit des "Lotus 49" und des "Universal-Spaghetti-Ferrari". Aber Mitte der achtziger Jahre waren die großen Tage vorbei, das Familienunternehmen brach ein, Huschke von Hanstein machte einem Jungen Platz, den später alle nur "Schumi" nannten - und der geniale Carrera-Erfinder Hermann Neuhierl nahm sich am 6. Februar 1985 das Leben. Da war der Laden aber eh schon verkauft - und ganz Deutschland fing an, sich im Stau zu langweilen. Das war, als man es sich in der angestauten Ortlosigkeit des allgemeinen Stillstandes gemütlich machte, vielleicht irgendwo an der A7 Richtung Kassel. Oder vielleicht zwischen Schweinfurt-Werneck und dem Gramschatzer Wald.

Aber vielleicht ist das Land gar nicht so reich und so unbeweglich dumm, wie es immer tut mit seinen Schumi-Doppelerfolgen, mit all den Silberpfeil-Nachkommen und all den Lärmschutzwänden, den 11250 Autobahnstaukilometern (zu je 21 Millionen Mark), dem Volksautokanzler, dem Fahrertraining auf dem Nürburgring, den ADAC-Renn-Posten und den ADAC-Stau- Psychologen, mit all den billboardgroßen Gurt-Anlege-Botschaften, den Einfädelspuren und stillen Standstreifen, mit all den Leitplanken, Tankstellen, Autobahnkirchen. Und überhaupt mit dem ganzen automobilen Leben, das aussieht als wäre es gezeugt worden in einer Liebesnacht, in der sich auf jenen unendlichen Carrera-Parallelen, die sich eigentlich nur im Universum treffen dürfen, als wären sich dort der Porsche 917/10 und der McLaren M8F doch einmal verdammt nahe gekommen. Und beide haben sicher von einer Eisenbahn geträumt, die in die Vergangenheit führt, wo es weder BRD noch Führerstraßen gibt. Und vielleicht überhaupt keine Führung und Spuren und Bahnen und Leitplanken- Kultur.

Vermutlich ist also dieses Land nur zu begreifen, wenn man sich vorstellt, dass all die Carrera-Bahn-Kinder all ihre Geraden, Kurven und Rundenzähler bis heute unermüdlich zusammenstecken - so lange, bis daraus eine gigantische Acht wird, welche sich irgendwann einmal um unser Sonnensystem legen wird.

Die Carrera-Bahn ist also wahr und obszön geworden - alles nur eine Frage des Maßstabs. All die traurigen Eisenbahn-Kinder von einst aber, die haben sich als Erwachsene ihre Träume erfüllt und große Autos und kleine Zweitautos und winzige Rennautos gekauft. Wie früher dürfen sie auf fremden Bahnen fahren und immer öfter auch stehen. Und so betrachten sie nicht den Horizont, sondern nur jene unbegreiflich liegende Acht, die sich ins Universum ausdehnt und nichts anderes bedeutet als dies: Ewigkeit, rasender Stillstand, Unendlichkeit, Deutschland. Runde um Runde.

Zuletzt schrieb Christopher Keil über den Puma-Schuh. Nächste Folge: Albert Ostermaier über die Musik-Cassette.

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