Bitterer Geschmack:Clowns wie wir

Albträume von der Rückkehr der Militärdiktatur: Warum Künstler und Intellektuelle die Angriffe auf Präsidentin Dilma Rousseff als sehr persönliche Bedrohung sehen.

Von Katherine Funke

Es sind düstere Zeiten, abgesehen von der stechenden Sonne. Korrupte Politiker übernehmen die Macht, mehr Macht als je zuvor, und ihre Verbrechen bleiben straflos. Das Schlimmste: Sie wollen das Internet überwachen, neue Regeln einsetzen, die etwa die Navigation einschränken, so fürchten wir. Vielleicht stehen wir alle schon auf der schwarzen Liste der Faschisten, die Brasilien bald regieren werden.

Eine Freundin erzählt mir am Telefon, sie habe Albträume. "Ich träume, dass sie mir ins Gesicht schlagen, mich vergewaltigen, und dann wache ich auf der Straße auf." Drei oder vier Nächte lang hat sie immer denselben Traum. "Sie zerbrechen meinen Schädel mit Schüssen, sie schlagen mir die Faust in den Mund, sie strangulieren mich." Und dann folgt der finale Schock: "Diese Nacht war es noch schlimmer. Sie führten eine Ratte in meine Vagina ein. Und im Hintergrund hörte ich die Stimme von Jair Bolsonaro", sagte sie: "Ich rufe Gottes Namen und lobpreise den Himmel für all den Segen dieses Landes."

Ich empfehle ihr Kamillentee und mache mir auch einen. Jair Bolsonaro ist Abgeordneter und berüchtigt für seine verbalen Angriffe auf Homosexuelle, indigene Völker, Flüchtlinge, schwangere Frauen. Am 17. April beschloss das Unterhaus, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff einzuleiten. Und Jair Bolsonaro widmete seine Stimme gegen Rousseff Oberst Brilhante Ustra, dem Chef-Folterer zu Zeiten der Militärdiktatur, die solche Verbrechen an Frauen beging. Eines der berühmtesten Opfer Ustras war Dilma Rousseff.

Ich versuche, meine Freundin zur Ruhe zu bringen. Aber sie ist schwanger und hat sich mit dem Zika-Virus infiziert. Meine eigene Strategie zur Beruhigung sind kilometerlange Radtouren und eiskaltes Wasser, ich komponiere Musik, schreibe Gedichte und Erzählungen, als wäre es meine letzte Chance. Vielleicht ist es das auch. Ich habe nie an Protesten teilgenommen, aber im Geist bin ich eine Aktivistin.

Am Freitagabend ging ich mit Freunden aus. Ich blieb bis fünf Uhr morgens wach. Wir sprachen über Politik, über alles. Wir tranken Unmengen Bier in einer Bar, aber so etwas wie "Na, wenn schon" brachte ich nicht über die Lippen. Es ist keine gute Idee, Bier zu trinken, wenn man schon einen bitteren Geschmack im Mund hat, schon seit vielen Tagen hatte ich keine Lust auf Bier. Ich bestellte Kaffee, um wach zu bleiben, nur für den Fall, dass uns die Demokratie am nächsten Tag schon abhanden gekommen wäre.

Third Prize Stories Daily Life - 2016 World Press Photo

Die sozialen Spannungen sind gewaltig, viele Bewohner der Favelas hofften auf Präsidentin Dilma Rousseff: Polizeistreife in Rio.

(Foto: Sebastian Liste/NOOR/laif)

Ich habe keine Lust, zu kämpfen oder zu essen. Wofür auch? Ich zittere innerlich. Ich habe eine energetische Krise. Wir haben sie. Morgen könnten wir, die Künstler und Intellektuellen, bereits tot sein, wenn nicht physisch, so doch erschöpft durch das Fehlen von Arbeit und Unterstützung, psychisch ausradiert von jenen, die Kunst und Kultur ablehnen. Die, die nicht wollen, dass wir andere Informationen verbreiten, eine Gegenkommunikation in einem Land mit einer so starken Konzentration der Medien.

Ich bin für keine der beiden Seiten. Brasilien wird vom Geld der Mächtigen regiert. Dilma Rousseffs Arbeiterpartei hat sich so korrumpiert, dass sie meine Vergebung nicht mehr verdient. Aber ich lehne diesen Putsch ab, der von der höchsten richterlichen Instanz und den brasilianischen Gesetzen legitimiert wird. Ja, ich glaube, dass das Amtsenthebungsverfahren ein Putsch ist. Viele Regierende in Brasilien oder auch anderswo haben Steuertricks angewendet. Dilma Rousseff hat nur eine gängige Masche wiederholt.

Ich gehe aus dem Haus. Ich trage einen Hut, um mich auf den heißen Straßen vor der Sonne zu schützen. Manchmal kommt es mir so vor, als hörte ich das Wort "Hoffnung", wie in einem Traum oder als sei ich betrunken. Dieses Wort war eine Hymne, damals, bei der ersten Wahl von Präsident Lula da Silva. Das war vor 13 Jahren, als die Arbeiterpartei an die Regierung kam. In jenen Tagen war Lula da Silva die Hoffnung der Armen, der kleinen Angestellten, der Wissenschaftler, Lehrer, Künstler und Kulturschaffenden.

funke

Katherine Funke wurde 1981 in der südbrasilianischen Stadt Joinville geboren. Sie arbeitete als Polizeireporterin in Salvador da Bahia, seit 2014 lebt sie als freie Autorin in Joinville.

(Foto: privat)

Wir übertrugen diese Hoffnung auf Dilma, aber heute existiert sie nur noch in der Erinnerung. Die Realität ist härter. In jener dramatischen Woche im April, als über das Amtsenthebungsverfahren abgestimmt wurde, ging ich nicht aus dem Haus. Ich mied die Konfrontation. Die Menschen wollen, dass sich die Situation schnell klärt, dass Dilma fällt, dass eine neue Regierung eingesetzt wird, dass Gott diese Nation segnen möge.

Meine Sicht der Dinge? Wenn ich könnte, würde ich das Land verlassen. Aber ich kann nicht

Diese Menschen wissen offensichtlich nicht, dass Gott schon seit langer Zeit tot ist. "Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als nach Uruguay überzusiedeln", stellte einer meiner Professoren an der Fakultät für Literatur fest. Er hat schon mehr politische Krisen als ich gesehen und die Diktatur am eigenen Leib erfahren. Er spricht heute von einem "Staat im permanenten Ausnahmezustand", nach dem Philosophen Giorgio Agamben. Wir sind in einer Krise, die nicht enden wird. Am heutigen Mittwoch stimmt der Senat über das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff ab. Vielleicht kehren wir zurück zur Diktatur, zur Zensur, zur Missachtung der Meinungsfreiheit und zur Handlungsunfähigkeit. Meine Sicht auf die Dinge? Wenn ich könnte, würde ich Brasilien verlassen und zumindest eine Zeit lang in einem anderen Land leben. Aber ich kann nicht. Das wäre ein komplexes und teures Unterfangen, und meine Familie ist strikt dagegen.

Am besten ist es, wenn wir uns vorstellen, dass die Zeit vergeht, die Regierung sich ändert, die Krise andauern wird, und wir bleiben das Volk hier unten, für oder gegen den Putsch, was macht das schon? Wir lassen uns behandeln wie Clowns. Wenn es gut läuft, könnten wir wenigstens noch über uns selber lachen.

Übersetzt von Michaela Metz.

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