Bob Dylan:Geständnisse einer Maske

Er schenkt uns sein Leben. Der Schurke hat eine riesige Autobiografie in die Maschine gehauen, alles, alles reingetippt. Und nur in Großbuchstaben. Der Buchherbst hat seine Sensation.

Von Willi Winkler

Gesund soll er ausschauen, viel besser als all die Jahre. Er lacht sogar, wenn es sein muss. Und Kaffee trinkt er, aus einem Styroporbecher. Und: er redet. Bob Dylan redet? Weil er ein Buch geschrieben hat. Sein Buch. 63 Jahre alt ist er jetzt und durch viele Formen geschritten, war Jude, Christ, wieder Jude, wieder Christ und immer Fundamentalist, nämlich Bob Dylan, Autor und Sänger von "Just Like Tom Thumb's Blues" und "Tangled Up in Blue", hat Fans und Verächter zu gleichen Teilen verstört über die Jahrzehnte und bekommt, nein, es ist keineswegs ausgeschlossen, in der übernächsten Woche womöglich endlich den Nobelpreis für Literatur.

Bob Dylan: Bob Dylan

Bob Dylan

(Foto: Foto: Reuters)

Darauf wird er gut verzichten können, obwohl man sich gern vorstellt, wie die Bunte dann deutsche, also leer ausgegangene Autoren nach der Entscheidung fragt und den Martin Walser an seine Bemerkung erinnert, was man denn an diesem "herumzigeunernden Israeliten" (M.W. 1978 über B.D.) eigentlich so toll finde.

Seine Musik, könnte man sagen.

Seine Lieder.

Also ihn.

Dieser Bob Dylan hat auf eigner Schreibmaschine mit lauter Großbuchstaben ein Buch getippt (oder doch auf ein allzeit bereites Tonband gesprochen), das endlich die Wahrheit über sein Leben bringen soll. Genug Lügen sind über ihn verbreitet, jetzt sollen, so hat er es wieder und wieder angekündigt, die Fakten folgen. Drei Bände "Chronicles" sind vorgesehen, und der erste Band erscheint jetzt. Niemand hat ihn bisher zu lesen bekommen, aber bei amazon.com steht er bereits auf Platz 7.

Nur unter konspirativsten Bedingungen - "auf seiner Farm in Minnesota", "irgendwo in einem Motel im Mittleren Westen" - ließ sich der Autor für ein paar Journalisten sprechen und offenbar nur in Gesellschaft eines stark eingerosteten Autos, neben dem er sich fürs Cover von Newsweek fotografieren ließ. Dort erschien eine Kostprobe aus dem Buch, die aber ebenso wie das von dem Schauspieler und Regisseur Sean Penn gesprochene Hörbuch nicht allzu viel über den Autor verrät.

Wenn er all die Jahre so kostbar tat mit seinem Leben, warum sollte er jetzt plötzlich plaudern, alles austratschen, was unsereins schon immer wissen wollte? Ja, warum? Nun, zum Beispiel, weil wir's wissen wollen. Aber, das weiß er schon selber: "Mir gehört das, worauf es ankommt." Drum verfügt er allein drüber. Und in sehr freier Weise.

Im "Buch der Chronik" (auf Englisch: "Chronicles") des Alten Testaments, bei Martin Luther noch "Chronica" geheißen, wird sehr aufwändig die Abstammungslinie des Volkes Israel erzählt, und so weiß man, dass dem Ur-Vater Adam Seth nachfolgte (denn Kain hatte doch Abel erschlagen und kam damit nicht mehr für die Nachfolge in Frage), dann Enosch, Kenan, Mahalaleel, Jared, Henoch, Metuschalach, Lamech und schließlich Noah, der wiederum Sem, Ham und Japheth zeugte, die mit dem Zeugen dann gar nicht mehr aufhören konnten, was die Nachfahren erst recht ermutigte, bis die Chronik der Zeugungen und der Söhne (Töchter spielen einfach nicht die Rolle im Buch der Bücher) unweigerlich zum König David führt, den der Richter Samuel salbt, und den Höhepunkt des Königreichs Israel unter Salomo bringt, der den schönsten aller Tempel in Jerusalem bauen lässt.

Keine Lust auf den Anfang bei Adam und Eva

Aber der Autor der neuen Chronik hat erkennbar keine Lust, wieder bei Adam und Eva und Hibbing und 1941 in den Eisenerzgruben von Minnesota anzufangen, den Weg nach New York und Newport zu beschreiben, die jugend- und drogenbewegte Entwicklung von "Judas!" und Sara-oh-Sara bis an die Klagemauer in Jerusalem und zum Budokan in Tokio nachzuerzählen.

Und die Herzbeutelinfektion.

Und der Papst.

Die zweite Ehe.

Noch ein Kind.

Der Oscar für "Wonderboys".

Der leckere Werbe-Clip neulich, für "Victoria's Secret".

Geständnisse einer Maske

Oder warum er so ruhelos umherzieht, fast jeden zweiten Tag ein Konzert gibt. Sondern von dem dahinsiechenden Woody Guthrie berichtet er, der seit Jahren an der unheilbaren Krankheit Chorea Huntington leidet und inzwischen im Greystone Hospital lebt. Kaum angekommen in New York, fährt der 20-jährige Bob Dylan hinüber nach New Jersey und erlebt eine gespenstische Irrenhausszene: im Flur schreien und heulen und (sind wir doch in der Bibel?) zähneklappern die Kranken, von Spinnen fühlt sich einer verfolgt, einer trägt einen Zylinder und hält sich für Uncle Sam, einer schmatzt, weil er wieder damit beschäftigt ist, zum Frühstück Kommunisten zu verspeisen.

Dylan pfeift aufs patentierte Schema

Bob Dylan, der noch Robert Zimmermann heißt, spielt dem verehrten Meister Guthrie dessen eigene Lieder vor und findet Anerkennung. Das würde man im klassischen Bildungsroman die Designierung nennen, der Ältere segnet den Jungen, dessen Talent er erkannt hat, und erwählt ihn zu seinem Nachfolger. Dylan pfeift aufs patentierte Schema und bringt uns eine vollkommen absurde Geschichte vor: Woody Guthrie sagt ihm also, bei sich zu Hause, unterm Bett, da finde er eine Schachtel mit Songs, und die seien für ihn, ein Geschenk, ein Vermächtnis!

Der junge Mann steigt in Manhattan brav in die U-Bahn und fährt bis an die Endstation nach Coney Island, wo er die beschriebene Häuserzeile sieht, drauf zugeht und sich unversehens in einem Sumpf findet, den er dennoch zielstrebig durchwatet. Nass und steif gefroren bis hinauf zu den Knien, langt er bei Guthries Haus an, eine Babysitterin tut ihm auf, keine Ehefrau daheim, nur der Sohn Arlo, der den Penner hereinlässt, aber natürlich nichts weiß von einer Schachtel mit wertvollen, unveröffentlichten Songs seines kranken Vaters.

Vierzig Jahre später seien die Songs Billy Bragg und Wilco in die Hände gefallen, und die haben sie dann aufgenommen. Vierzig Jahre später!

Zeit und Raum sind aufgehoben

Aber Zeit und Raum sind aufgehoben bei diesem Schriftsteller, der Anfang ist das Ende und doch nur ein Versuch, den Leser irrezuführen. Rhapso- und ein wenig psalmodierend erzählt Bob Dylan diese und andere Geschichten aus seinem Leben. Er ist freundlich zu seinen Mitmenschen und will niemandem weh.

Die Feinde von einst, die Freunde, die ihn eifersüchtig belauerten; Joan Baez, der er sich erst an den Hals warf, um sie dann doch sitzen zu lassen; der Manager Albert Grossman, der ihn auf mörderische Tourneen schickte; die Kollegen alle: Sie treten kaum mit ihren chronikalischen Namen auf, denn hier muss sich ein Einzelner, ein allerdings maßlos gefeierter Einzelner gegen die immer anbrandende Masse der anderen behaupten.

Vielleicht ist er schon auserwählt geboren, jedenfalls macht sich dieser Königssohn keine Mühe, eine Karriere aus der Finsternis ans Licht oder nur von unten nach oben nachzuerzählen.

Er war immer schon da, und dann wollte er immer sofort weg. Weg aus dem Licht, fort mit dem Ruhm. In Ruhe sollen sie ihn lassen, und die Musik, seine, die ist doch nichts weiter als Musik. (So kann man sich täuschen.) Gelesen hat er auch in dieser ersten Zeit in New York wie ein Verrückter, Machiavellis "Fürsten" durchgearbeitet, den "Contrat social" von Rousseau und "Vom Kriege" des guten Herrn Clausewitz. Wer weiß, wozu's gut ist, später.

Aber wollte er nicht mal, noch in Minnesota, vor New York, wie der Autor von "Masters of War" jetzt einer kuhäugig staunenden Weltöffentlichkeit entbirgt, auf die Akademie nach West Point, Offizier werden, in den Krieg ziehen, General, Außenminister, Präsident werden sogar? "Hatt' ich ganz vergessen, fiel mir aber beim Schreiben wieder ein." Toll.

Es war doch alles ganz anders, sagt er.

Hohepriester des Protestes

Der legendäre Unfall 1966 - Ist Dylan tot? Querschnittsgelähmt? Debilisiert? - war nichts weiter als eine Gelegenheit, sich dem Geschiebe, Geziehe, Gezerre der bösen Welt zu entziehen. "Ich hatte einen Unfall mit dem Motorrad, war verletzt worden, aber ich erholte mich." Vom Ruhm, der so schnell über ihn gekommen war, von "Bob Dylan", den sie haben wollten. "Denn ich war gesalbt zum Chef der Rebellion, zum Hohepriester des Protests, zum Zar des Dissidententums, zum Großmeister des Ungehorsams, zum Führer der Freischärler, zum Kaiser der Abtrünnigen, zum Erzbischof der Anarchie, zum Großmonster. Alles nur Codenamen für den Außenseiter."

Denn er wollte nicht mehr das "Sprachrohr meiner Generation" sein, auserkoren von - was für eine hinreißende Bezeichnung! - "schelmenhaften Radikalen", kein Messias, kein nichts. Meint er das ernst? Er hatte doch nicht etwa einen Nervenzusammenbruch, fragt ihn der Sunday Telegraph fürsorglich. "Doch ja, wahrscheinlich. Trotzdem muss man irgendwie weiter machen, so gut es eben geht." Nach den großen Platten, den großen Tourneen, den großen Frauen, nach Ruhm, Warhol und Kiffen mit den Beatles wollte er nur noch seine Familie.

Also heiratete Bob Sara, zeugte mit ihr Jesse, zeugte Anna, zeugte Samuel, zeugte Jacob und träumte ('s ist doch wohl nicht wahr!) "von einem Acht-Stunden-Tag, einem Haus mit Bäumen vor der Tür, einem weißen Gartenzaun und rosanen Rosen hinten draußen". In Woodstock ganz oben im Staat New York fand er ein Haus für sich und die wachsende Familie. Aber keinen Frieden. Sie waren doch auf der Suche nach ihm, die Hippies, die Außenseiter, all die Leute, die den Outlaw brauchten, damit sie am Montag wieder halbwegs beruhigt zur Arbeit und in den Acht-Stunden-Tag fahren konnten.

Geständnisse einer Maske

Wie hätten sie ihn da ausgerechnet in Woodstock in Ruhe lassen können, in der Künstlerkolonie, wo das wilde Tier, der Rätselmann doch frei und für alle zu bestaunen herumlief? Drum belästigten sie ihn im Restaurant, lauerten vor seiner Tür, kamen bis aus Kalifornien angefahren, um aufs Dach seines Hauses zu kraxeln. "Wenn sie mich sahen, starrten sie mich an, als wär ich ein Schrumpfkopf oder eine riesenhafte Dschungelratte." Was ihm für Bilder einfallen!

Schließlich bewaffnete er sich und legte sich ein Arsenal an Revolvern und Schrotflinten zu. Geschossen hat er dann doch nicht, sondern ist weggezogen nach New York, wo ihm dann ein anderer Fan auflauerte, der jeden Tag den Müll durchmusterte und eine "Befreit-Dylan-von-der-Nadel"-Kampagne begründete. Das hält keiner aus ohne einen wenigstens kleinen Nervenzusammenbruch.

Folgen einige sehr kryptische Bemerkungen über die Platten, die er in dieser Zeit aufnahm, an deren Titel er sich gar nicht mehr zu erinnern scheint, die er vielleicht sogar verachtet, aber das musste er doch tun, sagt er, damit er seine Fans abschüttelte und das "Sprachrohr einer Generation" nicht mehr machen musste, die er gar nicht kannte.

An Herman Melville denkt er, den die Mitwelt vergaß, nachdem er den "Moby-Dick" veröffentlicht hatte, und man weiß nicht, ob er das beklagt oder nicht vielleicht doch gut findet: Vergessen zu Lebzeiten, unerkannt, wenn er auf die Straße geht, losgelöst von seinem Werk und: befreit. So sind die "Chronicles" ein weiterer Versuch, sich zu befreien vom Ruhm und ihn endlich ins Unermessliche zu steigern. Gibt ja nicht so viele, von denen man jedes Wort auf den Knien seines Herzens entgegennähme.

Bald geht Bob Dylan wieder auf Tournee. Im Oktober, wenn sein Buch in den Läden liegt (und am 15.November in der Übersetzung von Gerhard Henschel auf deutsch bei Hoffmann&Campe), fährt er ihm nicht hinterher, hält keine Lesungen und auch keine Signierstunden (lächerlich!), sondern bereist wie immer die Welt. Singt "Desolation Row" oder "On A Night Like This" oder "Man In The Long Black Coat", über die Frau in der Bar, die vom Tode zum Tanze aufgefordert wird, "and he had a face like a mask".

Diesmal erreicht er die amerikanische Westküste, tritt in Santa Clara und Fresno auf, geht dann auf die College-Tour durch Berkeley, Davis, Irvine und Santa Barbara, berührt San Diego, um sich dann Boulder, Iowa City, Kenosha und De Kalb zuzuwenden. Biblisch.

Die Chronik, sie höret niemals auf.

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