Biografien:Aus der Perspektive der Unschuldigen

Erinnerungen an Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Die Erzähler berichten von ihrem Überlebenskampf als Kinder im Chaos des Krieges und wecken Verständnis für die aktuelle Situation kindlicher Asylbewerber.

Von Franziska Augstein

Eleonore von Rotenhan musste als Kind aus Schlesien fliehen. Viele Jahrzehnte später sagte sie: " Ich bin damit aufgewachsen, dass Hunger normal ist, dass es normal ist, barfuß zu gehen und zu dritt in einem Bett zu liegen." Ursula Heller, sie stammte aus Ostpreußen, brachte mit zwölf Jahren ganz allein ihre kleinen Geschwister durch: Sie lebten als "Wolfskinder" in Polen. Mitunter schenkten Einheimische den herumirrenden Geschwistern eine Scheibe Brot. Vor anderen Flüchtlingen fürchtete Ursula Heller sich: Sie habe aufpassen müssen, "dass die Erwachsenen mir das nicht wieder wegnahmen, was ich gebastelt oder irgendwo gefunden hatte". Karl Heinz Ritschel, der in Böhmen lebte, aufwuchs, sah wie halb verhungerte KZ-Häftlinge von SS-Leuten mit rasender Lust geprügelt wurden. "Das war für mich eines der schrecklichsten Erlebnisse in der Kriegszeit, viel schrecklicher als die Bombenangriffe mit den vielen Toten." Als der Krieg vorbei war, wurde er als Fünfzehnjähriger von den neuen tschechischen Machthabern zur Arbeit zwangsverpflichtet: Mit den bloßen Händen musste er stinkende Abwasserrohre reinigen. "So widerlich es war", sagt er, "es war doch harmlos im Vergleich zum Minenräumkommando. Es ist eben alles relativ im Leben."

Die 21 Männer und Frauen, die Barbara Warning interviewt hat, sind Kriegskinder: Die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges haben viele miterlebt; etliche flohen vor der Roten Armee; alle hungerten. Einige Jahre lang hat Barbara Warning an ihrem Buch Kindheit in Trümmern gearbeitet. Die Auswahl der Frauen und Männer, mit denen sie sprach, ist beeindruckend: Sie fand Leute, die all das Leid, das sie sahen und selbst erlebten, nicht hart gemacht hat, großherzige Leute, die anschaulich erzählen, ohne Selbstmitleid und ohne Hass.

Als Eleonore von Rotenhan erwachsen war, hat sie sich in der Flüchtlingshilfe engagiert: "Ich kenne dieses Gefühl, an einen Ort zu kommen, an dem ich nicht aufgewachsen bin, und dass mir die Einheimnischen zeigen, dass ich nicht dazugehöre (. . .) ich kann nachvollziehen, wie es Asylbewerbern geht." Ursula Heller hat bis zu ihrem Tod 2012 in jedem Frühjahr Brennnesseln gepflückt und gegessen: Sie war der Pflanze dankbar. Ohne Brennnesseln wären sie und ihre Geschwister verhungert. Karl Heinz Ritschel war lange Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Viele Bücher hat er publiziert, aber keines über seine Kindheitserlebnisse: "Es war", schreibt Warning, "zu schmerzhaft für ihn."

Barbara Warning ist ein großartiges Buch gelungen. Sie zeigt aus der Perspektive der Unschuldigen, der Kinder, was das NS-Regime verbrochen hat und wie die Kinder damit fertig wurden. Einzelne Exkurse erklären Spezialthemen: Traumata, Nissenhütten, "Displaced Persons" oder wie es zur Einrichtung der Organisation SOS-Kinderdorf kam. Nur ein Fehler sollte in einer Neuauflage vermieden werden: Der Kalte Krieg begann nicht mit der Berlin-Blockade 1948. Der begann 1944 und wurde 1946 mit Winston Churchills Rede in Fulham (Missouri) offiziell: Ein "eiserner Vorhang", sagte Churchill da, teile den europäischen Kontinent.

Barbara Warning: Kindheit in Trümmern. Ravensburger 2015. 192 Seiten, 19,99 Euro.

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