Biografie:Schreibsucht

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Der Germanist Peter Walther erzählt unfassbar material- und detailreich das von Krisen und Abstürzen geprägte Leben des stets groß scheiternden Schriftstellers Hans Fallada.

Von Jens Bisky

Im Oktober 1911 schossen der Gymnasiast Rudolf Ditzen und sein Freund Hanns Dietrich von Necker aufeinander, als würden sie sich duellieren. Sie hatten keine Sekundanten dabei. Der erste Schuss ging vorbei, ein zweiter traf von Necker, Ditzen schoss sich zweimal in die Brust, kam wieder zu Bewusstsein, rief um Hilfe und überlebte. Der Freund starb. Der als Duell getarnte Versuch eines Doppelselbstmords passte in die Zeit. Schuldruck und die Nöte des Heranwachsens waren beliebte literarische Sujets, 100 Jahre nach dem dramatisch inszenierten Ende Heinrich von Kleists und Henriette Vogels. Zwei deutsche Schriftsteller traten ins Erwachsenenleben mit einer missglückten Kleist-Imitation: Johannes R. Becher und eben Rudolf Ditzen, der seine Bücher unter dem Pseudonym Hans Fallada veröffentlichen würde.

1911 wurden die Mitschüler befragt, was sie über den Ditzen wüssten. Der habe, gab einer zu Protokoll, behauptet, dass es keine Charaktere gäbe, "der Mensch könne heute so, morgen so sein".

Mag Falladas Leben auch in viele Situationen und einander widersprechende Rollen zerfallen, so gab es doch - heute so, morgen so - zwei ständige Begleiter: die Sucht und das Schreiben, eine Schreibsucht. Er hat in der Schule damit begonnen, sein erster Roman, "Der junge Goedeschall", erschien 1920, seinen letzten schrieb er 1946 in knapp vier Wochen.

Den Drogen entkam er immer nur auf Zeit, dem Morphium, dem Alkohol, nie den Zigaretten - gern 120 am Tag und mehr. Er war, schreibt sein Biograf Peter Walther, ein disziplinierter Arbeiter, respektierter Landwirt, liebender Familienvater, sorgender Hausvorstand, und er war ein von Dämonen bedrängter Künstler, Frauenheld, politischer Opportunist, ein Tobsüchtiger auch: "Fallada ist am Leben mit einer Größe gescheitert, wie nur wenige sie aufbringen, die es mit Erfolg bewältigen."

In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren ist Fallada neu entdeckt worden. "Jeder stirbt für sich allein" wurde ein Erfolgsbuch in den USA, Großbritannien, Israel. In Deutschland erschienen ungekürzte Roman-Fassungen sowie eine Fülle biografischen Materials: Krankenakten, Briefe, das Gefängnistagebuch des Jahres 1944. Der Germanist Peter Walther hat darüber hinaus die rund 8000 Briefe im Fallada-Archiv gesichtet; er hat die Korrespondenz mit Siegfried Kracauer ausgewertet, der die Angestellten-Welt soziologisch beschrieb, bevor Fallada in "Kleiner Mann - was nun?" Sicherheitshoffnungen und Abstiegserfahrungen gestaltete. Auch aus dem kurzen Briefwechsel mit dem Nazi-Narren Will Vesper wird zitiert, der 1934 "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst" und seinen Verfasser bös attackierte. So detailreich sind Aufschwünge und Abstürze Falladas, sind die Begleitumstände seines Werks bisher nicht geschildert worden. Das ermüdet gegen Ende etwas, schon wieder ein verzweifelter Klinikaufenthalt, den der Autor bald abbricht, schon wieder eine Frauengeschichte. Aber Walther überzeugt mit auktorialer Zurückhaltung, er erklärt, ohne zu belehren, erzählt behutsam, ohne dramatisierende Tricks und Einfühlungskitsch, im historischen Präsens.

1929 war das entscheidende Jahr dieses Lebens. Der 35-Jährige, der eine Haftstrafe wegen Unterschlagungen abgebüßt hatte, führt nun im überschaubaren Neumünster ein halbwegs geregeltes Leben als Annoncen- und Abonnentenwerber. Im April heiratet er sein "Lämmchen", Anna Issel. Eine Zufallsbegegnung mit seinem Verleger Ernst Rowohlt bringt ihn zurück ins Literarische, aber diesmal bespiegelt er sich nicht selbst, sondern findet mit "Bauern, Bonzen und Bomben" seine Manier des scharf beobachteten, in Dialogen voranschreitenden, effektischeren Erzählens. Der Roman wird ein Erfolg, vor allem bei den Kritikern. 1932 dann gelingt der Durchbruch mit "Kleiner Mann - was nun?". Fallada wird prominent, die Einnahmen sprudeln, er kann seine Schulden tilgen. Die kleinen Leute fühlen sich verstanden, er ist der Autor der Stunde.

Dabei kam er aus guten Verhältnissen, geboren als Sohn eines zielstrebigen Landrichters, der sich vorgenommen hatte, am Reichsgericht zu arbeiten und 1909 dann Reichsgerichtsrat wurde. Doch der Sohn, das dritte Kind, bereitet früh schon Schwierigkeiten, offenbart eine überspannte Fantasie, die sich um die Grenzen zwischen Dichtung und Wirklichkeit nicht schert. Er spinnt Pennälerintrigen, kokettiert mit Selbstmord und Dandytum, fasst eine Aversion gegen die Eltern, die sich nicht zu helfen wissen.

Was haben sie falsch gemacht? Kurzschlüsse zwischen Leben und Werk stimmen skeptisch, aber wenn Peter Walther in der Figur des Kammergerichtsrats Fromm aus "Jeder stirbt für sich allein" Züge des Vaters Ditzen erkennt, überzeugt dies. Fromm tut das Richtige, er versteckt eine jüdische Nachbarin in seiner Wohnung und erteilt ihr die Anweisung, ihr Zimmer niemals zu verlassen. Er hilft, aber verweigert Zuwendung. Die "Kälte, mit der das menschlich Gebotene umgesetzt wird, die rein juristische Grundierung von Güte" habe der junge Fallada auch seinem Vater vorgeworfen.

Die Eltern ließen den problematischen Sohn nicht im Stich. Die Mordanklage nach dem versuchten Doppelsuizid wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit fallen gelassen, Rudolf Ditzen kam in eine Nervenheilanstalt, wurde dann Gutseleve - und wahrscheinlich ab Sommer 1917 Morphinist mit all den Beschaffungs- und Entzugsproblemen.

Falladas Leben erinnert an einen Seiltänzer, der regelmäßig den Absprung sucht, als müsse unter ihm noch ein Seil aufgespannt sein, auf dem er gerade noch zum Stehen kommen könnte. Die Detailversessenheit dieser Biografie bewährt sich vor allem, wenn es um Hans Falladas Existenz im Dritten Reich geht. Er war ein Erfolgsautor der Weimarer Republik, mit Sympathien für die linken Kräfte. Im April 1933 wird er von der SA verhaftet. Sein Vermieter hatte ihn denunziert, um Schulden loszuwerden. Fallada hatte einen Teil der Hypotheken des Denunzianten erworben. Er kommt davon, erwirbt bald darauf ein Anwesen in Carwitz, wird Landwirt, bleibt Schriftsteller und in Deutschland, trotz einiger Angriffe in der Presse.

Wie Anpassung vor sich geht, wo die Grenzen des Mitlaufens sind und wie diese doch überschritten werden, lässt sich an Fallada Schritt für Schritt nachvollziehen. Er schreibt wie besessen, verdient prächtig, wird in Carwitz schikaniert, schreibt weiter. Als Sonderführer des Reichsarbeitsdienstes fuhr Fallada 1943 nach Frankreich, seine Briefe und Aufzeichnungen verraten die Sucht nach offizieller Anerkennung, die Bereitschaft, sich das Gesehene zurechtzulügen, dem alltäglichen Konformitätsdruck nachzugeben: "Ich habe diese Nacht diese Jungens auf den Fliegerhorsten mit erlebt ... das alles kann nicht umsonst sein, wir sind die Herren der Welt, bestimmt Europas. Nur ein bisschen mehr Zeit und Geduld."

Das habe er für die Zensur geschrieben, sagt er nach dem Krieg. Aber er hat im Auftrag des Propagandaministeriums Material für einen Roman über den Fall Kutisker gesammelt, einen Skandal der Zwanzigerjahre. Er schreibt bis 1945 an dem Buch, vom Manuskript ist nichts überliefert. Der Lektor des Heyne-Verlags war von den ersten Textteilen begeistert. Gelungen sei es, "einen nicht antisemitischen antisemitischen Roman" zu schreiben. Das meinte für die Auftraggeber nicht aufdringlich, nicht propagandistisch, Fallada wollte "nur scheinbar antisemitisch" verstehen.

Die Nationalsozialisten, notiert er, gingen mit den Menschen wie mit Schlachtvieh um

Sucht und Ehekrisen haben ihn weiter im Griff. Einmal schießt er in Richtung seiner Frau, wird verhaftet, im Gefängnis schreibt er besessen, schreibt sich den Hass auf den Nationalsozialismus von der Seele, schreibt den "Trinker".

Es sei "das hervorstechende Merkmal der Nationalsozialisten", notiert er im Gefängnis, "mit den Menschen wie mit Schlachtvieh umzugehen". Dass der Rowohlt-Lektor Paul Mayer und der Verleger Leopold Ullstein angesichts der Verfolgung zusammenrückten, erklärt er sich mit der "Blutverschiedenheit", die die Juden selbst fühlen würden. Dieser Autor eines großen antifaschistischen Romans war zugleich empfänglich für antisemitische Phrasen und Bilder.

Er spürt, dass er zu sehr nach Geld und Erfolg geschielt hat, er weiß, dass er seine Frau kränkt, und lässt sich einer Jüngeren wegen scheiden. Sein Biograf folgt ihm bis in die letzten Abstürze. Johannes R. Becher hat Fallada am Ende geholfen wo es ging und über ihn gesagt, er habe gelebt "in der Fülle seiner Gesichte". Die Literaturgeschichte spricht von "neuer Sachlichkeit".

Peter Walther: Hans Fallada. Die Biographie. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 527 Seiten, 25 Euro. E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 21.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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