Biografie:Gipfelstürmer

Er schien rastlos, getrieben, sprach schnell und ununterbrochen: Andrea Wulf folgt den Lebensabenteuern Alexander von Humboldts - und zeigt, wie er unser Naturverständnis prägte.

Von Jens Bisky

Wie furchtbar es ist, wenn man nicht fortkommt. Nach dem Tod seiner Mutter im November 1796 erbte Alexander von Humboldt ein ansehnliches Vermögen. Er habe nun, schrieb er, "so viel Geld, dass ich mir Nase, Mund und Ohren vergolden lassen kann". Unverzüglich kündigte der 27-Jährige seine Stellung als Bergassessor und begann sich auf eine weite Reise, eine wissenschaftliche Expedition vorzubereiten. Nur wohin? Und mit wem? In Paris traf er den jungen Naturforscher Aimé Bonpland, doch scheiterte vorerst ihr Bemühen, an oder auf ein Schiff zu gelangen. Die Revolutionskriege, die europäische Politik versperrten die Welt.

Kurz entschlossen reiste Humboldt, Bonpland im Schlepptau, nach Madrid und erhielt, was zuvor nur wenigen geglückt war, vom König einen Pass für die Erkundung der spanischen Kolonien in Südamerika und auf den Philippinen. Im Juni 1799 zog er los an Bord der Pizarro hinaus auf den Atlantik, über Teneriffa nach Neuandalusien, wo er und Bonpland in Cumaná, im heutigen Venezuela, von Bord gingen. Fünf Jahre würde er in Amerika verbringen, den Süden des Kontinents, die Llanos, den Orinoco und die Anden erkunden, den Chimborazo besteigen, der damals für den höchsten Berg der Erde gehalten wurde, nach Washington reisen und Thomas Jefferson treffen, Kuba besuchen.

Biografie: Steve McCurrys Lesende überwinden Raum und Zeit, manchmal buchstäblich: "Über dem Atlantik".

Steve McCurrys Lesende überwinden Raum und Zeit, manchmal buchstäblich: "Über dem Atlantik".

(Foto: Steve McCurry)

Er war, dank seiner Briefe, dank der Gerüchte und Nachrichten von seinen tollkühnen Forschungsreisen, eine Berühmtheit, als er im Sommer 1804 nach Europa zurückkehrte. Und brachte einen Schatz von Beobachtungen und Aufzeichnungen mit, wie sie so reichhaltig und vielgestaltig kaum ein Zweiter zusammengetragen hatte. Er konnte den Rest seines langen Lebens - Alexander von Humboldt starb 1859 - von diesem Vorrat zehren. Er veröffentlichte seine Forschungsergebnisse in vielen Bänden, hielt Vorträge, beriet Kollegen. Und er sehnte sich doch immer wieder hinaus in die Ferne, ins Unerkundete jenseits des Stubenhockerdaseins.

Seit seinem 200. Geburtstag ist viel unternommen worden, Alexander von Humboldt für die Gegenwart zurückzugewinnen. Daniel Kehlmann hat ihn als Romanfigur wiederbelebt, die "Ansichten der Natur" und der legendäre "Kosmos" sind in der Anderen Bibliothek erschienen, seine Tagebücher wurden ediert und sein Name so oft beschworen, dass es schien, als wollten die Deutschen sich mit Macht zu "Humboldt-Deutschen" veredeln. Der Verdacht, Alexander von Humboldt, sei dennoch ein kaum gelesener, nur in Auszügen bekannter Klassiker der Moderne geblieben, ist freilich bis heute nicht ausgeräumt.

Biografie: Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Aus dem Englischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann Verlag, München 2016. 560 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Aus dem Englischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann Verlag, München 2016. 560 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Als Darwin 1842 mit Alexander von Humboldt zusammentraf, kam er nicht zu Wort

Die deutsch-britische Kulturhistorikerin Andrea Wulf lädt nun dazu ein, ihn "als unseren Helden und Vorkämpfer wiederzuentdecken", als Pionier der Umweltbewegung und einen der Erfinder des zeitgenössischen Naturverständnisses. Ihr Buch, dessen englische Ausgabe mehrfach ausgezeichnet wurde, ist Biografie und ideenhistorische Studie in einem. Die wichtigen, die interessanten Abenteuer der Lebensreise des preußischen Adligen im Zeitalter der Revolutionen werden rekapituliert. Zugleich aber will Andrea Wulf zeigen, wie die Vorstellung von der Natur als einem Organismus, vom "Zusammen- und Ineinanderweben aller Naturkräfte" und andere Ideen dieses Forschers populär wurden und - gleichsam durch Osmose - so selbstverständlich, dass wir ihren Humboldtschen Ursprung vergessen haben. Deshalb erzählt sie ausführlich auch von Simón Bolívar, der auch dank der Begegnung mit Alexander zum Befreier Südamerikas wurde; sie berichtet, wie sehr Charles Darwin sich von Humboldts Schriften inspirieren ließ; und schildert, was der Dichter Henry David Thoreau, der Naturschützer John Muir und einige andere mehr ihnen verdankten.

Alexander von Humboldt war ein rastloser Mann, der mit wenig Schlaf auskam und immer etwas vorhatte. Er sprach schnell, viel, ununterbrochen, und war es gewohnt, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen, sobald er einen Raum betrat. 1842 traf er Darwin, der mit ihm über die "allmählichen Umänderungen der Arten", so eine spätere Formulierung Humboldts, hatte sprechen wollen. Der 32-Jährige arbeitete damals an ersten Darstellungen seiner Evolutionstheorie. Humboldt, knapp vierzig Jahre älter, 1,73 groß, war gekleidet "wie bei seiner Russlandexpedition: dunkler Gehrock und weißes Halstuch". Diesen "kosmopolitischen" Anzug trug er immer. Es gelang Darwin nicht, ein Gespräch zu beginnen, Bemerkungen einzustreuen. Humboldt machte Komplimente und monologisierte drei Stunden lang, ein Wortschwall, so Darwin, "ohne Maß und Ziel".

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Trotz des Ruhms, der ausgedehnten Korrespondenz, der vielen Geselligkeiten und Kontakte, all der Besucher, war Humboldt zeitlebens einsam. Er hatte nie geheiratet, sein Desinteresse an Frauen fiel auf, er schwärmte für Männer. Waren die physischen Strapazen, die er in Südamerika oder Russland auf sich nahm, auch eine Flucht vor dem Drang der Leidenschaften, vor der eigenen Sinnlichkeit?

Andrea Wulf gelingt es, in sprechenden Szenen ein klares, lebendiges Bild ihres Helden zu zeichnen. Seinen Bildungsgang allerdings behandelt sie vergleichsweise knapp, die Freundschaft mit Goethe ausführlich, aber mit zu groben Unterscheidungen. Manfred Geiers Buch über "Die Brüder Humboldt" aus dem Jahr 2010 ist in diesen Fragen genauer, aufschlussreicher. Zum entscheidenden Augenblick im Leben des Naturforschers stilisiert auch Andrea Wulf die Besteigung des Chimborazo, als anschaulich geworden sein soll, dass man die Zusammenhänge der Natur von einem höheren Standpunkt aus betrachten müsse, als der Erschöpfte erlebte, wie alles mit allem verbunden sei. Sein Forschungsobjekt war ihm kein "totes Aggregat", sondern ein "belebtes Naturganzes".

Wie fruchtbar die Suche nach Zusammenhängen, Verbindungsfäden, Analogien werden konnte, zeigt ein Beispiel von der Russlandexpedition 1829, der letzten großen Reise Humboldts, der sich lange vergeblich um eine Expedition nach Indien bemüht hatte. Da in den Bergwerken Brasiliens Diamanten gefunden wurden, war Humboldt davon überzeugt, es müsse in den Gold- und Platinlagerstätten des Ural ebenfalls Diamanten geben. Seinen Begleitern erschien er daraufhin als "verrückter preußischer Prinz Humplot". Er selbst fand keine Edelsteine, aber einer, den er mit seiner Gewissheit beeindruckt hatte, entdeckte wenige Wochen später bei Jekaterinburg zum ersten Mal einen Diamanten im Ural.

Die "Ansichten der Natur" sollten dem Leser "einen Theil des Genusses gewähren, welchen ein empfänglicher Sinn in der unmittelbaren Anschauung findet. Da dieser Genuß mit der Einsicht in den inneren Zusammenhang der Naturkräfte vermehrt wird, so sind jedem Aufsatze wissenschaftliche Erläuterungen und Zusätze beigefügt. Überall habe ich auf den ewigen Einfluß hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt." Nach einer schlagenden Beobachtung des Kulturwissenschaftlers Hartmut Böhme ist Humboldt die beabsichtige Integration von Naturbild und Forschungsergebnissen immer weniger gelungen. Von Ausgabe zu Ausgabe wuchern die Fußnoten, werden es mehr "wissenschaftliche Erläuterungen und Zusätze" neben den Ansichten und Beschreibungen. Totalität wird behauptet, aber die Fülle der Aspekte und Erkenntnisse fügt sich nicht zu einem geschlossenen Ganzen.

Die Wissenschaft unterläuft das poetische Bild, die Wissenschaftsgeschichte weiß zu berichten, wie weitere Erkenntnisfortschritte gerade in der Abkehr von Humboldts Drang aufs Ganze zustande kamen. Andrea Wulf ficht mit begeisternder Euphorie für ihren Helden, weist unermüdlich auf dessen Verurteilung der Sklaverei, der Monokultur, des bloßen Registrierens und Benennens hin. Der Leser folgt ihr gern, weil vielleicht nicht Humboldts Programm, wohl aber die Spannung zwischen Detailerkenntnis und Ganzheitssehnsucht noch immer gegenwärtig ist.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: