Biografie eines Meisterwerks:Zwischen Kanon und Vergessen

Thomas Nipperdeys dreibändige "Deutsche Geschichte" erschien ab 1983 und galt rasch als Standardwerk. In "Lebens Werk" erzählt der Historiker Paul Nolte die Biografie des Buches.

Von Robert Probst

Wer Anfang der Neunzigerjahre seine ersten Semester als Student der Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität verbrachte und auf der Suche war nach einem Weg durch das tiefe Dickicht der Jahreszahlen, der Schlachten, der Deutungen, der kam an einem voluminösen dreibändigen Werk über die "Deutsche Geschichte 1800-1918" nicht vorbei. Damals war das opus magnum des Münchner Historikers Thomas Nipperdey in aller Munde. Eine Gelegenheit, den Autor näher kennenzulernen, gab es allerdings nur noch mittelbar: eine akademische Gedenkstunde in der großen Aula der Universität für den vor Jahresfrist Verstorbenen.

Dort redete am 14. Juni 1993 ein Schriftsteller über die Sprache im Werk von Thomas Nipperdey. Von einem Wissenschaftler, der nicht staubtrocken argumentierte, der zuspitzte bis zum bibelnahen Aphorismus ("Im Anfang war Napoleon") - so sprach sein Schüler Sten Nadolny enthusiastisch über Nipperdeys Sprachmelodien. Nach diesem Tag wurde der Student einer der vielen Leser der Trilogie - und folgte dankbar den Schneisen der Erkenntnis, die Nipperdey geschlagen hatte.

Unter dem Titel "Lebens Werk" hat der Berliner Historiker Paul Nolte der "Deutschen Geschichte" von Nipperdey eine "Biografie" gewidmet. Nolte, pikanterweise ein Schüler von Hans-Ulrich Wehler, dem damaligen großen Konkurrenten von Nipperdey, hat sich auf eine Art archäologische Reise gemacht, um zu erkunden, wie die drei Bände ("Bürgerwelt und starker Staat", 1983, "Arbeitswelt und Bürgergeist", 1990 und "Machtstaat vor der Demokratie", 1992) komponiert wurden und was sie beim Publikum auslösten. Nolte hatte Zugang zum privaten Nachlass des Historikers. Entstanden ist ein lebendiges, detailversessenes und durchaus pathetisches Buch über ein Buch.

Wie war es damals also? Hans-Ulrich Wehler hat es selbst im ersten Band seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" (1987) skizziert: Heinrich von Treitschke hatte sich einst einer Gesamtgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert gewidmet, ebenso fünfzig Jahre später Franz Schnabel - beide konnten ihre Werke nicht vollenden (Treitschke schaffte es trotz 3640 Seiten nur bis ins Vorfeld der Revolution von 1848, Schnabel blieb nach 2125 Seiten stecken); Ernst-Rudolf Hubers "Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789" wird erwähnt und dann kommt nur noch der Nipperdey ("... wird sich fortab jede Realkonkurrenz an dem von ihm gesetzten Maßstab messen lassen müssen.")

Thomas Nipperdey, geboren 1927 in Köln in preußisch bildungsbürgerlichen Verhältnissen, Flakhelfer, gefördert von Theodor Schieder, SPD-Mitglied und Kritiker radikaler Studentenproteste 1968 in Berlin, galt in den Siebzigerjahren als einer der führenden Neuzeithistoriker. Im Großen und Ganzen liberal, in der Ausrichtung auf Politikgeschichte konservativ. Allein: Ihm fehlte ein großes Buch, seit 1971 an der LMU München lehrend hatte er das Schicksal seines Vorgängers auf dem Lehrstuhl, Franz Schnabel, immer vor Augen. Und Hans-Ulrich Wehler immer im Nacken.

Wie es dann nach Irrungen und Wirrungen, nach Verhandlungen mit diversen Verlagen bei C.H. Beck gelang, den ersten meisterlichen Wurf zu verfertigen - und noch vor Wehler, der - ebenfalls für C.H. Beck - seine schließlich fünfbändige Gesellschaftsgeschichte vorbereitete, das beschreibt Nolte spannend und anhand zahlreicher Quellen. Das Verhältnis zu Wehler, der in Bielefeld die historische Sozialwissenschaft in den Fokus rückte, nennt Nolte eine "symbiotische Gegnerschaft". Die Reibung bereicherte beide Kontrahenten.

Der Leser erfährt, wie Nipperdey an seinem vermeintlichen "Erzählonkel"-Stil feilte, wie er die Struktur der Bände erarbeitete (alles ohne Fußnoten und Quellenverweise), ganz ohne Zettelkasten (und natürlich ohne Internet) und wie er letztendlich stolz war auf sein Werk und die anschließenden Ehrungen.

Beim Erscheinen des ersten Bandes feierten die Rezensenten das Buch als großen Wurf; Wehler selbst nannte es ein "Meisterwerk historischer Synthese"; in dieser Zeitung allerdings wurde der "gravitätische Gestus überlegener Gelehrsamkeit" gerügt. Auch spätere Rezensionen waren teils recht kritisch. Warum wurde die Trilogie also zum "Goldstandard"? Weil sie den Forschungsstand präzise präsentierte? Weil die Kampagne des Verlags brillant war? Diese Frage wird nicht beantwortet. Und welche Relevanz hätte das Werk heute? Auch das wird nicht erläutert. Nolte spricht vom "Absinken in die Sedimentation der Wissenschaftsgeschichte, irgendwo zwischen Kanonisierung und Vergessen."

Ein tragisches, bei Nolte fast dramatisch-heroisches Gewicht bekommt der Umstand, dass Thomas Nipperdey die letzten Kapitel dem Krebs "abringen" musste. Als er am 14. Juni 1992 starb, "hatte er gerade noch ein Vorausexemplar des abschließenden Bandes erhalten." Am Schluss bleibt dann doch sehr viel Pathos: "Thomas Nipperdey hatte den Fluch des Unvollendeten in der Geschichte des 19. Jahrhunderts besiegen können", schreibt der Autor mit Blick auf Schnabel.

Trotzdem: Paul Nolte ist ein Buch über die Innereien des Wissenschaftsbetriebs, über das Verlagswesen, über die Sicht von Geschichte in der Kohl- und Wendezeit gelungen. In gewisser Weise ist es ein Buch voller Nostalgie - das natürlich Leser der Trilogie von damals stärker ergreifen wird als Studenten von heute, die vielleicht schon mal die drei Bände in der Bibliothek stehen sahen - und dann ihrer Wege gingen. Für das große Ganze fehlt ja oft das Wichtigste: Zeit.

Paul Nolte: Lebens Werk. Thomas Nipperdeys "Deutsche Geschichte". Biographie eines Buches. Verlag C.H. Beck, München 2018. 368 Seiten, 39,95 Euro.

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