Biografie "Der Nazi und der Psychiater":Rorschachtest mit Göring

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US-Psychiater Douglas M. Kelley betreute einst Nazi-Größen, denen in Nürnberg der Prozess gemacht wurde. Sein eigenes Ende war grotesk. Nun erscheint die Biografie über sein Leben und Wirken.

Von Fritz Göttler

"Der Junge hatte die Seele eines Diebes", sagte ein Kamerad von Douglas M. Kelley, "er mochte Schwindler, Gauner, Schurken und Betrüger." Kelley ist der Psychiater in Jack El-Hais Buch "Der Nazi und der Psychiater", der Nazi ist sein berühmtester Fall, Hermann Göring.

1945 wurde Kelley abkommandiert, die großen Naziverbrecher in Hinblick auf die Nürnberger Prozesse zu untersuchen, ihren Geisteszustand und ihre Prozesstauglichkeit zu garantieren.

Kelley liebte Zaubertricks, er nutzte sie therapeutisch, manchmal assistiert von der Ente Oscar, einer Handpuppe. Zauberkunst erhöht das Selbstwertgefühl der Patienten, gibt ihnen Momente von Überlegenheit, erklärte Kelley. "Das heißt auch, dass es den Exhibitionismus des Individuums anregt, was bei der Therapie von schüchternen, zurückhaltenden Persönlichkeiten von Vorteil sein kann."

Das Spielerische, das Freud mit seiner Technik der freien Assoziation in die Seelenkunde gebracht hatte, treibt in den Vierzigern und Fünfzigern schillernde Blüten, in den USA zumal, ohne die geringste Furcht vor dem Vorwurf von Scharlatanerie. The show must go on . . .

Kelleys Sohn Doug hat dem Journalisten Jack El-Hai Zugang zum Nachlass seines Vaters gewährt - jahrzehntelang hatte den niemand angerührt. Vier Kisten voll Aufzeichnungen, auch Nazi-Memorabilia, ein Porträtfoto von Göring, "Major Dr. Kelley in aufrichtiger und herzlicher Dankbarkeit".

Brutale Ideologie versus kreative Methode

Natürlich wollte Kelley mehr als die konkrete Arbeit, zu der er beauftragt war, er sah in den Nazis das Material für eine fundamentale Studie über psychische Entartung, das Monströse und Böse im Menschen. Kurz nach Prozessbeginn wurde er abgelöst und kehrte in die USA zurück mit seinen Notizen - achtzig Stunden hatte er mit jedem der Inhaftierten verbracht.

Es war ein bizarres Aufeinandertreffen, Kelley konfrontierte die uneinsichtigen, bornierten Nazis mit ihren festgezurrten Denkmustern und brutalen Ideologien mit seinen kreativen, assoziativen Methoden - Allgemeine Semantik, Rorschachtest, Thematischer Auffassungstest (in dem die Patienten über Bilder Geschichten erzählen mussten), und sie spielten mit, mehr oder weniger kreativ. Göring bedauerte, "dass der Luftwaffe derart exzellente Techniken nicht zur Verfügung gestanden hätten".

Jack El-Hais Buch liest sich wie ein Pulp-Roman über Amerikas produktivste und wirrste Epoche, die Nachkriegszeit mit ihrem Hin und Her zwischen Verstörung und Selbstsicherheit.

Amerika ist unreif, diagnostizierte Dr. Kelley, dem die Lust an der Provokation gar nicht fremd war, das emotionale Alter der Amerikaner liegt zwischen fünf und sieben. Zurück in den USA startete er durch mit seiner Karriere. Vorträge, eine Professur in Berkeley, Fernsehauftritte, Gerichtsarbeit als Sachverständiger, auch Mitarbeit bei der Auswahl und Beurteilung von Polizeikräften, als Psychiatric Chief of Police.

"22 Cells in Nuremberg" hieß das Buch, in dem er seine Erkenntnisse mit den Nazi-Verbrechern festhielt, und sein Befund ist eindeutig: Eine eigene Nazi-Psyche gibt es nicht, die psychischen Defekte der Nazis sind universell.

Die Freiheit des Spielerischen schwindet unter dem wachsenden Stress der täglichen Arbeiten, Kelley verrannte sich immer mehr in atemraubende Kurzschlüssigkeit. Leute mit der Neigung, Verkehrsregeln zu missachten, hielt er für gestört, viele Polizisten - dumb cops - seien paranoid und eigentlich genauso gefährlich wie die Heckenschützen, die uns auflauerten. Görings Egozentrik fand er wieder in den Reaktionen eines Mordverdächtigen - der Mann muss daraufhin 1956 in die Gaskammer von San Quentin.

Kelley betreibt Aufklärung als Showbusiness. Er glaubt, dass alles Degenerierte heilbar ist - manipulierbar also. Die Psychiatrie als politische Kraft, und aus dem Material seiner Nazi-Forschung zieht er immer wieder starke Schlüsse.

Sein eigenes Ende war grotesk

Zum Beispiel was gewisse amerikanische Politiker angeht: "Sie benutzen die Rassenfrage als Mittel, um zu persönlicher Macht, politischem Aufstieg oder zu Reichtum zu gelangen. Und wir gestatten es, dass die Rassenfrage dazu benützt wird, solchen Zwecken zu dienen. Ich bin überzeugt, der ständige Missbrauch dieser Mythen wird bald dazu führen, dass wir mit den Naziverbrechern in der gleichen Kloake landen werden."

Kelley arbeitete sich auf und brachte es zu großem Wohlstand, einem Haus im Norden von Berkeley, mit Blick auf die San Francisco Bay und den Gefängnisturm von Alcatraz. Auch für Hollywood wurde er tätig, bei "Rebel without a Cause/. . . denn sie wissen nicht, was sie tun" von Nicholas Ray mit James Dean war er konsultativ tätig.

Sein eigenes Ende war grausig und grotesk, bringt ihn in die Nähe zum pathologischen Helden eines anderen Ray-Films, "Bigger than Life". Am Neujahrstag 1958 eskaliert ein Streit mit seiner Frau. Kelley verschwindet im Arbeitszimmer, kommt zurück an die Treppe: "Ich muss das nicht länger ertragen. Ich nehme jetzt dieses Zyankali hier, und in 30 Sekunden ist es aus mit mir." Ein grausiger Tod, eine verkorkste Inszenierung, eine sinnlose Performance. Der ultimative amerikanische Exhibitionismus.

Jack El-Hai: Der Nazi und der Psychiater. Aus dem Englischen von Henriette Heise. Die Andere Bibliothek, Band 357. Berlin 2014. 319 Seiten, 38 Euro. (Foto: verlag)
© SZ vom 16.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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