Bilder im digitalen Zeitalter:Abgeschossen

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Aus der eigenen Hand geschossene Selbstporträts: Beim Selfie macht das Opfer die Arbeit selbst. (Foto: Stephan Rumpf)

Halbwüchsige mailen wie wild Selfies herum, Frauen wehren sich auf Revenge Porn gegen im Web kursierende freizügige Bilder von ihnen und Hugh Grant fungiert als Mona Lisa der Mugshots. Neue digitale Bildformate zerstören unseren Ruf, setzen ganze Existenzen aufs Spiel. Das Phänomen ist nicht neu. Aber Wegschauen hilft nicht.

Von Peter Richter, New York

Marianna Taschinger aus einer kleinen Stadt in Texas war gerade einmal 18, als ihr Boyfriend aus der Highschool sie um zwei Dinge bat. Erstens, dass sie ihn heiratet, er hatte auch schon einen Verlobungsring für sie. Zweitens, dass sie ihm Nacktfotos schickt. Nur zum privaten Gebrauch, versteht sich, und als Zeichen des Vertrauens - denn, wenn sie ihm nicht vertraue, dann bräuchten sie auch nicht heiraten, oder?

Das sah Ms. Taschinger ein. Leider.

Natürlich ging die Sache kurz darauf dann doch in die Brüche, und natürlich standen ihre entblößten Brüste schon wenig später zur Ansicht im Internet frei. Die Webseite Texxxan.com hatte sich auf die von erbosten Ex-Freunden eingelieferten Nacktbildern von jungen Frauen aus der Region spezialisiert - mit den Angaben zu Identität und Wohnort der Abgebildeten als besonderem Clou. Marianna Taschinger musste ihren Job aufgeben, sie wurde von einem Stalker verfolgt und ist inzwischen in Amerika eine Symbolfigur für ein Phänomen, das unter dem Namen "Revenge Porn" gerade Rechtsgeschichte schreibt. Sie hat also geklagt, und die Webseite ist mittlerweile geschlossen.

Dafür gibt es aber immer noch tausend ähnliche, und allmählich beginnen die Betroffenen den Kampf dagegen aufzunehmen. Gerade hat Kalifornien ein noch recht löchriges Gesetz gegen das Veröffentlichen von Nacktbildern gegen den Willen der Abgebildeten erlassen. In New Jersey, New York und anderen Staaten wird Ähnliches diskutiert, weil die Zahl der Frauen offensichtlich dramatisch steigt, die sich durch solche Bilder ihrer Reputation und infolge dessen ihrer Freundeskreise, Jobs, Ausbildungschancen und so weiter beraubt sehen. Gerade im ländlichen Raum oder in Kleinstädten stehen wegen eines freizügigen Bildes schnell einmal ganze Existenzen auf dem Spiel.

Die Diskussionen darüber folgen den üblichen Bahnen: das heilige First Amendment (Schutz der Presse- und der Meinungsfreiheit) vs. Verteidigung von Persönlichkeitsrechten; Ende aller Privatsphären durch das Internet vs. Doofheit derjenigen, die schon auch selber schuld seien an dem Ärger, den sie sich da eingehandelt haben...

Was meistens übersehen wird dabei: dass dieses Phänomen nicht nur beunruhigend neu ist - sondern gleichzeitig auch beunruhigend alt und archaisch.

Ein Verlobungsring gegen sehr persönliche Bilder - das ist immerhin die Art von Tausch- und Versicherungsgeschäft, für die Bilder lange Zeit in erster Linie überhaupt hergestellt wurden. In dem Bildgebrauch, der sich den neuen technologischen Gegebenheiten Digitalkamera, Smartphone und Internet verdankt, scheinen jedenfalls immer wieder auch Erinnerungen an den der frühen Neuzeit auf: All die sogenannten Verlöbnis- und Hochzeitsbilder - von denen Rubens' "Geißblattlaube" und Jan van Eycks "Arnolfini-Hochzeit" nur die jeweils bekanntesten sind - hatten wohl auch schon durchaus juristische Funktionen als Garanten von Verbindlichkeit; und Einzelporträts wurden jedenfalls im höfischen Bereich vor allem zu dem Zweck geschaffen, um herumgereicht und ausgetauscht zu werden, nicht zuletzt zur Anbahnung von Ehen.

Signifikantester Unterschied dabei: Bei Bildnissen von Damen wurde eher deren Tugendhaftigkeit betont, selbst da, wo das Augenmerk subtil auf sexuelle Aspekte gelenkt wird. Die Akt- und Sexbilder von Ex-Freundinnen, die heute auf Revenge-Porn-Seiten auftauchen, sind dagegen bestenfalls ein Mittel der Erpressung, wenn sie nicht von vornherein schon zum Zweck der Veröffentlichung entstanden sind. Sie dienen buchstäblich dem, was sie bildlich vorführen: der öffentlichen Bloßstellung.

Ein Bildnisgebrauch, der auf die Zerstörung der Reputation zielt, hat aber ebenfalls eher mittelalterliche Vorläufer: den Pranger und die executio in effigie. Tatsächlich wurden bis hinein ins aufgeklärte 19. Jahrhundert Exekutionen von Abwesenden stellvertretend an deren Bildnissen vollstreckt. Und wie virulent die Ehrbegriffe, um die es dabei geht, selbst heute noch sind, erfahren ja jetzt diejenigen am eigenen Leib, deren Chefs, Vermieter und Verwandte kompromittierende Bilder unter die Augen bekommen.

Das Ende dieses Brauchs in Europa berührt damit beinahe den Zeitpunkt seiner Wiederauferstehung in Amerika. Das einzige Internetphänomen, das in den USA zur Zeit die Opferinitiativen, die Gerichte und die Gesetzgeber zur Zeit ähnlich umtreibt wie "Revenge Porn", heißt nämlich "Mugshots".

"Mugshots" als "Polizeifotos" zu übersetzen, hieße sie in ihrer Wucht und Wirksamkeit zu verharmlosen. Es spielt schon eine entscheidende Rolle, dass "Mug" eher "Visage" meint als "Gesicht" und dass sich dieses Substantiv in dem Slangwort die Hand reicht mit dem Verb für "ausrauben". Und dass im "shot" Foto und Schuss zusammenfallen.

Es ist nicht möglich, vorteilhaft wegzukommen in einem Mugshot. Nicht einmal dem Schauspieler Hugh Grant war es hier gelungen, die Kamera zu charmieren, obwohl er das sichtlich versucht hat, nachdem er damals, Anfang der Neunziger, in Los Angeles mit einer Prostituierten im Auto erwischt worden war. Das Bild, das damals entstand, ist heute so etwas wie die Mona Lisa unter den Mugshots. (In diesem Fall betrifft es häufiger Männer.)

Der Mugshot ist eine sehr amerikanische Erfindung, sie stammt von Allen Pinkerton, dem Begründer der gleichnamigen Detektei, und sein entscheidendes Charakteristikum, die Nebeneinanderstellung von Frontalansicht und seitlichem Profil, ist nicht nur gleichzeitig moderner als das Brustbild in Dreiviertelansicht, das sich als beliebteste Formel über die Jahrhunderte bis in die Konvention für klassische Passbilder tradiert hatte, es ist also mit der strikten Frontalansicht nicht nur bereits damals näher an dem dran, was einem die Behörden heute unter dem Stichwort "Biometrie" zumuten; das strikte Profil hat gleichzeitig noch mit dem Kult um Lavater und seine Scherenschnitte zu tun, also mit der Ansicht, besonders aus den Linien seines Profil auf den Charakter eines Menschen schließen zu können.

Das Nebeneinander der verschiedenen Ansichten hatte gleichzeitig aber auch schon seine Vorgänger im Barock. Dort diente das dem Ziel, eine Plastik von dem jeweiligen Kopf vorzubereiten. Bei Pinkterton ging es um Identifizierbarkeit von allen Seiten. Dem Bild ist die Unterstellung des Fluchtversuchs praktisch schon eingeschrieben. Man muss sich, um die Modernität des Konzeptes zu begreifen, immer vor Augen halten, dass 1835 in Hessen nach dem "staatsverräterischen" Studenten Georg Büchner noch mit dem berühmten Steckbrief gefahndet wurde, der sein Aussehen in den unbeholfenen Worten umschrieb: Stirne "sehr gewölbt", Mund "klein", Gesichtsfarbe "frisch".

Das ungleich effektivere Steckbriefwesen, das nur wenig später in Amerika aufkam, das Kopfgeldjägertum, der Effekt der Vogelfreiheit, die allesamt mit den Pinkerton'schen Mugshots einhergingen, gehören heute zu unserem Bild vom Wilden Westen wie der Stetson-Hut und das Nachschwingen der Saloontür. Die Veröffentlichung solcher Bilder ist aber mehr als Folklore, sondern eine Rechtspraxis, die bis heute Menschen zum Teil ziemlich zu schaffen macht. Die Bilder, die von den amerikanischen Polizeibehörden veröffentlicht werden, entstehen ja nicht im Moment einer rechtskräftigen Verurteilung, sondern unmittelbar nach der Verhaftung. Dass in diesem Moment prinzipiell noch die Unschuldsvermutung zu gelten hat, steht maximal im Kleingedruckten, die Bilder fällen naturgemäß eher Urteile.

Die New York Times berichtete vor ein paar Tagen von dem jungen Mann, dessen Highschool-Kumpel Marihuana im Auto hatte, als eine Streife sie rechts ranwinkte. Und der ein Collegestipendium nun nicht bekommt, weil dessen Auslober alle Kandidaten googeln - und bei seinem Namen sind die ersten drei Treffer Seiten, die sich auf Mugshots spezialisiert haben. Auch die Betreiber solcher Seiten argumentieren mit der Pressefreiheit und damit, dass Eltern das Recht haben sollten zu erfahren, ob der neue Footballtrainer ihrer Kinder schon mal wegen irgendwas festgenommen wurde. Tatsächlich sind auch diese Webseiten nur ein Werkzeug, um mit der öffentlichen Demütigung von Leuten Geld zu verdienen: Zwischen 50 und 400 Dollar kostet es, sein Bild von so einer Seite entfernen zu lassen. Pech, wenn man gleich auf mehreren gelandet ist.

Da war das Beispiel der Ärztin aus Florida, die sich vor ihrem gewalttätigen Freund schützen wollte und zunächst einmal selbst wegen häuslicher Gewalt verhaftet wurde. Dass diese Anschuldigung fallen gelassen wurde, sieht man den Bildern, die ihr bis heute das Leben schwer machen, ja nicht an. Oder das Mädchen, das sich praktisch in der Schule nicht mehr blicken lassen kann, seit die Klassenkameraden ein Mugshot ihrer Mutter im Netz gefunden haben. Und da sind die vielen, die - wie in den "Elenden" von Victor Hugo - ihre Schuld zwar verbüßt haben, vor der Gesellschaft aber trotzdem niemals frei sein werden. Denn auch Kreditkarteninstitute befragen das Netz. Nur zum Beispiel.

Heißt das, Eltern, die mit Sorge beobachten, was ihre Kinder so an sogenannten "Selfies" durch das Netz schicken, sind nicht nur ein bisschen spießig, sondern sie haben ärgerlicherweise auch noch recht?

Sagen wir mal so: Diese aus der eigenen Hand geschossenen Selbstporträts sind jetzt schon dermaßen lange das bestimmende Bild der Gegenwart, dass sich schon kaum noch wer daran erinnert, wie das aussah, wenn auf einem Selbstporträt, einem Urlaubsgruß, einem Autorenfoto nicht der Arm nach vorne ragt, der die Kamera hält. Diese Bildform und die ganze Ikonografie, die sich darin schon entfaltet hat - Kinderzimmerbild, Badezimmerbild, Knutschmundbild, Doppel-Selfie, Kuß-Selfie, Selfie von oben, bis hin zum Ganzfiguren-Nackt-Selfie mit blitzendem Fotoapparat im Spiegel -, ist ein Geschenk der neuen Technologien. Man kann trotzdem ganz traditionelle Probleme des Selbstporträts darin wiederfinden. Das typische Schwanken zwischen dem Hang zur Eitelkeit und dem zur schonungslosen Selbstparodie beispielsweise.

Ästhetisch und funktionell sind Selfies vor allem aber der natürliche Rohstoff für die Revenge-Porn-Seiten, wo sie ja auch später oft genug landen. Das liegt alleine schon an dem Umstand, dass die ausgestreckten Fotoarme bei den freien Oberkörpern der Jungs praktischerweise den Pectoralis hübsch aufpolstern und bei den Mädchen das Dekolleté. Der Schusswinkel von halb oben tut diesbezüglich ein Übriges.

Mit Mugshots teilen sich Selfies das Merkmal, dass die Abgebildeten in der Regel unvorteilhaft bis lächerlich aussehen, was inzwischen ja sogar als gesuchtes, weil ohnehin unvermeidliches Stilmerkmal durchgesetzt ist. Mit beiden Dingen gemein haben Selfies ihr Potenzial in anderen Kontexten kompromittierend zu wirken. Entscheidender Unterschied zu klassischen Nacktbildern und Mugshots, das wirklich Neue daran: Beim Selfie macht das Opfer die Arbeit selbst. Ihm bleibt als der Trost, die Sache selbst in der Hand gehabt zu haben. Ob das die Gaudi derer, die sich das dann am Bildschirm zu Gemüte führen, mindert oder steigert, ist eine andere Frage.

Bedenkenträgerei dieser Art kriegt es, zum Beispiel in den Leserbriefspalten der New York Post, automatisch mit einem Digital-Fatalismus zu tun, der hinter dem Argument "Das ist nun aber einmal das, was junge Leute heute machen" die Forderung durchblicken lässt, die Welt möge deswegen bitte auch ihre Moralvorstellungen den technologischen Gegebenheiten anpassen. Für den Zweifel, dass das so schnell geschehen wird, steht der Erfolg von Snapchat. Dort kann man Bilder schicken, die sich beim Empfänger nach ein paar Sekunden löschen. Wie gemacht für schnelle Nackt-Selfies, die bitte nicht auf Revenge-Porn-Seiten landen sollen. (Natürlich lässt sich diese Funktion austricksen. Und natürlich trickst auch Snapchat seine User aus, Snapchat hat sogar der NSA Fotos weitergeleitet.)

Es ist ein Konflikt, der sich nirgends so zuspitzt wie eben in den USA: auf der einen Seite die digitale Revolution mit allem, was das an Veränderungen für die Privatsphäre und die Lebensgewohnheiten so mit sich bringt. Auf der anderen Seite eine Gesellschaft, die das private Vorleben von Wohnungsinteressenten scannt wie bei Präsidentschaftskandidaten, und in der nichts so entscheidend ist wie die "credit history", die wiederum mit unserem "Schufa"-Eintrag nur verharmlosend übersetzt wäre, weil es eine durchaus pietistische Moralkeule meint.

Es kann sein, dass das die spezielle Art von Hardcore-Dialektik ist, für die Amerikaner ein Händchen haben, die ja auch ihre einzigartige Prüderie mit genauso einzigartigen Freizügigkeitsexzessen in College-Wohnheimen und bei Springbreak-Partys spiegeln.

Aber solange dies nun einmal die Gegenwart ist, in die auch die Digital Natives und Milleniums-Kinder hineinwachsen, nützt die Aussicht wenig, dass in einer an sozialen Netzwerken geschulten Zukunft auch Sex-Selfies amerikanischer Präsidenten in den Amtsstuben hängen könnten. Noch ist die Gefahr groß, noch gibt es keine Gewöhnung. Den New Yorker Politiker Anthony Weiner kostete sein Drang, unbekleidete Selfies von sich zu verschicken, gleich zwei Mal die politische Karriere.

In so einer Gegenwart hilft es womöglich eher, sich kurz vorm Abdrücken und Wegschicken manchmal an die archaische Geschichte des Bildes zu erinnern. Daran, dass jemand, der ein Bild von sich weggibt, einen Teil von sich weggibt, über den andere dann verfügen können. Daran, dass Bildnisse im Anfang die Erinnerung an die Toten in die Ewigkeit zu verlängern hatten. Und daran, dass Porträt von protrahere kommt. Von Hervorzerren.

© SZ vom 02.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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