Bildband:Wundertüte des Wissens

Bildband: Abb.: aus dem besprochenen Band

Abb.: aus dem besprochenen Band

Eine Prachtausgabe versammelt die besten Illustrationen aus "National Geographic" und veranschaulicht, in welche Richtung sich der grafische Stil des wissenschaftlichen Magazins entwickelt hat.

Von Jörg Häntzschel

Der Untergang der Titanic und die Anatomie des Geruchssinns, Jagdmethoden der Killerwale und chinesische "Superhöhlen" - all das sind Themen, die seit 138 Jahren Monat für Monat im Magazin National Geographic verhandelt werden. Im Spitzenjahr 1988 waren es 14 Millionen Amerikaner, die sich von ihm die Wunder der Natur und Technik erklären ließen. Seitdem ist die Leserschaft auf 6,5 Millionen gesunken, dafür erscheint das Heft in 34 Sprachen. Es gibt wohl - außer dem New Yorker - keine Zeitschrift mit vergleichbar ikonischem Status wie das kleine Heft mit dem gelben Rahmen auf dem Cover.

In diesem Rahmen ist heute meistens ein prachtvolles Foto zu sehen. Doch berühmter als für ihre Fotostrecken ist die Zeitschrift für ihre Illustrationen. Die besten von ihnen hat der Taschen-Verlag nun in dem von Julius Wiedemann herausgegebenen großformatigen Prachtband "National Geographic Infographics" versammelt (480 Seiten, 49,99 Euro).

Didaktischen Realismus könnte man den Stil der Grafiken von "National Geographic" nennen

Der Titel ist etwas irreführend. Denn bei den meisten dieser Grafiken handelt es sich eher um kunstvolle Illustrationen. Wie diese Form der Darstellung neben der Fotografie ihren Platz verteidigt hat, ist einem nach den ersten Seiten klar: Anders als Fotos bilden Grafiken nicht nur Gegenstände ab, sondern Prozesse, Systeme, Geschichten. Sie zeigen in einem Teil des Bildes das Äußere einer Pyramide und in einem anderen dessen Inneres. Auf ihren Landschaften scheint links die Sonne, rechts schneit es. Sie zeigen den Fortgang der napoleonischen Kriege auf einer einzigen Karte von Europa. Und natürlich all das, was sich nicht fotografieren lässt: vor Jahrmillionen ausgestorbene Tiere, ferne Planeten oder die unter Wasser liegenden Flutmauern von Venedig.

Man kann das Buch aus Freude an den Illustrationen durchblättern. Oder als Wundertüte des Wissens. Zwar fehlen die Originalartikel, aber kleine Erklärtexte machen die Grafiken dennoch verständlich. Außerdem haben die Macher des Bandes - bedauerlicherweise vielleicht - alles aussortiert, was heute überholt ist oder sogar unfreiwillig komisch wirken würde.

Doch der Band lohnt auch, weil er die Entwicklung des nicht nur von National Geographic praktizierten grafischen Stils veranschaulicht, den man als didaktischen Realismus bezeichnen könnte. Von Bauhaus-inspirierter Nüchternheit (siehe unser Bild) bewegte er sich in den Achtzigern zu einer erzählerischen Opulenz, die die Tools der neuen Grafikprogramme gieriger auskostete, als gut war. Plötzlich werden Landkarten mit "vergilbten" Rändern und Windrosen geschmückt.

Vor etwa zehn Jahren erkannte man dann, dass "Wissenschaftlichkeit" als gestalterische Leitidee dem Bemühen, Wissenschaft für Laien verständlich und spannend zu machen, keineswegs entgegensteht. Paradoxerweise wirken gerade die besonders modernen Grafiken heute besonders historisch: Sie zeugen von einer Fortschrittseuphorie, die unwiederbringlich verloren ist.

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