Bildband "Forever - The New Tattoo":Expressionismus, der unter die Haut geht

Tätowierungen gelten immer noch als hip, originell ist das "Arschgeweih" aber schon lange nicht mehr. Eine Generation junger Künstler will den Tattoo-Trend revolutionieren. Die Kunstwerke für die Haut, inspiriert von Kunstgeschichte und Grafikdesign, sind nun in einem Buch zu bewundern.

Von Britta Helm

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Forever - Tattoos

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Tätowierungen schockieren heutzutage kaum noch jemanden. Eine Generation junger Künstler möchte stattdessen beeindrucken und lässt sich dafür von Illustrationen, alten Gemälden und dem Grafikdesign inspirieren.

"Mich haben von Anfang an die schwarzen Konturen gestört", sagt Amanda Wachob. "Nicht jeder Kunde möchte ein Tattoo, das wie eine Zeichnung oder ein Comic aussieht. Und wenn sich an einem Tag vier Leute fast dieselben traditionellen Zigeunerinnenköpfe stechen lassen, dann sollte man als Tätowierer vielleicht über neue Ideen nachdenken." Also experimentierte die New Yorkerin, die nach dem Abschluss der Kunsthochschule beim Tätowieren gelandet ist, mit Formen, Farben und Techniken.

Text und Bildauswahl: Süddeutsche.de/Britta Helm

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Ein Stil, der auf den ersten Blick nichts mehr mit asiatischen Schriftzeichen und Ankern zu tun hat, die während Wachobs Lehre zum Tagesgeschäft gehörten. Stattdessen wirken ihre abstrakten Motive wie mit breiten Pinseln direkt auf die Haut gekleckst. Konturen gibt es nur noch selten, schwarz ist höchstens eine Farbe unter vielen. "Ich habe mich viel mit den abstrakten Expressionisten beschäftigt, vor allem mit Hans Hofmann, der viele Quadrate und Rechtecke gemalt hat. Und ich habe mich gefragt, wie seine Bilder wohl aussehen würden, wenn er statt flacher Leinwände eine dreidimensionale Oberfläche bemalen würde. Wie könnte ein abstraktes Tattoo zum Beispiel auf einem Arm aussehen?"

Was vor fünf Jahren als künstlerisches Experiment begann, hat Wachob inzwischen ein eigenes Studio in New York, Ausstellungen in Galerien und Museen und vor allem eine begeisterte Fanschar beschert. Auf einen Termin bei der Künstlerin kann man schon mal Monate warten. Wachob gehört zu einer neuen Generation von Tätowierern, die sich weniger als Dienstleister denn als Künstler und ihre Kunden als interessant geformte Leinwände sehen.

Das Buch Forever - The New Tattoo widmet sich dieser Szene, ordnet sie geschichtlich ein (denn immerhin wird das Tätowieren wie jede Form der Kunst von neuen Bewegungen belebt) und porträtiert Protagonisten wie Liam Sparkes, dessen Tattoo hier im Bild zu sehen ist. Die neuen Tätowier-Künstler leben und arbeiten meistens in den Metropolen der westlichen Welt, in Deutschland vor allem im subkulturfreundlichen Berlin. Einer von ihnen ist Valentin Hirsch, der, wenn nicht in der deutschen Hauptstadt, auch schon mal in Paris oder New York sticht.

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In ihrer Auffassung von Tattoos könnten sich Hirsch und Wachob kaum stärker von einander unterscheiden. Denn die schwarze Kontur, die die New Yorkerin so vehement ablehnt - bei Hirsch taucht sie wieder auf. Aber auf neue Weise. Wo Wachob flächige Farben scheinbar zufällig auf den Körper malt, gibt es bei Hirsch, der in Wien Kunst studiert hat, ausschließlich präzise schwarze Konturen. Gern auch auf die eigene Haut. Seine Motive bestehen vor allem aus Tierzeichnungen wie aus dem Lehrbuch, die er mit geometrischen Formen verbindet.

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Am liebsten ist ihm der Elefant, er sticht aber auch Vögel, verästelte Blätter und Blumen oder Totenköpfe. Klassische Tattoo-Objekte also, die man anderswo meist gröber gezeichnet findet, bunt ausgemalt oder zumindest grau schattiert. Hirsch, der sich vom Pointillismus (Punktierstil) der vorletzten Jahrhundertwende beeinflusst sieht, füllt Flächen, wenn überhaupt, mit Tausenden winzigen Punkten. Diese Technik ist beim Tätowieren als Dotwork bekannt.

Wie Wachob ist er überzeugt, dass ohne das gelernte Handwerk diese Art von Kunst kaum möglich sei. "Für mich war es wichtig, bestimmte Grundlagen des Tätowierens zu beherrschen, bevor ich mich auf das konzentrierte, was ich heute mache", sagt er. "Ich musste erst lernen, wie man eine schwarze Linie sticht, bevor ich mich entscheiden konnte, sie wegzulassen", sagt Wachob.

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Gemeinsam ist fast allen neuen Tattoos ihre Großflächigkeit (im Bild: Tattoo von Yann Black). Das liegt zum einen daran, dass kaum ein Tätowierer Kleinkram wie drei Sterne am Ellbogen oder ein Herz am Ringfinger in sein Portfolio packt, zum anderen braucht eigenwillige Kunst eben manchmal ihren Raum. Deshalb ziehen sich die Kleckse von Amanda Wachob über komplette Oberarme bis zum Schlüsselbein und die in Dreiecke verpackten Elefantenschädel von Valentin Hirsch nehmen bisweilen den kompletten Raum zwischen Hals und Bauchnabel ein.

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Während die einen sich dabei an die menschliche Anatomie anzupassen scheinen, stehen die anderen ihr auf den ersten Blick starr entgegen. Da fliegt etwa der Vogel nicht niedlich schräg über die Schulter, sondern streckt den Schnabel akkurat zum Himmel. Dabei weiß auch Hirsch, wie man Tattoos klassischerweise platzieren muss, damit sie aus allen Richtungen und bei jeder Bewegung funktionieren. Er schert sich nur nicht immer darum - zumindest auf den ersten Blick: "Ein Tattoo in der falschen Größe am falschen Platz wird scheitern, während es richtig platziert und proportioniert seine Schönheit entfalten kann, auch wenn die vermeintlich klassischen Platzprinzipien ignoriert scheinen."

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Wer solch extravagante Body-Modifications tragen will, muss nicht nur Fan von Tätowierungen (im Bild: Tattoo von Fergadelic) sein, sondern auch die spezielle Ästhetik der Künstler teilen. "Zu mir kommen viele Designer, die selbst sehr visuell denken", sagt Myra Brodsky, eine in Berlin lebende Illustratorin, die vor zwei Jahren angefangen hat, ihren künstlerischen Horizont um das Tätowieren zu erweitern und inzwischen ein eigenes Studio namens "The Decay Parlour" führt. "Meine Kunden sind nicht nur kunstinteressierte Menschen, sondern auch Anwälte, Ärzte und andere Akademiker."

Brodsky zeichnet und tätowiert Bilder, die vom Jugendstil und der viktorianischen Kunst inspiriert sind. Ihr Leitmotiv ist der Verfall (daher auch der Name ihres Studios), auf ihren verspielt morbiden Bildern tummeln sich dreiäugige Katzen in Bilderrahmen, klassische Rosen und bunte Damen mit großer Frisur, die für unwissende Betrachter gar nicht so anders aussehen als das, was man auch ohne Termin bei Tattoo-Ralf in Gelsenkirchen bekommen würde. "Ich interpretiere alles auf meine Art. Dabei spielen meine Illustrationen eine große Rolle. Ich lasse die bildende Kunst ins Tätowieren einfließen."

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In der neuen Tattookunst (im Bild: Tattoo von Guy Le Tattooer) steckt auch Rebellionsgeist, doch sie als reine Subversion zu betrachten, würde ihr nicht gerecht. Denn Berliner Hipster, die sich auf Hirschs Tiere und geometrische Formen stürzen, weil die so gut zu den Motiven auf ihren T-Shirts passen, haben andere Motive als die Anwälte, die sich ihre viktorianischen Ziegen lieber an die Körperstellen anpassen lassen, die vom Jackett verdeckt werden. 

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Und selbst jene, die tief genug in die komplexe Tattooszene eintauchen könnten, weil sie Farbkleckse von Kunst unterscheiden können, werden nicht alle vom neuen Trend angesprochen werden. Denn Tattoo bleibt Tattoo und damit für viele einfach nur Verschandelung. "Menschen, die Tätowierungen zum Beispiel aus ethischen Gründen ablehnen, werde ich mit meinen Arbeiten wohl auch nicht erreichen", sagt Valentin Hirsch. Und Amanda Wachob entzieht sich solchen Diskussionen ganz. Wenn ihr die menschlichen Leinwände zu anstrengend werden, verlegt sie sich auf Stillleben und tätowiert Orangenschalen.

Alle Bilder stammen aus dem Buch Forever - The New Tattoo - Gestalten, 2012. 256 Seiten, 39,90 Euro.

© Süddeutsche.de/cag/pak/rus
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