Bildband:Die Botschaft der Farbflecken

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Ein beeindruckender Bildband mit Alltagsfotografien zeigt das Leben in Nordkorea ohne Polit-Zoo und Diktatur-Voyeurismus. An Details wird die Totalüberwachung sichtbar, ohne im Zentrum zu stehen.

Von Alex Rühle

Es gibt das fotojournalistische Genre des Korea-Porn: In Zeiten der totalen Sichtbarkeit gibt es da dieses eine Land, das nicht gesehen werden soll, eine riesige Tabuzone, verboten, skurril und krass - und wir haben da trotzdem mal voll draufgehalten. Die einen zeigen dann die totale Inszenierung und reproduzieren das Bild, das Nordkorea auf streng geführten Touren von sich selbst zeichnet, mit einem Volk aus Statisten, der Einzelne, der im Ornament der Masse aufgeht. Ein Untergenre dieser Art bilden die Fotobände aus Pjöngjang, diesem potemkinschen Konstrukt, in dem das Regime der Welt vorspiegelt, dass alles ganz normal sei, weil es ja auch bei ihnen Vergnügungsparks, Schwimmbäder, Wolkenkratzer gibt.

Das interessanteste Beispiel für diese Herangehensweise dürfte "Nordkorea - Fotografien aus einem abgeschotteten Land" des französischen Fotografen Philippe Chancel sein. Chancel durfte 2006 dreimal offiziell ins Land. Unter permanenter Bewachung wurden ihm Motive angeboten und Szenen arrangiert, ihm selbst kam es vor, als bewege er sich durch eine "Open-Air-Operette". Also lichtete er das architektonische Dröhnen ab, die monumentale Monotonie, leere Wartesäle, leere Vorlesungsräume, leere Kliniken...

Die meisten Bildbände tragen das Geständnis in sich, dass der Fotograf nur wenig sehen durfte

Andere schauen mit dem Blick des popkulturell geprägten Westlers auf das Land und finden in der Rückständigkeit einen visuellen Kitzel: Guckt mal, in Zeiten, in denen die Modeketten in allen Fußgängerzonen des Planeten dieselben Trends ins Schaufenster stellen und alle gleichzeitig aufs neue iPhone 7 umrüsten, hocken diese Menschen immer noch in einer Mischung aus Mittelalter, Fünfzigerjahren und China vor Deng Xiaopings Öffnung fest. Meist hat das Ganze was von Polit-Zoo und ästhetisch-nostalgischem Voyeurismus. Und all diese Bildbände und Fotoblogs tragen das Geständnis in sich, dass nur innerhalb eines winzig kurzen Zeitraums ein winzig kleiner Ausschnitt des Landes abgelichtet werden konnte.

Jetzt aber erscheint ein Bildband, wie es ihn in seiner enzyklopädischen Fülle wohl noch nie gegeben hat. Der holländische Verlag Primavera Pers hat Bilder von mehr als 30 Fotografen, Diplomaten, Wirtschaftsreisenden und Touristen versammelt, die möglichst viele Aspekte des Landes und des Lebens abbilden. Die meisten Fotografien stammen von Martin Tutsch, Eric Lafforgue und Raymond K. Cunningham Jr., drei Männern, die lange im Land gelebt haben und dort beeindruckend viel herumreisen konnten.

Schon der Titel "The North Koreans - Glimpses of Daily Life in the DPRK" zeigt, dass es hier darum gehen soll, den Alltag der 23 Millionen Insassen dieser totalen Diktatur sichtbar zu machen, Wasserverkäufer, Straßenarbeiter, Schulkinder, Hausmeister, Bauern, Funktionäre... Dazu wurden hervorragend recherchierte Texte gestellt, die die Bilder sinnvoll kontextualisieren und das Buch unterteilen in Kapitel wie Arbeit - Verkehr - Landwirtschaft. Keine einzige Parade ist dabei. Was nicht heißt, dass der Aspekt der Propaganda und Totalüberwachung nicht vorkäme, er wird vielmehr zum omnipräsenten Hintergrund der Alltagsbilder. Ländliche Szenerien in weit abgelegenen Dörfern, Industrielandschaften, so überaltert, dass man nicht weiß, sind das Ruinen oder Fabriken, abgeerntete Felder, gerodetes Land - in diesen fahlen Landschaften bilden die Parteiparolen und -plakate die einzigen Farbflecken. Zum Teil bergen die Fotos eine subversive Komik: Drei Frauen stehen in einem Wohnblock auf ihren Balkonbrüstungen, ohne jede Sicherung, um ein signalrotes Banner zu installieren. Übersetzt heißt der Schriftzug, den sie auf schwindelerregende Art und Weise montieren, "Todesmutige Umsetzung".

Auf einem leeren Reisfeld verkündet ein Propagandaplakat das Ende des US-Imperialismus

Man sieht nur, was man weiß. Das Bild vom rostigen Fischerkahn wird ziemlich unheimlich, wenn man dazu im Industriekapitel liest, dass in Asien die koreanischen Geisterschiffe berühmt sind: Jedes Jahr treiben an der japanischen Küste zwischen 30 und 80 Fischerboote mit toten Insassen an, bei denen man meist nicht weiß, ob es sich um Flüchtlinge oder Fischer handelt, die in Seenot geraten sind. Die Arbeiter auf dem Bild darüber sind Strafgefangene. Vom Jahr 2010 an wurde eine große Straße zwischen der chinesischen Grenze und Pjöngjang in Angriff genommen, fast ausschließlich mit Schaufeln und Hacken, der holzofenbetriebene Traktor auf diesem Foto ist schon eine Ausnahme. Nach zwei Jahren wurde die Arbeit an der Straße von einem Tag auf den anderen wieder aufgegeben. In der Reihung der 37 Bilder aus dem Arbeits-Kapitel fällt auf, wie viele Arbeiter herumsitzen, schlafen, dösen. Folgen der jahrelangen Mangelernährung, der staatlich gelenkten Überarbeitung (Bauern dürfen alle zehn Tage einen freien Tag nehmen, und zwar jeweils am 1., dem 11. und dem 21. des Monats) und Taktiken des geringsten Widerstands gehen hier nahtlos ineinander über.

Das Buch kommt gerade recht in einem Konflikt, in dem zwei unreife Megalomanen kurz davor sind, ihre Länder in einen Atomkrieg zu führen. Im Bildband ist ein Foto zu sehen, auf dem ein leeres, stilles Reisfeld von einem Propagandaplakat belehrt wird, der US-Imperialismus werde schon bald besiegt sein. Die nordkoreanische Regierung schaltete am Donnerstag ein Video frei, an dessen Ende ein US-Flugzeugträger und das Weiße Haus in Explosionsflammen aufgehen.

The North Koreans. Glimpses of Daily Life in the DPRK. Primavera Pers, Leiden 2017. 252 Seiten, 56,49 Euro

© SZ vom 28.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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