Bildband:Beziehung auf Knopfdruck

Ist Andy Warhol verantwortlich für die Selfie-Flut, Star-Posen auf Facebook und Schnuten auf Instagram? Schließlich trat er niemals ohne Polaroid-Kamera vor die Tür. Ein Fotoband hilft bei der Antwort.

Von Hannes Vollmuth

Müsste man einen Verantwortlichen für die anschwellende Flut narzisstischer Smartphone-Bilder benennen, Andy Warhol wäre ein heißer Kandidat. Waren seine Zehntausende Polaroids nicht Blaupausen für die Selfie-Flut, die ironischen Star-Posen auf Facebook, die Schnuten auf Instagram? Ging nicht auch Warhol niemals ohne seine Kamera vor die Tür? Am Anfang mit einer klobigen Big Shot, später dann mit einer SX70, schnittiger und leichter, beides Modelle von Polaroid. Nur folgerichtig ist es also, dass der Taschen-Verlag diesem Aspekt von Andy Warhol jetzt ein ziegelschweres Denkmal gesetzt hat (Richard B. Woodward, Reuel Golden: Andy Warhol. Polaroids. Taschen, Köln 2015, 560 Seiten, 74,99 Euro). Das Buch zeigt eine schier erschlagende Menge an Polaroids, 700 Stück, aufgenommen von Andy Warhol in den Jahren 1958 bis 1987. Aber schon beim ersten Durchblättern will man eigentlich nur noch ausrufen: Wahnsinn, wie harmlos es doch begonnen hat!

Das Polaroid ist ja inzwischen fast verschmolzen mit dem Namen Andy Warhol. Als wäre es der Künstler selbst gewesen, der die Technik erfunden hat: die trashige Bildanmutung, das Billige, die fehlende Tiefenschärfe, die verzerrte Wiedergabe der Farben - alles absolut Warhol-like. Umso erstaunlicher ist, wie die Menschen wirken, die er abgelichtet hat. Alfred Hitchcock zum Beispiel. Nicht zu glauben, aber er schaut tatsächlich ironiefrei in Warhols Kamera. Kein spöttisch gerecktes Kinn, kein maliziöses Lachen. Nur ein alter Mann mit Haarkranz und Doppelkinn. Oder Dennis Hopper. Als wäre es sein allererstes Mal vor der Kamera, so zurückhaltend, fast ängstlich schaut e r drein: Dennis Hopper 1970, ein Jahr nachdem sein Welterfolg "Easy Rider" in die Kinos kam.

Fast alle Menschen auf Warhol-Polaroids wirken so: entspannt, ungezwungen, ganz bei sich selbst, überhaupt nicht unter dem Zwang der Inszenierung, wie man es eigentlich erwartet hat. Man muss nach den Posen auf Warhols Polaroids fast suchen. Entweder erschien Warhols Weggefährten die eigene Inszenierung in dieser Situation der Privatheit unangebracht. Oder aber Warhol ließ mit seinem Polaroid-Bohei jeden Ansatz einer Pose zusammenfallen. Warhols Big Shot zum Beispiel hatte nur einen starren Fokus. Er konnte also nur durch ständiges Vor und Zurück scharfstellen, was Warhol unfreiwillig mit seiner Kamera tanzen ließ. "Big Shot Shuffle" nannten das seine Freunde, den Tanz mit der Kamera, den Andy vollführte, vor Stars wie Dolly Parton und vor unbekannten Schönheiten auch. Warhol soll richtiggehende Orgien mit seiner Kamera veranstaltet haben. An einem Tag war es die Schauspielerin Liza Minnelli, aber weil John Lennon spontan vorbeischaute, posierte man eben dann zu zweit.

Bis zu Warhols Tod 1987 wuchs so eine gewaltige Polaroid-Sammlung an. Mit Fotografien von Zeitgenossen wie Joseph Beuys, Vorbildern wie Man Ray, Schützlingen wie Julian Schnabel, und schließlich einer Schar von Schauspielern, Regisseuren, Musikern, Schriftstellern, Freunden und Vertrauten. In den 70er- und 80er-Jahren war Warhol der Hoffotograf der New Yorker Szene, unermüdlich in seinem Drang zu fotografieren, als wollte er etwas feststellen, was nur mit einer Polaroidkamera festzustellen war. "Er nahm die Fotografie ernst, und er liebte es, Aufnahmen zu machen", hat der Warhol-Wegbegleiter Vincent Fremont einmal gesagt. "Für ihn war dies sogar eine Möglichkeit, eine Beziehung zu Menschen herzustellen."

Es ist sicher kein Zufall, dass der Taschen Verlag gerade jetzt Warhols Polaroids verlegt. Jetzt, da jede Zehnjährige inzwischen weiß, was zu tun ist, wenn eine Smartphone-Kamera auf sie gerichtet wird. Hätte Warhol das alles gemocht, wäre er ein Instagram-Heavy-User gewesen, mit Millionen Followern? Betrachtet man seine behutsam und sensibel fotografierten Porträts, ist die Antwort alles andere als leicht.

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