Bild-Zeitung: Kai Diekmann zürnt beruflich:"Wir müssen aufheulen, wir müssen anprangern"

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Festhalten und Augen reiben: "Bild"-Chef Kai Diekmann fordert journalistischen Zorn und vermisst die Linken.

KAI-HINRICH RENNER

Nach gängiger Lehre soll ein guter Journalist genau beobachten, präzise analysieren, distanziert und stilsicher bleiben - mit kühlem Kopf. Doch Kai Diekmann, Chefredakteur der Bild-Zeitung, sieht das offenbar völlig anders: "Journalisten sollten Berufszornige sein. Wir müssen aufheulen, wir müssen anprangern. J'accuse - das ist Zorn plus Neugierde. Die Todsünde des Journalisten ist die Zornlosigkeit."

J'accuse - das ist Zorn plus Neugierde. (Foto: Foto: ddp)

J'accuse das klingt nach Emile Zola - starke Worte, die der Mann vom Boulevard da der Gemeinde der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen am Dienstagabend predigte. Wie auch sechs andere Prominente - unter ihnen Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust, TV-Moderator Reinhold Beckmann und Unicef-Streiterin Heide Simonis - sollte Diekmann anlässlich einer Vortragsreihe über eine der sieben Todsünden sprechen. Doch der Bild-Chef machte aus der Todsünde Zorn, über die er reden soll, kurzerhand eine Tugend. Eine Volte, für die der Ursulinenschüler nach eigenem Bekunden theologischen Beistand seiner ehemaligen Schuldirektorin Schwester Karolin in Anspruch genommen hat.

So lobte der Bild-Mann munter angeblich zornige Schlagzeilen ("Ihr feigen Mörder") des eigenen Blattes. Hatte schließlich nicht schon Thomas von Aquin gesagt, "Zorn ist die Voraussetzung von Mut"? Ein wenig Zerknischung gibt es auch. Auf die dem 9/11-Attentäter Mohammed Atta zugedachte Headline "Terroristenbestie - Wir wünschen dir die ewige Hölle" sei er nicht stolz. Da sei Zorn in Raserei umgeschlagen, denn so etwas wünsche ein Christenmensch niemandem.

Aber Diekmann war nicht gekommen, um ein publizistisches Proseminar zu halten. Es geht ihm ums große Ganze. "Ohne Zorn" , führte er aus, sei "ein bürgerliches Staatswesen nicht denkbar". Leider müsse er beobachten, dass sich immer mehr Deutsche "in die innere Emigration" verabschiedeten. Es fehle an zornigen Deutschen - außer den konservativen Intellektuellen Paul Kirchhof, Meinhard Miegel, Arnulf Baring, ein paar Kirchenleuten und einigen Unternehmern.

Noch "bis weit in die achtziger Jahre hinein" sei das anders gewesen, rief Diekmann aus! Und sagte, er sei auch wegen der Nachrüstungsdebatte nach dem Abitur Zeitsoldat geworden. Seine Stichworte: Brokdorf, Startbahn West. In den siebziger Jahren sei ohnehin alles Politik gewesen - und die 68er waren "eine zornige Generation". Das sollte ein Lob sein, aus dem Mund des Bild-Chefs, dessen Blatt Protagonisten dieser Generation - Joschka Fischer, Gerhard Schröder, Jürgen Trittin - mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln hart zusetzte.

Woran es liegt, dass den Deutschen der Zorn abhanden gekommen ist, dazu meinte Diekmann auf Nachfrage, dass es am "Zusammenbruch des Sozialismus" liegen könne. Es gebe eben "keine ideologischen Auseinandersetzungen" mehr. Haben die siegreichen Konservativen keine Projekte, die begeistern können. Sind sie womöglich nicht kampagnenfähig?

Zum Ende meldete sich eine ältere Dame: Sie sei "sehr zornig auf den Springer-Konzern", da der beim Kampf gegen die Rechtschreibreform eingeknickt sei. Dabei habe sie sich so gefreut, als in Bild gegen die "Schlechtschreibreform" polemisiert wurde und der Redaktion geschrieben. Diekmann stockte kurz. Dann sagte er: "Die Deutschen haben uns bei dem Thema allein gelassen."

Und, weil das womöglich nach Leserbeschimpfung klingt: "Wir waren nicht in der Lage, die Deutschen so zornig zu machen, dass etwas passiert wäre."

© SZ v. 08.06.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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