Besuch bei Auskunftsstelle der Wehrmacht:"Wenn Du lebst, verschreibst Du dich"

Zehn Tonnen Aktenmaterial pro Mitarbeiter: Offenbar wurde die inkrimierte Grass-Akte schon 1992 in der Berliner Wehrmachtsauskunftsstelle entdeckt. Nichts geschah - außer, dass Grass' Rentenlücke gefüllt wurde.

Hans Leyendecker

Die Behörde, die im Berliner Telefonbuch mit dem seltsamen Namen "Deutsche Dienststelle (Wehrmachtsauskunftsstelle)" steht, ist das Mausoleum der Deutschen Wehrmacht. Auf endlosen Regalreihen sind 18 Millionen Karteikarten von Teilnehmern des Zweiten Weltkrieges zu finden. In den Backsteingebäuden am Eichborndamm werden Millionen Wehrstammbücher, Ordenverleihungsnachweise, Personalkarteien aufbewahrt, und auch Wehrmachtsgerichtsakten sowie Unterlagen "über fremdländische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam" sind in den Archiven zu finden. "Wir haben 32 Suchstellen und alles wird per Hand erledigt", sagt Rudolf Gerhardt, der seit 44 Jahren in der sehr deutschen Behörde arbeitet, die am 26. August 1939 als Dienststelle des Oberkommandos der Wehrmacht ihre Tätigkeit aufnahm.

Grass Berliner Wehrmachtsauskunftsstelle Fingerabdruck

Grass-Akte in der Auskunftstelle der Wehrmacht

(Foto: Foto: Reuters)

Alle Anfragen von draußen werden, wie eh und je, festgehalten. Für den 19. Oktober 1992 etwa ist unter anderem ein Auskunftsersuchen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vermerkt. Die Behörde erkundigte sich - zwecks Berechnung der Rentenansprüche - nach dem Aufenthalt des ehemaligen Wehrmachtsangehörigen Günter Grass in den Jahren 1945 und 1946.

"Wenn Du lebst, verschreibst Du dich"

Grass hatte angegeben, in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gewesen zu sein, doch Unterlagen darüber besaß er nicht. Offenbar hat die Suche eine Weile gedauert. Am 4. Februar 1993 jedenfalls hat die BfA noch einmal angefragt. Drei Blatt über GG wurden gefunden. Der zuständige Bearbeiter konnte den Unterlagen entnehmen, dass Grass am 8. Mai 1945 in Marienheide in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten war und am 24. April 1946 entlassen worden ist. In den Unterlagen stand, der gebürtige Danziger sei Schütze der 10. SS-Panzer-Division "Frundsberg" gewesen. Einem beigelegten Formblatt der Entlassungsstelle der III. US-Army war zu entnehmen, dass Grass offenbar am 10. November 1944 zur Waffen-SS einberufen worden war.

Was hat der Mitarbeiter der BfA nach Lektüre der Dokumente gemacht? Kannte er die Bedeutung der DoppelRunen nicht? Oder hielt er es für normal, dass auch Grass bei der Waffen-SS war? Hat er die Kollegen informiert, vielleicht nur den Chef? Oder hat er das Geheimnis - Datenschutz! - nicht einmal daheim jemandem anvertraut? Ein Rumpelstilzchen der Rentenverwaltung gewissermaßen? Grass bekam die Jahre angerechnet. Seine Rentenlücke war gefüllt.

In seiner Biographie aber blieb ein großes, tiefes Loch. Bis Montag dieser Woche hat, ausweislich der Akten, niemand in Berlin angefragt, was es mit der Wehrmachtszeit von Grass auf sich habe. Auch der Schriftsteller meldete sich nicht, als er sein Erinnerungsbuch schrieb, für das er, um seine eigene Lebensgeschichte auszumessen, schon ein bisschen mehr Aktenwissen hätte brauchen können.

Dabei reicht für eine Anfrage der Name und das Geburtsdatum des ehemaligen Soldaten. Antwort bekommt aber in der Regel nur der ehemalige Angehörige eines militärischen Verbandes, sein so genannter Rechtsnachfolger oder derjenige, der von einem Befugten eine schriftliche Einwilligung zur Einsichtnahme vorlegen kann. Keiner der Kameraden der SS-Panzer-Division hat sich nach Grass erkundigt oder öffentlich erklärt, er sei einer von ihnen gewesen. Diese Gnade des Vergessens war nicht jedem vergönnt. Der Metro-Milliardär Otto Beisheim, der Maler Herbert Heinig, der Fernsehautor Herbert Reinecker waren ebenfalls als Jüngelchen bei der SS gewesen und ihr Beisein hatte viele Diskussionen ausgelöst.

Auch der Stasi, die der Eckermann der westdeutschen Literatur sein wollte, um Schriftsteller kompromittieren zu können, ist der Fall durch die Lappen gegangen. Der Hinweis einer Zeitung, Grass habe der drohenden Veröffentlichung von Stasi-Dokumenten zuvorkommen wollen, scheint ein Irrläufer zu sein. "In unseren Nachweisen gibt es keine Hinweise darauf", erklärte die Vizepräsidentin des Bundesarchivs am Mittwoch.

Die 350 Mitarbeiter der Deutschen Dienststelle, die 3550 Tonnen Material verwalten, kennen viele Schicksale. Soldat für Soldat steht in Kartons und Kisten. Hausboten laufen mit Wägelchen durch Labyrinthe von Fluren und es ist selten ein Faden da, der gleich zum Ziel führt. "Wenn jemand auf dem Sterbebett liegt und noch Fragen hat", müsse es ganz schnell gehen, sagt Gerhardt.

Grass verfolgt in seinem Ferienhaus auf einer dänischen Insel die Diskussionen. Er lebt, so scheint es, weiter in seinem Gespinst, das er sich aus vielerlei Fäden geknüpft hat. Grass, so erzählen seine Besucher und telefonischen Gesprächspartner, sei von der Heftigkeit der Diskussion in Deutschland überrascht. Vielleicht hat der Nationaldichter gedacht, die Hinweise auf seine Qual bei der Verdrängung seien Erklärung genug. Schriftsteller sind, mehr oder weniger, Egomanen: "Du schreibst das Leben", hat Veza Canetti 1948 ihrem Mann Elias, dem Autor des kolossalen Essays "Masse und Macht" geschrieben, "aber wenn Du lebst, verschreibst Du Dich."

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