Bestseller:George Orwells "1984" ist in den USA das meistgekaufte Buch auf Amazon

Bestseller: George Orwell erzählt in "1984" vom Leben in einem totalitären Überwachungsstaat.

George Orwell erzählt in "1984" vom Leben in einem totalitären Überwachungsstaat.

(Foto: AP)

Der Roman taugt durchaus zur Zeitdiagnose: Das liberale Amerika hat Angst vor einer neuen Ideologie.

Von Jakob Biazza

Paul Paron hat "1984" schon vor Jahren gelesen, schreibt er, aber er habe das Gefühl gehabt, es wäre eine gute Idee, sein Wissen noch mal aufzufrischen. Immerhin habe Trumps Beraterin Kellyanne Conway jüngst von "alternativen Fakten" gesprochen, und Paul Paron schwant nun Böses. Sein Ausblick: "Get ready to party like it's 1984" - bereitet euch darauf vor, bald durch ein Szenario wie in "1984" zu tanzen.

Immerhin 340 Menschen fanden seine Rezension auf Amazon.com hilfreich. Und sehr viel mehr haben das Buch von George Orwell offenbar bestellt.

"1984" führt nämlich gerade die offiziellen Amazon-Verkaufscharts in den USA an. Genreübergreifend wurde in den vergangenen Tagen also kein Buch öfter bei dem Onlinehändler gekauft als die Dystopie des britischen Schriftstellers. Erschienen 1949. In Deutschland belegt das Buch - Stand Mittwoch, 13.30 Uhr - immerhin Platz zwei der fremdsprachigen Bücher. Ein Sprecher von Penguin Books verkündete, man werde in dieser Woche 75 000 Exemplare des Werkes nachdrucken. Deutlich mehr als sonst. Der Nachfrage wegen.

Nun ist Orwells Buch freilich schon lange zum - in Teilen auch durchaus phrasig gebrauchten - Synonym für Unterdrückung und Gedankenkontrolle geworden. Etwas erinnere an "1984", wird ähnlich reflexhaft dahingesagt wie der Ausspruch, etwas sei "kafkaesk". Aber tatsächlich drängen sich Parallelen ja doch auf.

Wenn die Partei sagt, 2+2=5, dann ist das die Wahrheit

Als Conway die offensichtlich falsche Aussage von Trumps Pressesprecher Sean Spicer, niemals hätten mehr Menschen einer Amtseinführung beigewohnt als bei der des 45. Präsidenten, als "alternative Fakten" bezeichnete, fühlten sich denn auch viele Kommentatoren an Orwells "doublethink" erinnert. Beim "Zwiedenken" beziehungsweise (je nach Übersetzung) "Doppeldenk" handelt es sich um einen zentralen Mechanismus der Unterdrückung der totalitären Regierung: Wenn die Partei sagt, 2+2=5, dann ist das die Wahrheit. Ein Fakt, der vor allem dadurch wahr wird, dass man ihn eben nicht nur sagen, sondern auch unbedingt glauben muss. Da es, etwa für wissenschaftliche Zwecke, manchmal aber nötig sei, zu wissen, dass 2+2 tatsächlich 4 ergibt, müsse ein linientreuer Parteianhänger in der Lage sein, zwischen "zwei Wahrheiten hin- und herzuschalten". Das Bild dürfte selbsterklärend sein.

Ob sich der Umsatz von "1984" nun tatsächlich (wie etwa der Guardian vermutet) ursächlich vor allem auf Conways Aussagen zurückführen lässt, liegt im Bereich der kausalen Kaffeesatzleserei. Dass Menschen sich, gerade in Zeiten, die grotesker oder bedrohlicher erscheinen als jede Fiktion, Orientierung oder Trost in Kunst suchen, ist indes nicht neu.

Deshalb sind ja nicht zuletzt Monsterplots so sensible Seismografen für den Zeitgeist. Überall, wo in der Welt Brüche entstehen, tauchen schließlich Ungetüme auf: Mary Shelleys "Frankenstein" als Fratze der Industrialisierung, Godzilla als Symbol für die Panik vor der Eskalation des Kalten Krieges. Spielbergs "Weißer Hai" war der Terrorist, der die westliche Welt in den Siebzigern heimsuchte.

Orwells Buch griff bei seinem Erscheinen die latente Angst vor totalitären, ideologisch durchtränkten Machtsystemen auf. Es war der frühe Kalte Krieg. Die Zeit der Spaltung in zwei diametral entgegengesetzte Denkweisen. Dass die Menschen sich jetzt wieder in großer Zahl dafür interessieren, dürfte durchaus zur Zeitdiagnose taugen: Eine neue, weithin unbekannte, in jedem Fall aber schwer berechenbare Ideologie rollt an. Und Teile Amerikas scheinen sich vor ihr zu fürchten.

Er sei nun "vollständig vorbereitet auf die neue Welt unter Trump", schreibt der Amazon-User Sim Lover in seiner Rezension des Buches. Vor der Lektüre habe er sich etwas verloren gefühlt, als brauche er "einen Fahrplan, um die neue ... nun ... Realität, in der wir jetzt leben werden, zu verstehen". Jetzt, da er das Buch gelesen habe, kenne er seine Rolle in der Gesellschaft. "Und ich verstehe, dass Wahrheiten nur Wahrheiten sind, wenn sie von unserem lieben Führer kommen." Das soll natürlich Ironie sein. Aber Ironie, das hat sie mit guter Fiktion gemeinsam, funktioniert ja nur, wenn sie die Wahrheit wenigstens streift.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: