Berliner Philharmoniker:Der Welt entfliehen

Christian Thielemann

Wer wird Chefdirigent der Berliner Philharmoniker? Christian Thielemann hat mit seinem Brahms-Sinfonien-Album eine konkurrenzlose Bewerbung geliefert.

(Foto: dpa)

Die Berliner Philharmoniker wählen einen neuen Chefdirigenten - und nicht nur die einzelnen Kandidaten stellen sie vor Herausforderungen. Warum die klassische Musikszene nicht mehr verstehen, sondern nur noch fühlen will.

Von Reinhard J. Brembeck

Am kommenden Montag werden die Berliner Philharmoniker einen neuen Chefdirigenten wählen, und niemand weiß, wer es wird. Doch während die Personalfrage nur Spekulationen zulässt, ist es erhellend, die Lage der Klassik ins Auge zu fassen.

Als die Berliner Philharmoniker vor 16 Jahren Simon Rattle zum Chefdirigenten wählten, war diese Szene ein von Flügelkämpfen zerrissenes Biotop, und die verschiedenen Fraktionen wollten oft kaum etwas miteinander zu tun haben. Die lautstärksten Gruppen waren die konservativen Mainstreamfreunde in der Karajan-Nachfolge, die Neue-Musik-Anhänger und die Alte-Musik-Apologeten.

In Rattle gewann ein Dirigent die Wahl, der geprägt war durch die beiden letzteren Gruppierungen, aber wenig im Sinn hatte mit Karajans elysischen Klangvisionen. Rattle hatte Nikolaus Harnoncourts Doktrin der "Musik als Klangrede" verinnerlicht. Er begreift Musik als einen Diskurs, den er mit einer bei Pierre Boulez abgeschauten Vorliebe für präzise Partiturtreue ins gängige Sinfonierepertoire von der Klassik bis zur klassischen Moderne überträgt. Damals war das für die Berliner Philharmoniker noch Neuland.

Nie nützte Rattle den Klang, um nur zu überwältigen, zu betören

Der Klang aber ist für diesen Dirigenten immer nur insofern relevant, als er hilft, den kompositorischen Prozess zu verdeutlichen. Nie nützt Rattle die pure Lust am schönen Klang, um zu überwältigen oder nur zu betören. Kein Wunder also, dass ihm ein paar Jahre nach Amtsantritt von der Karajan-Fraktion vorgeworfen wurde, dass die Berliner den samtenen Silberklang ihres Idols nicht mehr so recht zu produzieren wüssten. Einen Klang, der für diese Kritiker die unabdingbare Voraussetzung für die angemessene Aufführung der österreichisch-deutschen Großklassiker Beethoven, Schumann, Brahms und Bruckner wäre, also der für ein (deutsches) Orchester wichtigsten Komponisten. Diese Stimmen sind nie verstummt. Und heute, so scheint es, sind viele Musiker und Hörer geradezu süchtig nach diesem betörenden, überwältigenden Klang, der durch die Harnoncourt-Schule in Misskredit geraten war, weil er sich dem Diskurs der Stücke unterordnen musste.

Damals, in den 1980er- und 1990er-Jahren, glaubten viele Klassikfreunde noch an eine große Zukunft für ihre Kunst. Die von Harnoncourt angestoßene "relecture" der Partituren, also das sich von der Aufführungstradition lösende, an der Rhetorik geschulte neue Lesen der klassischen Partituren, gewann zunehmend Anhänger auch unter traditionellen Hörern wie Musikern. Der Höhepunkt dieser Entwicklung waren dann die kurz hintereinander erschienenen Gesamteinspielungen der Beethoven-Sinfonien durch Harnoncourt 1991 und Gardiner drei Jahre später. War die historische Aufführungspraxis zuvor eine avantgardistische Insidersache gewesen, so wurde sie nun populär. Und kein Musiker ist seither darum herumgekommen, sich mit ihren Prinzipien auseinanderzusetzen.

Sie prägten auch Abbados schlanke Beethoven-Symphonien mit den Berlinern.

Deshalb gibt es heute unter den jüngeren Musikern niemanden mehr, der nicht die Grundsätze dieser Bewegung verinnerlicht hat. Neue Musik und Uraufführungen sind selbstverständlich geworden. So hat sich eine allumfassende "Koiné" entwickelt, eine allgemeine musikalische Alltagssprache, der nichts mehr fremd ist, die aber auch keine Überraschungen mehr bietet und kaum individuelle Wege zulässt.

Zurück auf den Klang besinnen

Zudem sind die Neugier und die Lust am Unbekannten verschwunden. Heute ist alles entdeckt, möglich, machbar. Vielleicht haben deshalb die Musikheroen des ausgehenden 20. Jahrhunderts keine Nachfolger gefunden. Schließlich haben Musiker wie Harnoncourt, Boulez, Gardiner, Lachenmann, Kremer, Nono, Pollini, Cage, Herreweghe oder Jacobs die Möglichkeiten des Musikmachens bis an die äußersten Grenzen ausgereizt, sodass den Nachgeborenen nichts Neues zu tun mehr übrig bleibt. Die Folge ist nicht nur ein Gefühl der Sättigung, seit einigen Jahren zeichnet sich zudem eine Rückbesinnung ab auf jene Momente, die als Folge der Intellektualisierung ins Abseits gerieten, und dies zielt in erster Linie auf das irrationalste, das unmittelbar erlebbare Moment der Musik, den Klang.

Inzwischen spürt man ein Unbehagen, wenn ein Musiker vor allem die kompositorische Logik eines Stücks entwickelt und dabei den Klang zurückstellt. Vor noch nicht allzu langer Zeit entsprach dieser Ansatz einem breiten Bedürfnis, heute ist er nicht mehr zeitgemäß, denn er geht immer mit einer Distanz zwischen Musik und Rezipienten einher und setzt voraus, dass Musiker wie Hörer nach einer Anbindung zwischen Musik und Welt verlangen.

Musik soll wieder glücklich machen

Dieses Verlangen aber schwindet. Die Welt ist vielen keine Verheißung auf eine bessere Zukunft mehr, sondern nur noch Bedrohung. Damit wollen sie nichts mehr zu tun haben. So kommt ein Aspekt von Kunst zum Tragen, der vor der Jahrtausendwende ausgeblendet wurde: Musik ist heute als Trösterin angesichts der Härten der Welt gefragt.

Es interessiert inzwischen weniger, was Brahms mit Bach und Schönberg zu tun hat, oder wie Mahler im Kopfsatz der Neunten Sonatensatz mit Variationsform kreuzte. Musik soll wieder, so die selten klar artikulierte Forderung, abseits aller historischen, sozialen und geisteswissenschaftlichen Aspekte das Gefühl ansprechen, sie soll den Hörer vertrauensvoll in Empfang nehmen, ihn für kurze Zeit in ein Paradies entführen.

Das kann von allen Künsten am besten die Sinfonik, denn sie kommt ohne Text und Bild aus und bewegt sich in einem Reich, das nicht von dieser Welt ist. Hier kann sich ein Mensch dem schönen Schein ergeben und glücklich sein.

Deshalb sind heute Dirigenten gefragt, die dieser Sehnsucht entgegenkommen, die sich dem Primat des Diskurses und der Verteufelung des Schönklangs widersetzen. Viele der älteren Maestri, allen voran Daniel Barenboim, Mariss Jansons - der seinen Vertrag mit den Münchner BR-Symphonikern gerade bis 2021 verlängert hat - oder Zubin Mehta, haben sich sowieso nie auf diese Ästhetik eingelassen, die in ihren Augen wohl nie mehr als ein Zeitgeistphänomen der 80er- und 90er-Jahre war.

Männer der Mitte und des großen Gefühls

Aber auch etliche Berufungen der letzten Zeit erklären sich nur aus dem Umstand, dass die Harnoncourt-Schule mit ihrem herben Klangideal derzeit bei den großen Orchestern nicht sehr beliebt ist. Nur so lässt sich verstehen, warum die New Yorker Philharmoniker Alan Gilbert, das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester Daniele Gatti und die Münchner Philharmoniker Valery Gergiev zu ihren Chefs gemacht haben. Sie alle sind Männer der Mitte wie des großen Gefühls.

Und die Berliner Philharmoniker? Werden auch sie dem Zeitgeist folgen? Die Versuchung dürfte groß sein. Zumal in Christian Thielemann ein Kandidat zur Verfügung steht, der dieses Bedürfnis in idealer Weise befriedigt. Thielemann vermittelt Beethoven, Schumann, Brahms und Bruckner als große zeitgemäße Tröster, ihre Musik ist ihm hörbar näher und vertrauter als irgend jemand sonst. Mit seinem Brahms-Sinfonien-Album hat er im vergangenen Jahr zudem eine konkurrenzlose Bewerbung geliefert, der zu widerstehen den Berlinern sehr schwerfallen dürfte.

Während Simon Rattle bei Schumann und Brahms den aus der barocken Motorik gewonnenen Drive herausarbeitet, schleift Thielemann in jedem Takt die Kanten ab. Er mildert den rhythmischen Furor, er schafft feine Klanggespinste. Während Rattle straff durch die Dritte von Brahms führt, legt Thielemann von Anfang an elegant Klang auf. Sein Ziel ist der langsame Satz, der bei ihm zum weich lockenden Zentrum wird, zur perfekten Gegenwelt. Unter dem Zauber dieses Andante wird das nachfolgende Allegretto zu einem zweiten langsamen Satz, und selbst im Finale gelingt nur mit einem Seufzer eine beschwingtere Gangart.

Thielemanns Ansatz liegt im Trend, ist aber arg einseitig

Mag Thielemann mit diesem Ansatz die Bedürfnisse vieler Musiker und Hörer ideal befriedigen, so werden die Berliner darüber wohl nicht vergessen, dass dieser Dirigent damit eine arg einseitige Ästhetik vertritt, die zwar noch weitere Verfeinerungen zulässt, aber unverkennbar auf ihrem Höhepunkt angekommen ist.

Jüngere Musiker, allen voran Kirill Petrenko und Andris Nelsons, gehen einen anderen, zukunftsorientierteren Weg, indem sie die Sehnsucht nach dem schönen Klang mit der Diskursfreude der Harnoncourt-Schule zu verbinden suchen. Das führt nicht zur emotionalen Vereinnahmung des Hörers wie bei Thielemann, auch sind weder Petrenko noch Nelsons bei der Synthese schon am Endpunkt angekommen. Eine Entscheidung für diese Richtung würde deshalb viel mehr Mut erfordern. Am Montag wird man sehen, ob die Berliner ihn aufbringen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: