Berliner Philharmoniker in Salzburg:Mann ohne Geheimnisse

Zum Abschluss der Salzburger Festspiele gaben Sir Simon Rattle und seine Berliner Philharmoniker zwei Konzerte: Umjubelte, gute Darbietungen, die jedoch unter einem Mangel an Subtilität litten.

Joachim Kaiser

Es ist eine Respekt gebietende Salzburger Tradition, dass am Ende jedes Festspielsommers gewichtige Symphoniekonzerte den Abschluss bilden. Diesmal boten die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Sir Simon Rattle zwei ungemein verschiedene Programme. Am ersten Abend Mahlers IX. Symphonie, am zweiten eine gemischte Folge aus Brahms, Schumann, Ligeti und Strawinsky.

Simon Rattle

Setzte in seinem Abschlusskonzert bei den Salzburger Festspielen Glanzpunkte und offenbarte Schwächen: Der Dirigent der Berliner Philharmoniker Simon Rattle.

(Foto: Foto: dpa)

Mahlers riesige Symphonie, deren Ecksätze jeweils eine halbe Stunde dauern, stellt für jeden Dirigenten eine heikle Aufgabe dar. Simon Rattle führte sein mittlerweile auffallend verjüngtes Orchester mit engagierter Inständigkeit, ohne alle Mätzchen, Allüren, Posen. Die hat der 52-jährige Star nicht nötig. Etwa die langsam einschwingenden Anfangstakte des Kopfsatzes, wie auch das strömende Melos des Schluss-Adagios faszinierten.

Wie professionell Rattle sein Orchester im Griff hat, machte die virtuos vorüberrauschende "Burleske" der Symphonie deutlich. Da holte Rattle sogar keck heraus, was den meisten seiner Kollegen entgeht: eben nicht bloß die rasend rasche trotzige Energie des Stückes, sondern auch den unwiderstehlichen Witz mancher Mahlerscher Fugenthemen.

Sinn für Zartes und Subtiles

Man lauschte also einem Orchesterchef, der mit loderndem Temperament sowie mit wachem Sinn für Zartes und Subtiles musiziert. Zweifellos ein trefflicher Interpret. Aber auch ein großer? Einer vom Rang des Leonard Bernstein, Herbert von Karajan, Erich Kleiber, Igor Markewitsch, Wilhelm Furtwängler? Da scheinen Zweifel angebracht. Es trat zutage, dass Rattles Darbietung des schwierigen Kopfsatzes von Mahlers IX. an etwas krankt, was gemeinhin eher als Vorzug, als Stärke gilt: nämlich an Eindeutigkeit, Überdeutlichkeit, Geheimnislosigkeit.

Gewiss: Der Satz begann nachdenklich, zart, verhalten. Aber bei vielstimmigen Steigerungen, bei unhomogenen Flächen schien Rattle überfordert. Er fühlt zu wenig, dass der reife Mahler oft genug mannigfache Dimensionen des Klanges wollte, die alle ertönen müssen. Sie lassen die Fülle des Kopfsatzes erscheinen - und verschleiern sie zugleich. Stets meint man, dass sich hinter dem Erklingenden noch etwas Geheimnisvolles verberge.

Bei Rattle donnern gegebenenfalls hauptsächlich die Blechbläser - und man glaubt sich in Verzweiflungsorgien Tschaikowskys. Dann wieder lässt er schwungvoll melodisch die Geigen triumphieren - und man staunt, wie viel Strauss in Mahler steckt.

Es muss eben immer etwas Entschlossenes, Eindeutiges, Unverkennbares passieren. Rattle zielt auf einen isolierenden Affekt-Aktionismus. Dieser Künstler spürt offenbar gar nicht, wie wichtig gelegentliche Zurückhaltung, ja Ausdruckslosigkeit ist in großer Musik. Weil er alles auflädt, aktiviert, darum verlieren sich - umzingelt von lauter Auch-Höhepunkten - die entscheidenden herben Ereignisse.

So nimmt Rattle im Eifer des Gefechts kaum zur Kenntnis, wie enorm sich beispielsweise Dringlichkeit und Aura ändern müssten, wenn Mahler gegen Schluss Trauermarsch-Pathos verlangt: "Wie ein schwerer Kondukt." Kurz vor Schluss des Kopfsatzes will Mahler eine kadenzartige Solo-Episode: "Misterioso. Plötzlich bedeutend langsamer."

Erstes Horn und Solo-Flöte sollen in ruhigem Tempo eine fast unspielbare, duettierende Solo-Kadenz bieten, eine kammermusikalische Parenthese von einzigartiger Subtilität. Wonach es dann logischerweise "Nicht mehr so langsam" weitergeht. Rattle musizierte darüber hinweg, alles lief kaum abgewandelt weiter. Vielleicht fehlt Rattle das Gespür für solche tiefsinnigen Kontraste überhaupt, für tragische Affekt-Dramaturgie...

Im zweiten Satz der Mahlerschen "Neunten", einem Ländler, der täppisch-derb unterbrochen wird, empfindsam weitergeführt, am Ende süß grausam hingerichtet, imponierten Durchsichtigkeit und Homogenität des Orchesters. Merkwürdigerweise fehlte Rattle der Sinn für die Idiomatik des Ländlerthemas. Es blieb, fast demonstrativ, starr. Dabei war Mahler doch Böhme, der hätte wahrscheinlich überhaupt nicht begriffen, was daran so schwer sein soll.

Rattles Triumph: Die folgende Burleske. Sie erklang fabelhaft virtuos und witzig. Den Stretta-Schluss hat selbst Bernstein nicht besser geschafft. Im Final-Adagio wich Rattle dem naheliegenden Vergleich mit Bruckner aus, indem er Mahlers Melos wunderbar blühend, ja sinnlich-wagnerianisch verstand. So wirkte die Interpretation weniger fromm als hysterisch. Und das war ihre Stärke... Erst im extrem langsamen Schluss mischten sich - wie am Ende des "Liedes von der Erde" - ersterbendes Abschiedsweh und mystische Daseins-Feier.

Simon Rattles zweites Konzert hatte einen erstaunlich munteren Höhepunkt. Caroline Stein, entzückende Mischung aus seriösem Koloratursopran und agiler Koloratur-Soubrette, sang drei so genannte "Arien" (in Wahrheit total absurdes Wiederholungsgestammel sinnfreier Silben und Worte) aus Ligetis Oper "Le Grand Macabre".

Auch wer diese Oper mehrfach gehört hat, musste stets mit Ligetis Textwahl hadern: Ein Jammer, dass dieser geniale Komponist so viel Geschmack fand an den albernen Forciertheiten von Ghelderodes Fantasie-Ländchen. Carole Stein verblüffte mit halsbrecherischen Koloraturen und charmant mühelos gebotenen Spitzentönen. Die Musiker spielten in jeder Weise mit, Rattle äußerte sogar einen kommentierenden Satz. Die rhythmische Vitalität der Partitur erfreute. Alles das sorgte für beste Laune und jubilierendes Publikum.

Verlustanzeigen

Vor der Pause meisterte Gidon Kremer Schumanns Violinkonzert. Ein beklemmend problematisches Werk - dem Schumanns Geschwächtheit anzumerken ist. Jene Passion, wie sie die späten Violinsonaten oder gar das Cellokonzert beseelt, fehlt weithin. Es griff ans Herz, wie Kremer, sehr frei langsamer werdend, am Ende der Durchführung Verdämmern und Ersterben gestaltete, wie er das Melos des Mittelsatzes nobilitierte und die erschreckende (überkompensierende) Polonaisen-Munterkeit des Finales zart zurücknahm.

Leider zwingt Rattles zweiter Abend zu zwei Verlustanzeigen. Waren nicht die Berliner Philharmoniker einmal das beste Brahms-Orchester der Musikwelt? (So wie die Wiener "das" Bruckner-Orchester?) Nun sind sie es nicht mehr. Ihr Brahms ("Tragische Ouvertüre") klingt recht unspezifisch, sogar etwas extrovertiert. Den Akkorden fehlt es an Innenspannung, archaischem Gewicht.

Und wer einst Strawinskys "Symphonie in drei Sätzen" (von 1945) als ein gewaltiges Schreckensdokument liebte - der hat sich damals wohl getäuscht. 2007, in Salzburg, wirkte das Stück nur mehr imperial-monumental aufgedonnert. Hätte auch von Respighi sein können. Filmmusik. Rattle versuchte kaum, jene gläsern panischen Effekte herzustellen, die einst faszinierten. Immerhin: An Beifall fehlte es nicht.

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