Berlinale-Siegerin Ildikó Enyedi:"Bitte, hab' keine Angst"

Film Körper und Seele

Sie müssen heraus aus der Komfortzone, um ihr Glück zu finden: Mária (Alexandra Borbély) und Endre (Morcsányi Géza) in "Körper und Seele".

(Foto: Alamode Film)

Ildikó Enyedis Berlinale-Siegerfilm "Körper und Seele" ist ein leidenschaftlicher Appell, sich auf das Leben einzulassen. Im Gespräch erklärt die ungarische Regisseurin, warum der moderne Pragmatismus verhängnisvoll ist.

Interview von Paul Katzenberger

Mária (Alexandra Borbély) und Endre (Morcsányi Géza) sind Einzelgänger. Sie leidet unter einer leichten Form von Autismus. Das heißt: Sie kann die Signale ihres Umfelds nicht richtig deuten. Um sicher zu sein, dass sie alles richtig macht, handelt sie in ihrem Beruf zu 100 Prozent nach Vorschrift, was sie im Kollegenkreis als vollkommen unflexibel erscheinen lässt. Er ist deutlich älter als sie und hat nach einem Schlaganfall, der ihm einen lahmen Arm hinterlassen hat, mit dem Leben und der Liebe eigentlich abgeschlossen.

In "Körper und Seele" dem ungarischen Siegerfilm der diesjährigen Berlinale begegnen sich die zwei verletzten Seelen in einem Schlachthof. Just an diesem Ort des Todes bahnt sich zwischen den beiden Eigenbrötlern eine zarte Beziehung an. Sie kommen sich näher, nachdem sie bemerken, dass sie jede Nacht denselben Traum haben, in dem er ein Hirsch ist und sie eine Hirschkuh, die gemeinsam im Wald leben.

SZ: Ihr Film spielt in einem Schlachthof. Warum ausgerechnet dort?

Ildikó Enyedi: Weil mir das in Bezug auf unsere gesellschaftliche Realität angemessen erschien. Wenn Sie heute in einen Laden gehen, dann kommt ein Drittel der Produkte von dort. Ein Schlachthof ist kein esoterischer Ort, sondern ein ganz normaler Raum unseres Alltags. Und dennoch verstecken wir ihn.

Weil es ein Ort ist, mit dem wir uns in der modernen Gesellschaft ungern konfrontiert sehen. Wir kaufen eben lieber die sauber eingepackten Rinderfilets im Supermarkt.

Aber genau das halte ich für Verdrängung. Wir versuchen, uns im Leben immer möglichst behaglich einzurichten. Dabei ist es voller Extreme. Der Kern meines Films ist der Appell, sich nicht vor dem Leben zu verstecken. Das Leben anzunehmen, und zwar ganz genauso wie es ist. Es wirklich zu leben. Präsent zu sein im Hier und Jetzt unserer Realität.

Ist der Schlachthof eine Allegorie auf unser bequemes westliches Leben inmitten von Krieg, Hungersnöten und Fluchtbewegungen in weiten Teilen der Welt?

Nein! Mir ist es wichtig, dass mein Film nicht allegorisch ist. Die Traumsequenzen sind zum Beispiel in einem richtigen Wald gedreht, mit echten Tieren, die man riechen kann, die hungrig sind und ein bisschen frieren. Ich wollte da auf keinen Fall eine traumhafte Verzerrung darstellen, obwohl es vielleicht den Eindruck macht, weil die Natur per se märchenhaft schön ist.

Der Schlachthof soll uns also wirklich nur an die Existenz solcher Orte erinnern?

Ich nehme nur wahr, dass sie da sind. Und nicht alles an Schlachthöfen ist negativ: Die Mittagspausen der Belegschaft, die Kaffeepausen, das alles ist ein Teil der Realität, genauso wie das Töten der Tiere. Im Grunde gehört das doch zu unserem Alltag: Wir sitzen vor dem Fernseher und schauen Nachrichten aus der ganzen Welt, während wir nebenbei das Fleisch getöteter Tiere zu Abend essen.

Ihr Film trägt den Begriff "Seele" im Namen und handelt viel von Tieren. Haben Tiere Ihrer Meinung nach eine Seele?

Ich weiß nicht, wie ich Seele eigentlich definieren soll. Aber eins kann ich sagen: Wenn wir Menschen eine Seele haben, dann haben auch die Tiere eine. Es gibt keine klare Grenze zwischen Menschen und Tieren Der Unterschied zwischen den verschiedenen Arten ist meiner Auffassung nach graduell. Der Mensch stammt schließlich vom Tier ab. Im Übrigen ist das auch etwas, das wir gerne ausblenden.

Aber wenn die Tiere genauso eine Seele haben wie wir, sind wir dann überhaupt befugt, sie umzubringen?

Das ist eine schwierige Frage. Denn Traditionen sind ein wichtiger Teil jeder menschlichen Kultur. Zu den verschiedensten Kulturen gehören unlogische, beklemmende und schockierende Bräuche als wesentliche Merkmale. Unsere Kultur beinhaltet den Anspruch, Tiere töten zu dürfen.

Reicht das als Legitimation aus? Unsere Kultur ermöglicht jedem auch, auf den Verzehr von Fleisch zu verzichten.

Mir geht es nicht darum, ob es legitim ist. Ich konstatiere nur die existierenden Gegebenheiten. Und die manifestieren sich seit sehr langer Zeit auch in Schlachthäusern. Ich war positiv davon überrascht, wie einfühlsam die Schlachter mit den Tieren umgingen. Das waren ungebildete Leute, die sich keine philosophischen Gedanken darüber machen, ob sie Tiere umbringen dürfen. Doch instinktiv behandelten sie ihre Opfer mit sehr viel Zartgefühl und Respekt

Worin drückte sich das aus?

Es bestand tatsächlich so etwas wie Verbundenheit zwischen ihnen und den Tieren. Das war daran zu erkennen, wie die Schlachter sie berührten, wie sie sich mit ihrem ganzen Körper an ihnen anlehnten, wie sie mit ihnen sprachen. Das erinnerte mich an die archaischen Riten der Naturvölker, die das Wild erst jagen, es töten, essen und ihm dann danken. Aus meiner Sicht ist die Tötung von Tieren nicht die schlimmste Übertretung des Menschen ihnen gegenüber, sondern das, was ihnen davor angetan wird. Wir nehmen ihnen ihr Leben weg.

"Wir sind in vielen Situationen nicht so präsent, wie es gut für uns wäre"

Ildikó Enyedi bei der Berlinale im Februar 2016

Schon mit ihrem Erstlingsfilm "Mein 20. Jahrhundert" begeisterte Ildikó Enyedi 1989 in Cannes Kritik und Publikum. Bei der diesjährigen Berlinale wurde sie für "Körper und Seele" mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.

(Foto: dpa)

Ist das der Grund, warum Sie das Schlachthaus im Film als eigentlich ganz gemütlichen Ort darstellen?

Ja, weil ich es so erlebt habe. Alles ist sauber und ordentlich und nach humanen Maßstäben angelegt. Es gibt zum Beispiel eine Wand, die verhindert, dass die Tiere sehen können, was mit ihren Artgenossen weiter vorne in der Reihe passiert. Es wird in einem praktischen Sinne an alles gedacht, wobei ich diesen Optimierungsansatz auch für problematisch halte.

Wieso das?

Weil er zu kurz greift. Denn auch solche Maßnahmen verhindern nicht, dass die Tiere sehr genau merken, an welch furchtbarem Ort sie gelandet sind. Ich bin mir sicher, dass sie deutlich spüren, dass ihnen hier etwas Schreckliches zustoßen wird. Dieser Schlachthof erinnerte mich an ein gut ausgestattetes Krankenhaus. Technisch ist da alles vorhanden, um Leben zu retten: Schläuche zur künstlichen Ernährung, Defibrillatoren und Operationsäle. Man versucht, eine Situation in den Griff zu bekommen, die sich unter Umständen aber nicht bewältigen lässt: Ein Mensch sagt der Welt Lebewohl und würde sich vielleicht gerne von seinen Angehörigen verabschieden, doch dafür hat das System keinen Raum - das stört nur den Ablauf.

Was wäre die Alternative? Den kranken Menschen nicht mehr die größtmögliche Professionalität zukommen zu lassen?

Die Alternative wäre, die Realität anzuerkennen. Wir alle werden früher oder später sterben. Und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, Abschied zu nehmen, dann wäre es angemessen, wenn der Betroffene und seine Angehörigen diesen existenziellen Moment in voller Wahrhaftigkeit durchleben könnten, ohne dass die Lebensrettungsmaschinerie des Krankenhauses sie dabei stört. Um was geht es im Leben? Wenn der Tod anklopft, kann jeder nur hoffen, dass sie oder er sich an die Momente erinnert, in denen sie oder er wirklich gelebt haben.

Gibt es aus Ihrer Sicht andere Orte als das Krankenhaus, an denen wir am Erleben der Wirklichkeit behindert werden?

Ich glaube, wir sind uns vieler Situationen nicht so bewusst, wie es gut für uns wäre: Wenn wir mit unseren Kindern spielen, wenn man gut zu Abend isst, wenn wir mit Freunden spazieren gehen. Oder, wenn man bedrückt ist. Dass man sich selber gestattet, traurig zu sein. In der modernen Gesellschaft vermissen wir diese Erfahrungen zunehmend, und die Symptome sind überall zu erkennen. All diese Selbstoptimierungsbücher, die Hipster- oder die New-Age-Bewegung sind für mich alle Anhaltspunkte dafür, dass uns etwas fehlt. Die Menschen versuchen manchmal, auf geradezu lächerliche Art und Weise, unverfälschte Erfahrungen zu machen. Die Verzweiflung ist da oft groß, aber genau das zeigt, dass das dahinterliegende Bedürfnis sehr stark ist.

Was ist aus Ihrer Sicht der Grund dafür, dass wir verlernt haben, die Wirklichkeit so anzunehmen, wie sie ist?

Als die Religion noch ein bestimmendes Element unserer Gesellschaft war, gab es Rituale, die den Einzelnen mit dem großen Ganzen verbanden. Einfache Dinge wie zum Beispiel das Gebet vor der gemeinsamen Mahlzeit, der regelmäßige Kirchgang und bestimmte Feiertage bezogen das Individuum in die Gemeinschaft ein und deckten seine spirituellen Bedürfnisse ab. Diese Rituale haben wir durch professionellen Pragmatismus und Effizienz ersetzt, mit der Konsequenz, dass wir Situationen nicht mehr einfach nur durchleben, sondern sie stets bewältigen wollen.

Das Leben anzunehmen, birgt aber auch Risiken. Besonders, wenn sich zwei Menschen aufeinander einlassen, besteht immer die Gefahr, dass schließlich doch einer den anderen zurückweist. Tiefer verletzt kann man kaum werden. Das zeigen Sie in Ihrem Film auch eindrücklich.

Deswegen wollte ich ja eine Liebesgeschichte erzählen. Die Liebe ist die extremste emotionale Erfahrung, die der Mensch machen kann. Und meinen Hauptprotagonisten Mária und Endre verlangt es besonders viel ab, sich ineinander zu verlieben, weil sowohl sie als auch er sehr verschlossen sind. Bei beiden ist das eine Sicherheitsstrategie. Durch ihren Perfektionismus stellt Mária für sich selbst sicher, dass sie Dinge richtig macht. Endre geht den Menschen aus dem Weg, weil sein Arm nach einem Schlaganfall gelähmt ist. Er fürchtet, dass er sich mit seiner Behinderung lächerlich machen könnte, oder ihn jemand durch Bemerkungen verletzt oder zurückweist.

Was ja alles keine irrationalen Befürchtungen sind.

Wer sich auf das Leben einlässt, lebt gefährlicher, als derjenige, der in seiner Komfortzone bleibt - das will ich nicht bestreiten. Dennoch würde ich allen Menschen, die das Gefühl haben, dass ihr Leben zu limitiert ist, sagen wollen: 'Bitte, hab' keine Angst! Es wird nicht leicht sein. Du wirst Risiken eingehen müssen. Du kannst verletzt werden. Aber es ist es wert.'

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