Berlinale: Falten auf der Leinwand:Alter vor Gerechtigkeit

Verwaiste Eltern, eine geschundene Ehefrau und eine alternde Kurtisane: "Chéri", "Katalin Varga" und "London River" bringen die Melancholie des Vergänglichen in den Wettbewerb.

Susan Vahabzadeh

In Erinnerungen kann man nur schwelgen, wenn das Zurückdenken nicht allzu schmerzlich ist. Léa de Lonval sieht in den Spiegel, und eine fremde Frau schaut zurück - das ist ein unendlich trauriger Moment. All die Kraft, mit der sie sich gegen alle Konvention gestemmt hat - anständig und keusch sein, heiraten, es mit der Lebenslust nicht übertreiben, und vor allem: widerstandslos alt werden - konnte die Zeit nicht aufhalten.

Berlinale: Falten auf der Leinwand: Am Ende ist sie einfach zu alt: Michelle Pfeiffer mit Rupert Friend in "Cheri".

Am Ende ist sie einfach zu alt: Michelle Pfeiffer mit Rupert Friend in "Cheri".

(Foto: Foto: ap)

Michelle Pfeiffer spielt Léa, in Stephen Frears' von Kostümen und Dekors berauschtem "Chéri", und damit hat sich eine geradezu legendäre Paarung wiedergefunden. Zusammen waren die beiden vor zwanzig Jahren in Höchstform. Es geht auch diesmal wieder um "gefährliche Liebschaften", eine Liaison, die nur auf Kosten einer jungen Frau bestehen kann - nur ist Michelle Pfeiffer diesmal nicht mehr die junge Frau. Léa könnte den Kampf um den Geliebten nur für sich entscheiden, wenn sie alle anderen unglücklich machte, aber sie ist keine Marquise de Merteuil, sondern eine Colette-Heldin, und die sind sanftmütiger.

Christopher Hampton hat Colettes melancholischen Roman "Chéri" teilweise ganz texttreu adaptiert, den Folgeroman, "La fin de chéri", als Epilog dazugeliefert - und Colettes Figuren doch irgendwie einen britischen Oscar-Wilde-Tonfall mitgegeben. Was der Geschichte Leichtigkeit verleiht - denn traurig ist sie sowieso: Léa, eine höchst erfolgreiche Kurtisane, hat sich mit fast fünfzig aus dem Geschäft zurückgezogen, mit einem Liebhaber, der nicht einmal halb so alt ist wie sie. Nach ein paar Jahren verlässt er sie und heiratet ein junges Mädchen. Im Roman sagt er, als Léa ihn fragt warum: "Es musste doch ein Ende finden, oder?" Die Romanze scheitert daran, dass die beiden keine Zukunft haben - dass Chéri, als er einmal Abstand gewinnt von seiner Léa, beim Wiedersehen plötzlich ihr gegenwärtiges Gesicht sieht und nicht das junge seiner Erinnerung.

Michelle Pfeiffer und "Chéri" geben der Berlinale den Glamour zurück, einen melancholischen, dem Regenwetter angemessen. Der Wettbewerb nimmt eine politische Auszeit, im Fall von Frears ganz genießerisch. Frears lässt die Belle Epoque wiederauferstehen - die Möbel, die Hausfassaden und das ornamentale Gitter vor Léas Schlafzimmer, die Kleider, eine Ausgeburt der damaligen Kunst, und viel bequemer und bewegungsfreundlicher als die Mode, die sie ablösten, sind Zeitzeugen, sie gehören zu einer ungeheuer modernen Vergangenheit, dem Produkt eines langen Friedens.

Gerade im Vergleich zu solchem Können, Ort und Zeit und Charaktere aus Details entstehen zu lassen, fragt man sich dann doch, in welchem Paralleluniversum Peter Strickland seinen "Katalin Varga" angesiedelt haben mag. Die Gegend ist Osteuropa nachempfunden, aber eines, dessen Bewohner sich offensichtlich nicht so richtig entscheiden können, ob sie zur Handygeneration gehören oder zu einer gewaltbereiten Variante der Amish. Selbstjustiz gehört dort jedenfalls zum Lokalkolorit und wird im Film entsprechend verhandelt.

Rache ist schlimmer als Vergewaltigung

Katalin hat einer Frau aus ihrem Dorf anvertraut, dass ihr Sohn nicht von ihrem Mann ist, sondern einer Vergewaltigung entstammt, was flugs die Runde macht, worauf ihr der Ehemann eine knallt, sie dann umarmt und samt zehnjährigem Sohn, den er bis eben noch für seinen eigenen hielt, die Tür weist. Also macht sie sich mit Pferd und Wagen auf, den Kindsvater zu suchen. Unterwegs bringt sie den Freund des Vergewaltigers um, der damals zugeschaut hat, und spricht ihrem Mann auf die Mailbox, sie käme lieber wieder heim. Der Vater wird gefunden, Katalin von einem mörderischen Polizisten gestellt, und wir lernen daraus wohl, dass das Vergewaltigen von Frauen am Wegesrand noch kein Hinweis auf eine Charakterschwäche sein muss, Rachsucht hingegen schon.

Aber eigentlich plappern die Bilder eh verräterisch vor sich hin; wie ziellos Strickland in der Landschaft herumfilmt, wie da immer bedrohlich die Karpaten über allem thronen, ohne dass irgendwer je wirklich in den Bergen ankommen würde - das lässt ahnen, dass man dem ganzen Unternehmen "Katalin Varga" nicht allzuviel Intention unterstellen sollte.

Wer waren die eigenen Kinder?

Mit Rachid Boucharebs "London River" holt uns die Wirklichkeit dann wieder ein, vor dem Hintergrund eines Terroranschlags entfaltet er ein stilles Drama von Verlust - von zwei Menschen, die im Grunde alles verlieren. Sogar das, was sie mühselig erarbeiteten, ist wertlos, denn es gibt keinen mehr, für den sie sorgen müssen. Bouchareb hat das Alles-auf-einmal-Erzählenwollen seiner "Indigènes" hinter sich gelassen - dieser Film hatte in Frankreich schon deswegen Furore gemacht, weil seinetwegen die jahrzehntelang vertagte Rentenregelung für Soldaten aus den ehemaligen französischen Kolonien endlich durchkam.

Diesmal versucht Bouchareb sich nicht an einem epischen Riesengemälde, er bleibt ganz bei seinen zwei Hauptfiguren. Elizabeth, verkörpert von Brenda Blethyn, eine einfache, verwitwete Frau von der Insel Guernsey, kann ihre Tochter, die in London lebt, nicht mehr erreichen nach den Anschlägen in der U-Bahn vom Juli 2005; und Ousmane, ein alter Afrikaner, der fern von seiner Familie in Frankreich lebt, sucht seinen Sohn. Sie irren beide durch die große fremde Stadt in den Tagen nach dem Anschlag, zu Krankenhäusern und Ämtern, müssen unidentifizierte Opfer ansehen und nebenbei rekonstruieren, wer ihre Kinder eigentlich waren - die Wege der Eltern kreuzen sich, denn die Kinder waren heimlich ein Paar, haben zusammen Arabisch gelernt.

Kein Augenblick kommt je zurück

Ein ganz unaufgeregter, lakonischer Film - keine Ursachenforschung, nur Verzweiflung und Zweifel. Die Nähe der Kinder zu einer Londoner Moschee irritiert beide gleichermaßen, es ist eine ganz beiläufige, sehr schöne Szene, in der sie das einander gestehen. "London River" verstrickt sich nicht in Ideologien oder Welterklärungsversuchen, er verzichtet darauf, die Angst und das Unbehagen, die Elizabeth im buntgemischten Londoner Eastend empfindet, zu denunzieren; und nebenbei erzählt auch dieser Film davon, wie einem die Vergangenheit abhanden kommen kann - man bekommt keinen Augenblick, den man verschwendet hat, je zurück.

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