Berlinale-Eröffnung:Die Show der Schneidigen

"Jeff, Jeff, hier, hier!": Pünktlich zur Eröffnungsgala verfällt der Mikrokosmos Berlinale in Hysterie. Die kann nur einem nichts anhaben - dem coolsten alten Mann aus Hollywood. Die Show ist derweil so politisch wie selten zuvor.

Lena Jakat, Berlin

Sein Blick ist fest. Auch sein Zeigefinger, jetzt bloß kein Zucken, bloß den richtigen Moment erwischen, um abzudrücken. Er ist auf der Jagd - nach Bildern. Seit Jahrzehnten postiert sich Reiner Linke vier, fünf Mal im Monat vor Hotels, Kinos, Konferenzzentren. Seine Beute: Fotos von Schauspielern, Politikern, Sängern. Der 60-jährige Berliner ist passionierter Freizeit-Paparazzo. Selbstredend ist der Eröffnungsabend der 61. Filmfestspiele für ihn ein Pflichttermin.

Der Mann mit der achteckigen Goldrandbrille steht ganz vorne am Absperrgitter, dort, wo noch kein roter Stoff auf den Steinplatten liegt, und wo weniger bekannte Gesichter unter einem Plastikhimmel zum Filmpalast schreiten. "Das Schönste daran ist das alles hier", sagt Reiner und deutet auf die Menschenmasse, aus der zahllose Hälse, Handys und Kameras ragen. "Das Warten, die Spannung."

Ganz Berlin, so scheint es - zumindest vom Mikrokosmos Berlinale aus betrachtet, der sich zwischen Spree, Restaurant Borchardt und Potsdamer Platz quetscht - wartet am frühen Donnerstagabend nur auf einen: den Mann, der nicht John Wayne sein will. Jeff Bridges spielt die Hauptrolle im Eröffnungsfilm True Grit - Wahrer Schneid. Die Regisseure, Joel und Ethan Coen, haben sich dafür den gleichnamigen Roman von Charles Portis zur Vorlage genommen - genauso wie einst Henry Hathaway. Der verfilmte die Geschichte des harten Mädchens, das mit Hilfe eines weichen Raubeins seinen Vater rächen will, schon 1969. Damals spielte John Wayne die Hauptrolle. Er bekam dafür den Oscar, jetzt ist Jeff Bridges für die gleiche Auszeichnung nominiert.

Doch mit dem will Bridges nicht verglichen werden. Der Film soll kein Remake sein, betonen seine Macher. Scherzend antworten sie auf Fragen nach Parallelen stets dasselbe: "Vielleicht hätten wir vorher besser drüber nachdenken sollen." Sie wollen ihr 38-Millionen-Dollar-Œuvre nicht an Vergangenem messen, nirgendwo reinstopfen lassen, wo "Remake" draufsteht oder "Western". "Der Film ist ein Western aus Zufall, aus Zwangsläufigkeit", sagt Joel Coen. Ende der Diskussion, Themenwechsel.

Ein Film zum Umarmen

Der Film hat in den USA seit seinem Start am 22. Dezember schon 126 Millionen Dollar eingespielt. Warum schafft das jetzt, 2011, ausgerechnet ein Western? Josh Brolin, der in True Grit als Bösewicht Tom Chaney ganz unwesternhaft auch menscheln darf, lässt bei dieser Frage auf der Pressekonferenz einen Moment das Scherzen und Schäkern mit brasilianischen Journalistinnen. "Unsere Gesellschaft, unsere Probleme werden immer komplexer, und wir verstricken uns immer tiefer darin", meint Brolin. Der Western True Grit biete den Menschen Einfachheit. "Etwas, das sie umarmen können." Anders als damals John Wayne. "Das ist wie Radium oder so", sagt Brolin, "das kann man nicht umarmen."

Wer weiß schon, warum genau - die Filmkritiker sind True Grit jedenfalls auch hierzulande längst um den Hals gefallen, und im Wettbewerb der Berlinale hat der Film ohnehin nichts zu befürchten: Dort läuft er außer Konkurrenz und überlässt das Rennen um die Goldenen und Silbernen Bären 16 anderen Produktionen aus aller Welt. Seine Bilder von weiten Prärien und ernsten Kindergesichtern bringen der Berlinale-Eröffnung Hollywood-Bombastik. Die Schauspieler liefern den nötigen Glamour zu, nach dem sich die Menschen am roten Teppich sehnen.

So wie Reiner Linke. Er hat dort eine Bekannte aus der Fotojäger-Szene getroffen, Uti Giersch. Sie zielt jedoch auf andere Beute: Sie will mit den Stars gemeinsam aufs Bild. Die Berlinerin mit dem Wollschal und der dicken Daunenjacke - "Vorbereitung ist alles", sagt Reiner Linke - zückt ihr Mobiltelefon. Spürbar stolz klickt sie durch 250 Bilder: Uti mit Matthias Schweighöfer, Uti mit Michael "Bully" Herbig, Uti mit Rosenstolz, Uti mit Klitschko. "Wie heißt der noch mal?" Es ist Moritz Bleibtreu. In den eineinhalb Stunden Teppichshow vor der Berlinale-Gala holt sie diesmal acht Prominente mit aufs Bild. "Toll, wie die Leute stehen bleiben", sagt eine Frau anerkennend. "Och, ich hab keine Angst vor denen", antwortet Uti. "Die beißen nicht."

Der leere Plastikstuhl

Zwanzig Meter weiter hinten rollen im Fünfminutentakt die Schlitten des Sponsors an und spucken die prominentesten Prominenten auf den roten Teppich. Wen genau, erfahren Reiner und Uti oft nur von den Chören, die in Wellen von der Pressetribüne schallen: "Jan, Jan" - Joseph Liefers, "Hannes, Hannes" - Jaenicke, "Nina, Nina" - Hoss. Zum Finale um 18:30 Uhr setzt der Chor zum Crescendo an, als die Coen-Brüder, Josh Brolin, Hailee Steinfeld und der coolste alte Mann Hollywoods, Jeff Bridges, aus dicken Limousinen steigen. Dann schließen die Männer mit den schwarz-roten Capes die Glastüren, und während sich draußen die Menge zerstreut, nehmen drinnen 1600 handverlesene Gäste ihre Plätze ein. Veronica Ferres versteckt sich hinter dem Ohr von Christoph Letkowski, Senta Berger hinter riesigen getönten Brillengläsern.

Ovationen für einen Brief

Bei der Gala, die Anke Engelke in einem Kleid moderiert, das aussieht wie aus den Resten eines Aktenvernichters genäht, wird schnell eines klar: Selten lagen Show und Wirklichkeit so nah beieinander, selten war die Berlinale schon bei ihrer Eröffnung so politisch. Während der Vorstellung der Jury steht ein weißer Plastikstuhl auf der Gala-Bühne, leer, bis auf ein Namensschild: Jafar Panahi.

Statt in der Jurykommission der Filmfestspiele sitzt der iranische Regisseur in seinem Heimatland in Haft. Sechs Jahre hat er bekommen, dazu 20 Jahre Berufsverbot. Dabei sieht sich der sozialkritische Filmemacher nur als einer, der Geschichten erzählt. So wie Offside.

Für den Film um ein paar Frauen, die sich in ein Fußballstadion mogeln wollen, erhielt Panahi 2006 einen Silbernen Bären. Dieses Jahr werden seine Filme in einer Sondersolidaritätsvorführung gezeigt. Kosslick hat extra grüne Berlinale-Bären fürs Revers bestellt. Grün wie die Farbe des Protests gegen den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad.

Das fehlende Jurymitglied Panahi hat einen Brief gesandt und darauf bestanden, dass er verlesen wird. Auch wenn, wie Festivaldirektor Dieter Kosslick sagt, "es das Letzte ist, was wir von ihm hören werden". Trotz seiner Strafe, liest Jury-Präsidentin Isabella Rossellini aus Panahis Schreiben vor, "werde ich in meiner Vorstellung weiterhin meine Träume in Filme übersetzen". Er gebe die Hoffnung nicht auf. "Ich wünsche mir, dass meine Regiegefährten in dieser Zeit so großartige Filme schaffen, dass ich, wenn ich das Gefängnis verlasse, begeistert sein werde in jener Welt weiterzuleben, die sie in ihren Werken erträumt haben."

Es ist nicht Jeff Bridges oder Klaus Wowereit, sondern dieser Brief, der bei der Gala den meisten Applaus bekommt, draußen, wo Uti, Reiner und die anderen Standfesten die Show auf dem Bildschirm verfolgen. Und drinnen, wo sich die Gäste aus ihren Polstern erheben. Dann nimmt alles wieder Platz, das Licht geht aus, der Vorhang hebt sich und ein verschwommener Feuerschein flackert auf der Leinwand: Die erste Szene von True Grit. Die Berlinale ist eröffnet.

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