Berlinale: Der rote Teppich:Selbstfindung auf 50 Metern

Hochgradig absurd: Die Choreographie des roten Teppichs - was mit den Schauspielern geschieht auf dem Weg zu den Bildern ihrer selbst.

Thomas Steinfeld

Manchmal, nach besonders eindrucksvollen Filmen, bleibt das Publikum am Ende noch eine Weile sitzen. Der Abspann beginnt, und die Leute applaudieren, als könnten die Schauspieler und der Regisseur hinter dem Vorhang hervortreten und sich verbeugen. Aber es ist niemand da, der den Beifall entgegennehmen könnte. Die Leute sind begeistert, aber sie wissen nicht wohin mit ihrer Begeisterung, und dann spenden sie Beifall für sich selbst. In solchen Augenblicken bemerkt man, wie hoch die Anforderungen sind, die das Kino tatsächlich an sein Publikum stellt: Vorne läuft ein Maschinenprogramm ab, aber es ist von so halluzinatorischer Intensität, dass die Zuschauer den abwesenden Schauspielern klatschen, als wären sie anwesend. Der Film übt eine physiologische Macht aus, und es kostet Kraft, seinen Bannkreis zu verlassen. Kino - das ist, wenn es gelingt, der perfekte Traum.

Berlinale: Der rote Teppich: Alleine mit sich selbst, beobachtet von allen: Schauspieler in dem kurzen Moment auf dem roten Teppich.

Alleine mit sich selbst, beobachtet von allen: Schauspieler in dem kurzen Moment auf dem roten Teppich.

(Foto: Foto: ddp)

Das Prekäre an dieser Situation, das Zwiespältige an dieser Aufhebung von Realität, wird auch bei einer anderen Gelegenheit sichtbar, und das vor aller Augen und für alle Augen: auf dem roten Teppich, wenn die Schauspieler bei einer Premiere oder einer anderen festlichen Aufführung ihren Limousinen entsteigen und auf dem Weg zur Vorführung ihres eigenen Werks der Öffentlichkeit begegnen. Auch in dieser Handlung steckt etwas hochgradig Absurdes. Denn sie kommen, um zu erleben, was sie schon erlebt haben, um sich selbst zu sehen, um zu erfahren, wie sie vor Monaten oder Jahren aussahen, wie sie sich bewegten, wie sie sprachen, schauten, atmeten.

Auf dem roten Teppich sind sie dann Wiedergänger ihrer selbst, und während ihre Vergangenheit im Film für lange Zeit gespeichert und beliebig oft wiederholbar sein wird, stehen die Schauspieler da, als habe ein böser Geist ihnen die Seele geraubt, indem er sie in Kopien eines Originals verwandelte, das nur auf der Leinwand zu sehen ist. "Jedes Fotografiertwerden, das ewige Posen auf dem roten Teppich", erzählt der Schriftsteller Rainald Goetz in seinem Buch "Klage" (Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2008) von einer früheren Berlinale, "war ein Sichdrehen im Griff des Todes, der späteren Körperabwesenheit, die hier schon bildlich vorbereitet wurde."

Dann brauchen sie allen Applaus, dann benötigen sie das heftigste Blitzlichtgewitter, weil nur diese Aufmerksamkeit der anderen sie wieder zu sich selbst zurückführen kann, und das auch nur für einen kurzen, höchstens halbglücklichen Moment, weil sie im nächsten ihre Körper gar nicht mehr besitzen werden.

Raus aus den umgebauten Schuppen und Buden

Gewiss, es gibt historische, soziale Gründe für diese Auftritte auf dem roten Teppich. Bis in die sechziger, siebziger Jahre hinein, vor der Videokassette und der DVD, waren Filmvorführungen ja seltene Veranstaltungen, festliche Abend- oder Wochenendereignisse, für die auch das Publikum sich herausputzte. Damals muss es als selbstverständlich erschienen sein, dass der Schauspieler dieser Feierlichkeit entgegenkommt. Wichtiger aber mochte es ursprünglich gewesen sein, den Film als Genre von seiner sozialen Herkunft aus der Schaustellerei, von den umgebauten Schuppen und Buden zu emanzipieren, wo er in seinen Anfängen zu Hause gewesen war.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Schauspieler unanatastbar bleiben müssen.

Selbstfindung auf 50 Metern

Der Filmwissenschaftler Neal Gabler erzählt in seinem Buch "An Empire of Their Own. How the Jews Invented Hollywood" (1988, deutsch Berlin Verlag 2004), welche Bedeutung es für die Impresarios, Produzenten, Manager und Stars der frühen amerikanischen Filmwirtschaft hatte, ihren gesellschaftlichen Aufstieg durch vermeintlich vornehme Verkehrsformen zu dokumentieren. Das neue Leben, in dem alles, alles möglich sein sollte, kopierte ein altes Muster: daher die großen Roben, die Smokings, die Lüster und die gepflegte Langeweile, daher auch die latente Peinlichkeit solcher Veranstaltungen, weil Vornehmheit, wenn sie denn allzu sehr gewollt wird, viel ordinärer wirkt, als es knallroter Lippenstift je sein könnte.

Der Augenblick der Verheißung

Tatsächlich aber ist der Einmarsch der leibhaftigen Stars bei der Premiere die Situation, an der für die Öffentlichkeit am deutlichsten erkennbar ist, dass es sich bei einem Film um etwas Gemachtes handelt. Der rote Teppich ist das Zeichen für den Ausnahmecharakter der Anwesenheit von Schauspieler. Der Augenblick, in dem er betreten wird, ist der Augenblick der Verheißung, der Moment, in dem zu sehen ist, dass dieser Schauspieler jene Figur gewesen sein wird, jene Schauspielerin diese Gestalt. Es ist der Augenblick vor der Verwandlung, in dem die Unterscheidungen zwischen Halluzination und Vorstellung noch möglich sind.

Deswegen sind diese Auftritte auf dem roten Teppich so wichtig, deswegen werden auf einem Festival nicht nur Filme gezeigt. Und deswegen sind diese kleinen Einmärsche so genau choreographiert: Denn der Schauspieler darf seiner Figur nicht zu nahe rücken, und er darf sich nicht zu weit von ihr entfernen. Er ist nicht nur er selbst, aber er ist auch nicht nur Bild. Er muss unantastbar bleiben, aber er kann seine Bestimmung durch den Tagtraum nicht preisgeben.

Wenn er läuft, ist er absolut

Und noch etwas dokumentiert der Einmarsch auf dem roten Teppich: die Erinnerung an einen Umgang mit Medien, in denen ihre Programme noch nicht pausenlos ineinander übergingen, sondern durch Zäsuren auseinandergehalten wurden, in denen man noch in einen Film hinein- und wieder herausging und in der zwischen den Filmen genug Zeit war, um über das Gesehene nachzudenken, es zu erzählen oder gar zu beurteilen.

Wenn der Saal schließlich im Dunklen liegt und der Film läuft, gibt es keine Schauspieler mehr. Was auf der Leinwand zu sehen ist, saugt alle Aufmerksamkeit auf. Was wird dann aus den Menschen, die waren, was sie sehen? Und das, was sie sehen und waren, ist unendlich viel größer als das, was sie sind.

"While the poor people sleepin' / All the stars come out at night", sangen Steely Dan in "Show Biz Kids" vor mehr als dreißig Jahren. Das Maschinenprogramm läuft, die Schauspieler versinken in ihren Sesseln, und es spielt keine Rolle, ob sie wachen oder schlafen. Denn der perfekte Traum kennt keinen Vorbehalt, keine Instanz außerhalb seiner selbst. Der Film mag ein flüchtiges Medium sein. Aber wenn er läuft, ist er absolut.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: