Berlin:Currywurstigkeit einer Hauptstadt

Staatsoper Unter den Linden

Hinter diesem Schild steckt ein Skandal - zumindest nach Auffassung des damit befassten Untersuchungsausschusses.

(Foto: dpa)

Bedrohte Wahl, Staatsopernskandal, endloser Flughafenbau: Ist Berlin ein gescheitertes Bundesland? Nicht ganz. Denn ein paar Dinge funktionieren inzwischen ganz gut.

Von Jens Bisky

Seit der Innensenator Berlins, Frank Henkel von der CDU, eine Garantie für die "ordnungsgemäße und rechtssichere Wahl" am 18. September abgegeben hat, rechnen redliche Berliner mit dem Schlimmsten. "Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass diese Wahl wie geplant stattfindet", so Henkels Worte.

Diese Versicherung war nötig geworden, weil die Landeswahlleiterin in einem Brief an die Verwaltung eben das bezweifelt hatte. Überforderte Ämter, veraltete Drucker, unzuverlässige Software - solche die Wahl gefährdenden Schwierigkeiten sollten sich beheben lassen.

Aber dass dieser Senat dazu in der Lage oder überhaupt nur willens ist, mögen viele in der Stadt nicht mehr glauben. Das böse Wort vom "failed state", vom gescheiterten Bundesland Berlin, macht wieder die Runde.

Anlässe dafür gibt es reichlich: Wann der neue Flughafen BER den Betrieb aufnehmen wird, bleibt ungewiss. Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses bescheinigt den zahlreichen Verantwortlichen "kollektiven Wirklichkeitsverlust".

Über grobe Fehler der Verwaltung informiert der Bericht des Untersuchungsausschusses zum Staatsopernskandal, einer anderen unvollendeten, immer teurer werdenden Baustelle. Auch Sanierung und Neubau von Schulen kommen viel zu langsam voran.

Wie in einer Satire aus der späten Breschnew-Zeit

Wer sich ummelden oder einen neuen Ausweis beantragen will, der fühlt sich in den Warteschlangen vor den Bürgerämtern, beim Betteln und Bangen um Selbstverständlichkeiten wie einen Termin, wider Willen in eine Satire aus der späten Breschnew-Zeit versetzt.

Die Erfahrung ist eine demütigende. Hier wird mehr Systemvertrauen zerstört, als sich, sollten die schwächlichen Hilfsmaßnahmen für die Ämter überraschenderweise irgendwann wirken, wiedergewinnen lässt.

Das ist der Hintergrund für Zweifel am ordnungsgemäßen Ablauf der Wahlen im September. Es werde, beschied Henkel, öffentlich ein "unangemessen hysterisches" Bild gezeichnet. Henkels Erklärung belegt, dass dieser Senat die Schwierigkeiten seiner Wähler nur ausschnittsweise zur Kenntnis zu nehmen geruht.

Der scharfe Ost-West-Konflikt ist heute Folklore

Grandios freilich können Landespolitiker erklären, warum Probleme auftauchen. Der Chefredakteur des Tagesspiegels, Lorenz Maroldt, hat das Erklärungsspiel in der Hauptstadt der "organisierten Verantwortungslosigkeit" auf den Punkt gebracht: "Die Senatskanzlei sagt, dafür ist der Innensenator zuständig. Der Innensenator sagt, dafür sind die Bezirke zuständig. Die Bezirke sagen, ihnen fehlen die Leute. Die SPD sagt, darum muss sich der CDU-Innensenator kümmern. Die CDU sagt, daran ist der SPD-Senat unter Wowereit und Sarrazin schuld."

Die Failed-state-Diagnose hilft da wenig, sie nimmt pauschal in Kauf, was zu ändern wäre. Manches funktioniert in Berlin gut, einiges ist sogar gelungen: Der vor 15 Jahren noch scharfe Ost-West-Gegensatz ist folkloristisch geworden; die Hauptstadtfunktion wird halbwegs ordentlich erfüllt; die Stadt lebt selbstverständlich mit etwa 5000 Demonstrationen im Jahr und Millionen Besuchern; jeder zweite Berliner ist nach dem Mauerfall hierhergezogen - eine große Integrationsleistung der Stadt.

Wirtschaftlich geht es bescheiden aufwärts. Immer mehr Berliner zeigen, was ihnen wichtig ist, wie es anzupacken wäre. Freiwillige Helfer haben seit dem Sommer 2015 vor dem Lageso das Senatsversagen bei der Aufnahme von Flüchtlingen kompensiert; gerade wurden mehr als 100 000 Unterschriften für ein Radgesetz gesammelt.

Es ist schon eine Leistung des jetzt regierenden Senats, diese Stadt, der viel gerechtfertigte und viel ungerechtfertigte Begeisterung entgegenschlägt, in der Tausende Ehrgeizige, Ideenreiche, Tatendurstige ihr Glück suchen, im Kleinkrieg mit einer schlecht arbeitenden Verwaltung zu zermürben.

Seit Berlin um die Mitte des 19. Jahrhunderts das preußisch Beschauliche abgestreift hat, waren Zuzug und Wachstum die Regel. Das erzeugte den Modernisierungsdruck, dem die Stadt das Beste verdankt, S-Bahn, kluger Wohnungs- und Siedlungsbau, das bis zur Gleichgültigkeit gelassene soziale Klima, die zwischen Borniertheit und Nachbarschaftshilfe schwankende Kiez-Seligkeit.

Ein Gemeinwesen ohne verlässliche Verwaltung zerfällt

Gewiss, das Nebeneinander zwischen den Bezirken, jeder eine Großstadt für sich, und der Landesregierung erleichtert eine Kultur der Verantwortungslosigkeit.

Selbstverständlich leidet Berlin bis heute unter Teilungsfolgen und der Misswirtschaft der Neunzigerjahre. Aber das erklärt nicht die Currywurstigkeit, mit der Probleme ständig hergeleitet und beschworen statt gelöst werden. Es erklärt nicht, warum die Opposition den Senat mit allen Skandalen - vom Milliardengrab BER bis zur demolierten Friedrichswerderschen Kirche - durchkommen lässt.

Jemand mag noch so arm sein, das Thema Verwaltung wird er dennoch kaum sexy finden. Aber es ist das entscheidende. Ein Gemeinwesen ohne verlässliche Verwaltung zerfällt. Wie es in Berlin dazu kam, wird in fünf Jahren gewiss ein Abschlussbericht erklären. Wenigstens das kann man garantieren.

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