Belletristik:Was sind eigentlich Leerverkäufe?

Bedrohlich schön und doch verschwommen: Ulrich Peltzers neuer Roman "Das bessere Leben" zeigt empfindsame Innenansichten der Globalisierung.

Von Gustav Seibt

Ein nicht mehr ganz junger Manager der mittleren Ebene, zuständig für "Sales", Verkäufe, wird nach vierzehnjähriger Betriebszugehörigkeit entlassen. Seine Leistung, die "Performance", hatte zuletzt nicht mehr überzeugt. Ein Großauftrag in Indonesien - es geht um Anlagen für Kunststoffbeschichtung - kam nicht zustande. Außerdem bedrängt die chinesische Konkurrenz mit billigen Preisen das traditionsreiche italienische Unternehmen, für das Jochen Brockmann, der entlassene Manager, arbeitete. Dieses gerät außerdem ins Visier von Finanzinvestoren, die mit Übernahme und brutalen Sanierungsmaßnahmen drohen. Brockmann muss eine neue "Herausforderung" finden - warum nicht gleich in China?

Ulrich Peltzer ist im arbeitsteiligen Betrieb der deutschen Gegenwartsliteratur der Fachmann für politisch informierte Zeitdiagnose. Sein neuer Roman "Das bessere Leben" nimmt sich nun das globalisierte Wirtschaftsleben aus westlicher Sicht vor. Die Geschichte des 51 Jahre alten, vom Niederrhein stammenden Jochen Brockmann spielt sich in Turin, dem Sitz des in Nöte geratenen Anlagenbauers, in São Paulo, Amsterdam, Wien ab, mit Blicken nach Fernost. Andere, durch Rückblenden erhellte Stationen sind Moskau, Berlin, Frankfurt, London, Ohio und Kalifornien.

Das vielköpfige Personal der Geschichte, Familienangehörige, Freunde, Kollegen, Konkurrenten der Hauptfigur, steht im zeitgemäß-ununterbrochenen Kontakt durch Mobiltelefon und Mailverkehr; die Handlung ist skandiert vom Aufploppen der Nachrichten im Dauerstrom. Das Chronotop, die Raumzeit der sich auf das Frühjahr 2006 konzentrierenden Kernhandlung ist planetarisch-allgegenwärtig, es bezeugt den elektronischen Sieg der Zeit über den Raum.

Rückblicke, oft nur indirekt vermittelt über die Erinnerungen von Freunden und Angehörigen, reichen aber auf der historischen Zeitachse zurück bis ins Moskau der Dreißigerjahre, vor allem aber in die letzte utopisch bewegte revolutionäre Phase des Westens, zu den Protestbewegungen der Siebziger: Hier hat der Roman eine zeitgeschichtliche Hintergrundzone, die sich zwischen den Kent-State-Protesten von 1970 über den westdeutschen Terrorismus bis zur Entführung Aldo Moros durch die italienischen Roten Brigaden im Jahr 1978 erstreckt. Nimmt man Hinweise auf Pier Paolo Pasolini, die Band Temptations, auf die in Retrospektiven schwelgende Installationskünstlerin Renée Green hinzu und vergisst nicht, dass der Sales-Manager Brockmann wertbeständige moderne Grafiken sammelt, kommt erstaunlich viel kulturelles Gepäck für einen Weltwirtschaftsroman zusammen - jüngere Leser dürften ohne heftigen Wikipedia-Einsatz die Lektüre schwerlich bewältigen.

Erst einmal nämlich geht es im "Besseren Leben" um die besseren Stände der auch kulturell globalisierten Welt. Wer nicht in der Wirtschaft arbeitet, ist kreativ tätig, wie Brockmanns Tochter, die in Mailand (ein weiterer Schauplatz) Kunst studiert, oder hat eine vorübergehende italienische Geliebte. Gemeinsam sind den Managern und den Künstlern die elegant unterkühlten Interieurs ihrer Wohnungen, die Peltzers Roman mit routinierter Entwerferkunst zeichnet. Nicht weniger suggestiv werden die Hotelwelten vergegenwärtigt, in denen solches Personal heute, nun ja, zu Hause ist.

Belletristik: Mit Weltkonzernen hat sich Ulrich Peltzer schon einmal beschäftigt: Beim Film "Unter dir die Stadt" aus dem Jahr 2010 schrieb er am Drehbuch mit.

Mit Weltkonzernen hat sich Ulrich Peltzer schon einmal beschäftigt: Beim Film "Unter dir die Stadt" aus dem Jahr 2010 schrieb er am Drehbuch mit.

(Foto: Piffl Medien)

Eine unbestimmte Drohung hängt von Anfang an über dem Roman, es ist die allgemeine Instabilität, mit der die fluide, nicht mehr überschaubare Weltwirtschaft ihre Akteure unter Druck hält. Dass Peltzer seine Geschichte unmittelbar vor der Krise von 2008 ansetzt, dürfte kein Zufall sein. Alkohol spielt eine enorme, möglicherweise klischeehafte Rolle. Brockmann hortet Schwarzgeld in Zürich, Zugangscode und Nummer des anonymisierten Kontos liegen in einem Umschlag für die Tochter bereit. Zusammen mit der Grafiksammlung, deren Wert die neuesten Auktionskataloge abschätzen lassen, verspricht es eine Sicherheit, an die kein Leser von Wirtschaftsseiten glauben wird.

Horizontlose Gegenwart mit einer von abgetanen Hoffnungen geprägten Vergangenheit, das ist der Grundriss. Das ungewisse bessere Leben, zu dem die Protagonisten in einem bisher erfolgreichen Berufsleben gefunden haben, sollte früher einmal durch utopisch inspirierte politische Aktion erreicht werden. Allerdings kann man die Rückblicke auf Terror und Protest kaum als Gegenwelt begreifen, zu grausig sind die Darstellungen aus dem stalinistischen Moskau oder vom Schlachtopfer Moro, dessen Schicksal im Spiegel des Films "Buongiorno, notte" (Guten Tag, Nacht) von 2003, also denkbar vermittelt, eingespielt wird.

Brockmann aber hat in Peltzers kompliziertem Konstrukt noch eine Gegenfigur in Gestalt eines angeblichen Risikoversicherers und Finanzinvestors namens Sylvester Lee Fleming. Er war Zeuge der brutalen Polizeimaßnahmen an der Kent-State-University am 4. Mai 1970 (auch dazu gibt es einen Wikipedia-Eintrag), bei dem vier Studenten von der Nationalgarde getötet und noch mehr verletzt wurden, als sie gegen den amerikanischen Kriegseinsatz in Kambodscha demonstrierten.

Fleming ist ergraut, fit und zynisch, und sein Geschäft dürfte, wenn man die Andeutungen des Romans richtig entschlüsselt, eigentlich Erpressung in großem Stil sein: Die Risiken, die er versichert, werden erst künstlich erzeugt. Der offenbar allwissende Fleming ist eine Gestalt, die über die Grenzen realistischer Darstellung hinausreicht und ein Element der Paranoia ins Handlungsgewebe bringt - für Brockmann wird er zum Rettungsanker und Vermittler dubioser Anschlussbeschäftigung.

Belletristik: Ulrich Peltzer: Das bessere Leben. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 448 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Ulrich Peltzer: Das bessere Leben. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 448 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Die absichtsvolle Dunkelheit der sich erst allmählich aus einem Mosaik von Anspielungen zusammenfügenden Handlung wird von Peltzer konstruktiv abgesichert durch das bei ihm gewohnte Genre des Bewusstseinsromans, in dem auch "Das bessere Leben" gehalten ist. Wir sehen die jeweiligen Ausschnitte fast ausschließlich durch erlebte Rede und gelegentlich durch Dialoge.

Angesichts der Figuren- und Stofffülle dürfte die Konzentrationskraft mancher Leser dabei zu sportlicher Höchstleistung herausgefordert werden - neben Wikipedia ist folglich ein Bleistift für Notizen vor allem zu den vielen Nebenfiguren ein wichtiges Lektürehilfsmittel. Doch kann man sich in der genrebedingten Verschwommenheit auch einfach treiben lassen, bis man halbwegs festen Grund findet und dabei die Stärken dieser Prosa genießen. Die wichtigste dieser Stärken ist die präzise Evokation von geschichtlicher Atmosphäre, für die Gegenwart wie für die Vergangenheit. Peltzers subjektivistische Schreibart rettet eine Errungenschaft der späten Siebzigerjahre in die glatten, drohenden Kulissen der Gegenwart. Die Unruhe der Geschichte kommt nicht nur aus der bedrückenden Übermacht von Weltprozessen, die keiner mehr steuern kann, sondern auch aus dem schmerzlichen Gefühl des Hoffnungsverlustes: die heutige Gestalt des Erhabenen.

Viel weiter ist die Darstellung der großen Wirtschaftwelt seit den "Buddenbrooks" nicht gelangt

Allerdings ist damit auch eine Grenze bezeichnet. Der Versuch von Analyse, von rationaler Durchdringung wird gar nicht erst unternommen. Die Unangemessenheit des Bewusstseinsromans für die Erfassung der globalisierten Welt kommt nur von innen, kein einziges Mal von außen zur Anschauung. Das ist ästhetisch konsequent, aber intellektuell unbefriedigend. Der Roman verbleibt auf der Ebene fein gezeichneter Seelenlagen, und wenn man das Problem in einer etwas brutalen Zuspitzung zusammenfassen wollte, müsste man über ihn sagen: ein traurig-schönes Stimmungsbild von der Globalisierung, nicht ohne Erbarmen für die Überforderungen ihrer empfindsamen, privilegierten Opfer. Die Ironie ist fast unfühlbar.

Am Ende wird Jochen Brockmann bei einer Familienfeier von einem Verwandten "als Fachmann" befragt, was "Leerverkäufe" seien. Es folgt ein Dialog, wie man ihn seit 2008 in den besseren Ständen oft gehört haben dürfte. Muss man da nicht seufzen? 1900 erklärte Thomas Mann den Bankrott der Firma Buddenbrook mit einem präzise geschilderten Termingeschäft. 2015 behandelt ein avancierter Roman mit staunenden Augen die Frage nach Leerverkäufen. Auch literaturgeschichtlich scheint der Fortschritt nur eine Schnecke zu sein.

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